Deniz Utlu: "Gegen Morgen"
Was das Leben kostet oder Die
Suche nach der verlorenen Zeit
Kara, der Protagonist des zweiten
Romans von Deniz Utlu, fliegt von Berlin nach Frankfurt. Es ist ein Flug, den er
nicht antreten will. Er soll in Frankfurt seine Freundin treffen, von der er
sich trennen möchte. Sie wartet und freut sich auf ihn. Unterwegs nach Frankfurt
gerät der Flieger in Turbulenzen, und kurz vor der Landung entscheidet sich der
Pilot, das Flugzeug aus wettertechnischen Gründen in Hannover zu landen.
Warum es (realistisch betrachtet) Hannover sein sollte, ist nicht klar, wo doch
Leipzig, Köln/Bonn und Nürnberg viel näher liegen. Hannover ist allerdings jene
Stadt, in der Kara aufgewachsen ist und in der seine Mutter noch lebt. So weit,
so gut.
Obschon die Passagiere im Flugzeug auf den Weiterflug warten müssen, was
so natürlich passieren kann, wenn davon ausgegangen wird, dass sich die
Wetterverhältnisse am Ankunftsort in absehbarer Zeit soweit verbessern, dass der
Flug weitergehen kann, darf Kara nach einer Szene, die ihn heutzutage eher in
Untersuchungshaft bringen würde, das auf dem Vorfeld geparkte Flugzeug verlassen.
Ein Beginn, der also sehr frei mit realistischen Abläufen, (die auch leicht
nachprüfbar sind), umgeht, der aber dennoch so interessiert, dass man zunächst
dranbleiben will und allfällige Ungereimtheiten beiseite schiebt.
Im
Flugzeug hatte Kara gemeint, Ramón zu sehen, einen ehemaligen Freund, der vor
einigen Jahren plötzlich aus seinem Leben verschwunden ist. So passiert es, dass
in einem Moment, an dem Karas Leben irgendwie ins Stocken gerät, mit der
bevorstehenden Trennung von der Freundin und der vermeintlichen Sichtung des
verlorenen Freundes, er wieder in sein Elternhaus gelangt. Zumindest in jenes
Haus, in dem er mit der Mutter aufgewachsen ist. Und so kommt, was kommen muss,
die Erinnerungen an seine Kindheit, Jugend, den nicht existenten Vater, die
Studienzeit in Berlin. Ein wenig schematisch angerichtet vielleicht, aber dank
Utlus Prosa fraglos interessant.
"Ramón, in diesem Flugzeug erscheint er mir,
sitzt in einer der vorderen Reihen, mit seiner Daunenjacke, die er immer noch
trägt. Auch er ganz ruhig. Im Fallen existiert alles gleichzeitig, was gewesen
und was nicht gewesen und was nur in mir gewesen ist. Eine Multiplikation aller
Erfahrungen. Lange habe ich nicht mehr an Ramón gedacht. Ausgerechnet jetzt, in
den Minuten, die die letzten sein könnten, taucht er auf. Er, für den nie Raum
blieb, der immer zu viel war, immer überflüssig, nie willkommen, nur da. Ich
merke, wie ich grinse. Ein Grinsen, das Gesichtsmuskeln anspannt, die ich nicht
kannte, und das ich auf meinen Knochen spüre wie steifes Leder." (Seite 14)
Utlus Prosa ist auch der Faktor, der diesen Roman sehr lange spannend hält.
Immer wieder findet Deniz Utlu Sätze, Beobachtungen, Beschreibungen, die man
einfach gern unterstreichen und sich merken möchte.
Kara, der auch
zwischen den Zeiten wandelnder Ich-Erzähler des Romans ist, erinnert sich an die
Studienzeit in Berlin. Die Wohngemeinschaft in Schöneberg und die Freundschaft
mit Vince, beide studieren Volkswirtschaft und leben ein typisches
Studentenleben. Nudeln mit Sauce sind mehr oder weniger ein kulinarischer
Höhepunkt, Sauberkeit wird überbewertet, und übernachten kann bei ihnen auch
sonstwer. So kommt es, dass plötzlich Ramón da ist, den beiden fast sklavisch
ergeben. Er folgt den beiden auf Schritt und Tritt, ist einfach da und dann
nicht, er bekommt für manche Aushilfstätigkeiten (wie Zigarettenbesorgen) Geld
von den beiden, ist aber sonst kein Teil ihres Lebens. Er wechselt irgendwann
das Fach, hört dann ganz mit dem Studium auf, was genau er aber macht, fällt
weder Vince noch Kara in Wirklichkeit auf. Er wird einfach geduldet. So ist es
nicht verwunderlich, dass sein plötzliches Ausbleiben lange weder Vince noch
Kara auffällt.
"Er hat sich nie gekümmert, ist immer nur gekommen, um zu
essen, um zu schlafen, um an seinem Laptop in der Küche zu sitzen, sich Geld zu
leihen. Und Vince hat ihm Geld gegeben und ihn in die Hasenheide geschickt,
damit er Gras kauft. Während ich in meinem Zimmer war mit Nadia oder allein oder
mit jemand anderem. Und trotzdem war er manchmal da, Ramón war da, wenn ich an
allem zweifelte. An meiner Wahl des Studiums, an Vince, an meinem Leben. Er war
nicht für mich da, nicht wie ein Freund, der einen in den Arm nimmt, der sagt,
wie schaffen das, aber er war da, im Zimmer, neben mir, jemand, der atmet und
dessen Körperwärme sich, wenn auch marginal, auf die Raumtemperatur auswirkt."
(Seite 120)
Genau diese Erinnerungen sind plötzlich vorhanden, als Kara
in Hannover aus dem Flugzeug steigt. So macht sich Kara auf die Suche nach
Ramón. Es ist eine Mischung aus Schuldgefühl und dem Wunsch danach, eine
verlorene Seele zu retten, die vielleicht dadurch bestärkt wird, dass Kara
relativ mühelos auf seine Freundin verzichten kann. Ist es Verantwortung? So
zieht Ramón wieder bei Kara ein, nun in jenes Zimmer, das nach Vinces Heirat frei
geworden ist. Nur ist Ramón längst ein anderer Mensch geworden. Er hat sich von
der Welt, die ihn ignoriert und nicht gewollt hat, abgewandt, ist irgendwie
näher bei Gott und vermeintlichen Gottesprüfungen. Als Ramón wieder
verschwindet, folgt ihm Kara
nach Paris und gerät in die Wirren eines
Terroranschlags. Inwieweit Ramón darin verwickelt ist oder auch nicht, möchte
der Rezensent hier nicht verraten.
Es gibt zahlreiche wundervoll
geschriebene Szenen, wie zum Beispiel die, in der Kara im Flur seiner Wohnung
die Gegenwart verlässt und im Schlafzimmer der Vergangenheit ankommt. Auch die
Rückkehr in die Wohnung seiner Mutter und die Begegnung mit ihr, der dezente
Hinweis auf Vorfahren aus dem Mittelmeerraum, der nur wie die Inklusion von
Granatapfelkernen im Salat wie nebenbei passiert. Es ist fast immer der Wechsel
zwischen Vergangenheit und Gegenwart, der Deniz Utlu wirklich ausgezeichnet
gelingt.
Den Lesefluss strapazieren dann auch eher die immer gehäufter in
Erscheinung tretenden Formeln und Metaphern aus der Volkswirtschaftslehre,
welche die Formel für falsche getroffene Entscheidungen oder gegen die
Sinnlosigkeit teilweise fast als Hauptbeweggründe erscheinen lassen. Die Summe
von Kosten und Nutzen ist die über andere Themen wie
Freundschaft,
Verantwortung, Ethik und Moral gelegte Schablone, die immer wieder variiert
Schlüsse und Behauptungen zulässt, welche die Lesefreude teilweise ebenso ins
Stocken geraten lassen, wie die Zwischenlandung in Hannover.
Karas Suche nach
dem Sinn des Lebens zwischen den verpassten Möglichkeiten ist zu einem Roman
geworden, der sehr anspruchsvoll und stilistisch ausgezeichnet geschrieben ist,
dem es jedoch oft am Zwingenden fehlt, am Fleisch sozusagen, das den Unterschied
zwischen Betrachtung und Durchleben ausmacht.
(Roland Freisitzer; 10/2019)
Deniz Utlu: "Gegen Morgen"
Suhrkamp, 2019. 267 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen
Deniz Utlu, geboren 1983 in Hannover, studierte Volkswirtschaftslehre in Berlin und Paris.