Drago Jančar: "Luzias Augen"
Erzählungen
Anschauungen und Sichtweisen:
Entscheidende Augenblicke und deren Folgen
Zehn gediegene Erzählungen beinhaltet der auf Slowenisch im
Jahr 2004 und in deutscher Übersetzung 2005 erschienene, 160 Seiten umfassende
Band: "Luzias Augen", "Unsichtbarer Staub", "Die Prophezeiung", "Zwei Träumer",
"Maßnahmen zur Förderung männlicher Schaffenskraft", "Premiere auf kleiner
Bühne", "Der Mann, der in den Malstrom sah", "Ein Decamerone aus Zidani most",
"Der Verführer" und "Der erste Satz".
Der Originaltitel lautet
"Človek, ki je
pogledal v tolmun", somit ist die in der Übersetzung "Der Mann, der in den Malstrom sah"
genannte Erzählung titelgebend, nicht die erste des Bandes.
In "Luzias Augen"
(S. 7-43) verändert die blinde Liebe der von ihrem rücksichtslosen Freund, dem
egozentrischen Kunstmaler Milan Rak, "Luzia" genannten Studentin deren Leben
auf fatale Weise, sodass sie sich selbst völlig abhanden kommt und auf
Abwege gerät, und es ist für das "istrische Rind" kein
farbenfrohes Licht am Ende des Tunnels sichtbar. Die nur scheinbar
sommerschläfrige Rahmenhandlung, ein erzwungener Seitensprung, Diebstahl
geistigen Eigentums und die Antriebslosigkeit der Figuren verleihen der Erzählung raffinierte Würze und Tragik.
"Unsichtbarer Staub" (S. 44-63) präsentiert
die Malerin Monika, die
schlichtgeistige Gastgeberin Frau Zdenka, zwei vielbeschäftigte Ehemänner,
Miroslav und Alexander, und einen auf
Stichwort rülpsenden Sohn namens Don, der kein Musterknabe zu sein
scheint, bei einem witzig-peinlichen Abendessen in verkrampfter
Gesellschaft. Es ergeben sich entlarvende Gespräche über Kunst und Kapital,
nachdem endlich auch Herr Pšeničnik, ein Welterklärer, auf den die Welt
nicht gewartet hat, aufgetaucht ist. Eine Erzählung voller theatralischer
Situationskomik.
Eines Tages, in der Tito-Zeit,
entdeckt der "Altgediente" Anton Kovač zu seinem Entsetzen in der
stets auffallend sauberen, weil wenig frequentierten Kabine Nummer 17 unter
zahllosen anderen Schmierereien die provokante Toilettentüraufschrift "Gras
wirst du essen, König von Jugoslawien, Esel werden dich ficken in den dicken
Arsch", die ihm Alpträume beschert, erst nach
erstaunlich langer Zeit für gehöriges Aufsehen sowie interne Maßnahmen sorgt und
den Kasernenalltag vorübergehend verändert. Nach vielen Jahren gelingt es ihm,
endlich doch den Urheber der Inschrift zu
erkennen, was für eine Überraschung sorgt ("Die Prophezeiung", S. 64-84).
"Zwei Träumer" (S. 85-91) ist eine kurze Fantasie über eine Nacht des
jungen Josip Broz in Gesellschaft eines Freundes.
In seinem anno 2019 in
deutscher Übersetzung erschienenen Roman "Wenn die Liebe
ruht" findet sich eine leicht abgewandelte Version der im gegenständlich
besprochenen Band enthaltenen Erzählung "Maßnahmen zur Förderung der männlichen
Schaffenskraft" (S. 92-98), worin eine verschleppte Slowenin, die in einem
SS-Lager als Zwangsprostituierte ihr Dasein fristet, auf einen jungen Landsmann
trifft. Drago Jančar sorgt nicht selten für derartige
inhaltliche Verschränkungen seiner Werke untereinander.
Die abgehalfterte Schauspielerin Mascha muss in "Premiere auf
kleiner Bühne" eines Abends die Annäherungsversuche des aufdringlichen Invaliden
Florjan parieren, hinter dessen schleimigem Begehren der blanke Hass lauert.
Vom kurze
Zeit medial umschwärmten und aufdringlichen Zufallskommentator über Menschenrechte in allen, aber
auch wirklich allen Lagen
bis zum bösen Ende begleitet man in "Der Mann, der in den Malstrom sah" (S.
112-137) den ab einem gewissen Abend nach den Augen der Fernsehkameras süchtigen
Angestellten Jože Mlakar, was bizarre Blüten treibt, bis
es dem Präsidenten (und dem Fernsehpublikum sowieso längst) zu bunt wird ...
Übrigens gab es einst einen slowenischen Schauspieler dieses Namens (1910-1961).
Dem Sirenengesang der im Nachbarabteil pikante Erlebnisse zum Besten gebenden
Frauenstimme erliegt ein zunächst lesender, dann allerdings neugierig-erregter
Zugreisender in "Ein Decamerone aus Zidani most" (S. 138-143), und in "Der
Verführer" (S. 144-154) muss ein bedauernswerter Assistent während einer
Zugfahrt großmäulige, nichtsdestoweniger humorvolle Abschleppgeschichten seines
an sich nicht uncharmanten Institutsvorstands über sich ergehen lassen, später
auch noch entsprechende Szenen mitansehen, was einen absolut nachvollziehbaren
wunscherfüllenden Traum bewirkt.
In "Der erste Satz" (S. 155-160) erregt der
Stipendiat Dragomir Jančar aufgrund seines Aussehens
und seiner Aktivitäten im November 1995 das Misstrauen der biederen Bewohner des
Ortes Tutzing am Starnberger See, sodass schließlich der Wachtmeister ausrücken und seines
Amtes walten muss, was wiederum in den Beginn einer Geschichte mündet ...
Drago Jančars Erzählungen nehmen gekonnt die Ambivalenzen menschlicher Verhaltensweisen unter die Lupe und
beleuchten Extremsituationen ebenso wie ganz Alltägliches zu verschiedenen
Zeiten. Der Band "Luzias
Augen" regt auf schwungvolle Weise dazu an, konzentrierte Blicke auf und
vor allem hinter jegliche Kulissen zu werfen.
(kre; 08/2019)
Drago Jančar: "Luzias
Augen. Erzählungen"
(Originaltitel "Človek, ki je pogledal v tolmun")
Aus dem Slowenischen von Daniela Kocmut und Klaus Detlef Olof.
Folio, 2005. 160 Seiten.
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