Jorge Comensal: "Verwandlungen"
Romandebut aus Mexiko
über den Krebs und das gute Leben
Bei seinem Erscheinen 2016 wurde
der Romanerstling "Las mutaciones" des jungen Mexikaners Jorge Comensal ein
großer Erfolg und liegt nun unter leicht verändertem Titel auch auf Deutsch vor.
Im Zentrum des Romans, zwar nicht
unter ständiger Beleuchtung, doch Dreh- und Angelpunkt des Werks, ist der
Familienvater und renommierte Rechtsanwalt Ramón Martínez. Gewesener Anwalt,
denn der Roman setzt mit einem heftigen Schmerz in Ramóns Zunge, der sich
alsbald als Symptom eines gefährlichen Krebsgeschwürs herausstellen wird, ein.
Tatsächlich muss, um Schlimmeres zu verhindern, die ganze Zunge heraus -
Glossektomie lautet das Fachwort, und ohne das Organ, dem er seine Erfolge zu
verdanken hat, verwandelt sich Ramón sowohl schlagartig als auch schrittweise in
eine andere Person.
Erzählt wird in
der dritten Person und mit einem gewissen Abstand zu den Figuren, wobei in etwa
der Hälfte der 27 Romankapitel andere Personen im Vordergrund stehen. Es sind
dies die aus persönlicher Erfahrung heraus auf Krebsfälle spezialisierte
Psychotherapeutin Teresa, der
klassische Musik liebende, im übrigen recht
abgebrühte, in Zusammenhang mit dem Martínez-Fall auf neue wissenschaftliche
Entdeckungen hoffende Onkologe Aldama und Ramóns Tochter Paulina.
Außerdem unbedingt zu erwähnen:
Ramóns Frau Carmela, die mit der verwünschten Situation auf ihre Weise
zurechtzukommen versucht, die für einige komische Momente sorgende Haushälterin
Elodia, seit ihrer Kindheit bei den Martínez und der Familie eng verbunden, eine
gute Seele, abergläubisch und schwatzhaft, und schließlich, womit sich dem
Krankheitsverlauf ein weiteres Spannungselement hinzugesellt, Ramóns jüngerer
Bruder Ernesto, ein skrupelloser Styropor-Großhändler, von dem man sich, als die
Krebsbehandlung komplizierter zu werden und Ramóns finanzielle Mittel zu
übersteigen beginnt, eine Menge Geld ausborgt und dem Guten dafür das eigene, in
attraktiver Lage in Mexiko Stadt befindliche Haus verpfändet. Wie das wohl alles
ausgehn wird?
Der schweren Thematik zum Trotz
handelt es sich bei "Verwandlungen" um ein überwiegend positives, beinahe
heiteres Buch. Zunächst deshalb, weil heikle Bereiche (wie einsames nächtliches
Weinen) weitgehend ausgeklammert oder nur sehr nebenher erwähnt werden (oder
bezüglich des Innenlebens eines Krebskranken der lapidare Verweis auf ein Bild
ausreichen muss); weil Ramón bald von Elodia einen heruntergekommenen Papagei
geschenkt bekommt, "Benito" genannt nach dem zapotekischen Ex-Präsidenten, der
mit seiner Zuneigung und seinem Schimpfwörter-Arsenal bald zum steten Quell der
Freude für ihn wird; und schließlich weil das eigentlich Tragischeste, das in
dem Roman zur Sprache kommt, etliche gut beobachtete Fehler im Umgang mit
Kranken (neben allgemeineren Untugenden innerhalb der "gesunden" Gesellschaft
der gehobenen mexikanischen Mittelschicht), Unaufmerksamkeit, unbewusste
Bevormundung, hintergründiger Egoismus, roboterhafte Zuneigung etc., auf den
Handlungsverlauf keinen allzu großen Einfluss hat. Im übrigen erzählt Jorge
Comensal in einer unterhaltsamen Sprache, die sich hin und wieder zu besonders
originellen treffenden oder zumindest schmissigen, Missstände und Widersprüche
der Gesellschaft, nicht zuletzt das Pendeln zwischen
Glaube und Rationalismus,
zum Ausdruck bringenden Formulierungen verknappt.
"Nie hatte sie Zeichen von
Religiosität oder Optimismus gezeigt, dieser laizistischen Form des
Aberglaubens." (S. 169)
"Sie waren so apathisch wie
nihilistische Philosophen oder wie Wächter im städtischen Museum." (S. 183;
über die Martínez-Kinderchen)
"Er schämte sich vor sich
selbst, dass er diese Dinge tat, die seiner Meinung nach typisch für Alte oder
für Sodomiten waren." (S. 78
Dem Kampf gegen den
Krebs begegnet man
in dem Buch eher pervertiert als Mittel zu fremden Zwecken oder sublimiert und
als Teil von etwas anderem, Umfassenderem - gar nicht wenige Seiten nämlich
handeln von Teresas Lieblingspatienten, dem Studenten Eduardo, der, von Leukämie
geheilt, große Angst vor einem Rückfall hat und sich auch sonst mit ein paar
prächtigen Übertragungen (Projektionen) im Schlepptau durchs Leben müht. Was
Teresa bei einer Eigentherapie ihrer supervisierenden Kollegin gegenüber zu dem
Fall äußert, macht die sprödesten Passagen dieses an sich zügig erzählten Romans
aus, vermittelt in seiner Theorielastigkeit immerhin einen Eindruck der Methoden
und Denkweisen der Lacan-Schule und der Ansprüche an die Professionalität von
Psychotherapeuten. Eine kleine Schwäche des Romans ist indes, es mit der
Feinabstimmung der unterschiedlichen Elemente nicht immer so genau zu nehmen
(und die jugendliche Kühnheit zu besitzen, ziemlich naheliegende Motive wie die
Kommunikationstechnik "Gebärdensprache" einfach möglichst unauffällig zu
ignorieren): Handlung und Figuren können oft nicht aus sich selbst heraus
bestehen, sondern dienen primär und manchmal recht spürbar dem Propagieren der
verschiedenen ehrenhaften Anliegen des Autors, deren wichtigste sind: die
Psychoanalyse Jacques Lacans, die Freigabe von
Cannabis-Konsum (vor allem, aber
nicht nur wegen der schmerzstillenden Wirkung), die Musik
J. S. Bachs (konkret seine Kantate "Ich habe
genug") und ein freundlicherer, achtsamerer Umgang der Menschen miteinander.
(fritz; 08/2019)
Jorge Comensal: "Verwandlungen"
(Originaltitel "Las mutaciones")
Übersetzt von Friederike von Criegern.
Rowohlt, 2019. 192 Seiten.
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Jorge Comensal wurde 1987 in Mexiko Stadt geboren, wo er auch lebt. Er ist Doktorand an der philosophischen Fakultät der UNAM in Mexiko Stadt, veröffentlichte bislang Essays und Beiträge in verschiedenen Zeitschriften. "Verwandlungen" ist sein erster Roman.