Ingo Schulze: "Die rechtschaffenen Mörder"
"Gehören Sie mittlerweilen auch zu denen, die 'lecker' sagen, wenn ihnen was schmeckt?" (S. 266)
Antiquar als große Projektionsfläche, Sachsen und die Buchkultur im Zeitenwandel
"Die Kommunistin hatte ihn verraten. Und der Westen hatte ihn seiner Bleibe für die Bücher und die Familie beraubt, im Glauben, damit das Unrecht der Kommunisten zu sühnen. Aber waren nicht letztlich dieselben oben geblieben, die schon früher oben gewesen waren? Gebärdeten sich die Künstler nicht schlimmer denn je als Linke, die Westler noch mehr als die Ostler? Hatten sie immer noch nichts gelernt?" (S. 168)
Der da mit dem eigenen Schicksal und der Rolle ihm
nahestehender Schriftsteller zwischen DDR und BRD hadert, ist der Protagonist
von Ingo Schulzes heuer erschienenem Roman "Die rechtschaffenen Mörder", der Antiquar Norbert Paulini,
stadtbekannt, vielbelesen, verschroben und, wie es gleich im
ersten Romansatz heißt, mit einer "geringen Neigung, sich von den
Erwartungen seiner Zeit beeindrucken zu lassen". Das dazugehörige
Antiquariat wird von seiner Eröffnung 1977 an bis zu seinem vorläufigen Ende in
den Neunzigerjahren - später läuft es allerdings nur mehr als Versandantiquariat
- als eine
Pilgerstätte für bibliofile Menschen aus dem ganzen Land beschrieben, wo man
manch wertvollen Fund, von dem Staat Missachtenswertem bis hin zu kostbaren Erstausgaben,
und nichts davon unter einem guten
literarischen Niveau, machen konnte.
Der Roman erzählt die Geschichte dieses
mehr oder weniger erfundenen Dresdner Originals und seines Geschäfts mit den
Büchern und übt dazu subtil Kritik an den politischen Systemen und
Kulturen im Hintergrund, nicht zuletzt der ihren einstigen Stellenwert mehr und mehr verlierenden
Buchkultur, sowie an diversen menschlichen Charakterschwächen, seien es solche
wie Gier, Heuchelei und Selbstverleugnung, wie sie in Wendezeiten Konjunktur
haben, seien es noch allgemeinere wie des Menschen selektive, unangenehme Wahrheiten
gekonnt ausblendende Wahrnehmung.
Das Buch besteht aus drei sehr
unterschiedlichen Teilen.
Beinah im Stil alter Mythen und Heldensagen, mit hohem
symbolischen Anteil hebt es an, schildert den Werdegang Paulinis, der als
Kleinkind buchstäblich auf Büchern gebettet war, früh zum leidenschaftlichen Leser (und Wanderer, gesunder Geist in gesundem Körper)
wurde und eigentlich
zeitlebens nichts anderes wollte, als ungestört zu lesen. 38 Kurzkapitel widmen
sich unter anderem der frühen Öffnung eines eigenen
Antiquariats (eigentlich Wiedereröffnung jenes der frühverstorbenen Mutter), dem
Namen, den er sich bald in Dresden und Umgebung macht, dem von Nietzsche
übernommenen Künstlernamen "Prinz Vogelfrei",
unter welchem der Filosof einst
einige Gedichte verfasst hat, dem
für Lesungen und Diskussionen seiner engeren Stammkundschaft bald regelmäßig
öffnenden Salon selbigen Namens, seiner
Heirat mit einer die Parteizeitung bevorzugenden attraktiven Friseuse, seinen sonstigen
Beziehungen zu Frauen, diskret, wie man es von Künstlerbiografien,
in denen selbstverständlich das Werk im Vordergrund stehen soll, kennt,
eingestreut und ebenfalls gut dazu passend viel
anekdotisches Material wie etwa das Misstrauen, das Paulini sich freiwillig von
ihren Büchern trennenden Menschen entgegenbringt.
Mit dem Untergang der DDR ändert sich der Ton, es
mehren sich
die Unannehmlichkeiten und Hindernisse. Spitzeltätigkeit in seinem Salon fliegt
auf (wie konnte man das auch ahnen!), bei der westlichen Konkurrenz gibt es alles, was man kaufen
kann, dazu all die kürzlich noch verbotenen Bücher, das Geschäft gehört eigentlich,
stellt sich nun heraus, nach dem
Krieg in den Westen Geflohenen, mit dem Aufgehen in der Bundesrepublik gelangt die Dominanz der
englischen Sprache nun auch nach Sachsen (worauf Paulini durch Verzicht auf
Übersetzungen reagiert), und viel größeren Druck empfängt er auf einmal von seiner Hausbank, auf welche die Versicherung,
er verdiene mit seinem Geschäft ohnehin praktisch nichts, nun eine ganz
andere Wirkung zeitigt.
Auch hier hat Ingo Schulze manch Anekdotisches und für
die Wendezeit Symptomatisches einfließen lassen. Wie viele die Übergangszeit
behandelnde, von Ostdeutschen geschriebene Bücher gibt auch dieses Kunde von
der damaligen großen westdeutschen Arroganz - die Fassungslosigkeit darüber und Schwerverdaulichkeit
dessen wird wohl ein Grund gewesen sein, dass solche Bücher, ob von Schulze,
Tellkamp,
Seiler etc., erst geraume Zeit nach den beschriebenen Ereignissen
erschienen sind.
Gierige westdeutsche Buchhändler auf der Jagd nach Profit
kann Paulini mit dem Beharren auf Bezahlung in ostdeutscher Währung noch in die
Flucht schlagen, was ihn freilich nicht davor bewahrt, sein Geschäft zusperren
und eine Zeitlang als Nachtportier arbeiten zu müssen (nicht so schlimm, da man
während der Arbeit viel zum Lesen kommt). Paulini rezitiert
Gottfried Benn,
streckt den Rücken durch und macht etwas verhärtet weiter. Die steigenden Wohnpreise und das
große Hochwasser der Elbe, welches ihm einen erheblichen Teil seines
Bücherbestands raubt, vertreiben ihn schließlich jedoch aus
Dresden
in die Sächsische Schweiz, der nach der Scheidung bei ihm verbliebene Sohn
erweist sich als problematisch, und wenige Zeilen, nachdem Paulini bei einem
Polizeiverhör die Worte
"Kümmert Sie das nicht, dass
ich hier oben hausen muss, während sich Tausende, Zehntausende frisch
zugereister junger Männer aussuchen dürfen, in welcher Stadt sie sich auf unser
aller Sozialhilfepolster niederzulassen die Güte haben, um fleißig Kinder zu
zeugen und zwischendurch ihre Stirn auf dem Moscheeteppich zu wetzen? Finden Sie
das denn gerecht?" (S. 195)
spricht, bricht der zwei Drittel des Ganzen
ausmachende erste Teil jäh ab. Paulini scheint nun wirklich vogelfrei zu sein und
seinerseits andere dafür anzusehen, zur einer Art Heldenbiografie taugt das
jedenfalls nicht mehr .
Hat im ersten Teil zwei- oder
dreimal der Biograf den Genreton kurz
unterbrechend in der ersten Person etwas aus seiner persönlichen Bekanntschaft mit Paulini
angemerkt,
meldet sich nun sehr deutlich ein Ich zu Wort, welches möglicherweise erwähntem Verfasser
des ersten Teils, jedenfalls dem Schriftsteller Schultze (mit "tz") gehört. In
diesem zweiten Teil
geht es primär um Schultzes eigene Nöte, Wünsche und Reflexionen, vorzugsweise
über ostdeutsche Schriftstellerkollegen, die sich aus seiner Sicht einer
Ostentleibung, eines Verrats an den eigenen Ursprüngen, schuldig, mit solcher
Verleugnung aber nationale und internationale
Karrieren gemacht haben, während Paulini dem Schriftsteller in diesem Abschnitt als
Inbegriff des alten Bewahrenswerten erscheint.
Ist es in
dieser Konstellation er selbst, der zwischen beiden extremeren Haltungen vermittlen zu
können und sollen glaubt, befindet er sich alsbald in der Rolle des vermeintlich
Ostentleibten, während die Position der Mitte nun eine gemeinsame Freundin von
Paulini und ihm aus
frühen Dresdner Tagen einzunehmen sucht und bald auch als Frau zwischen die
beiden Männer gerät: Eifersucht und Begehren quellen, Privates mischt
sich mit Politischem, persönliche Ressentiments gelangen wieder an die
Oberfläche.
Besonders gelungen ist hier die feine psychologische Zeichnung des
Schriftstellers,
die trotz des eigenen Erzählens geschickt angedeutete unbewusste Inhalte verrät
und einen interessanten Interpretationsspielraum (z.B. in Bezug auf
Zerknirschungsanteile) bietet, besonders deutlich ist der
Hinweis, dass der Wind der Verachtung mit ähnlicher Stärke auch von Ost nach
Westen weht.
Schließlich, wir sind auf den
letzten 35 Seiten des dritten Teils, ergreift die Lektorin des Schriftstellers
Schultze, der mit seinem Buch über den Antiquar ins Stocken geraten ist, das
Wort. Die Gute fühlt sich bemüßigt, Schultze zur Vollendung seiner Arbeit
anzuregen, wofür sie auf eigene Faust einen Recherche-Ausflug in die Sächsische
Schweiz unternimmt, um dort mit dem Bosnier Livnjak, dem Nachfolger von Paulini
in dem Antiquariat, ein ausführliches Gespräch zu führen, nicht unähnlich jenem
zwischen Schultze und Paulini gegen Ende des zweiten Teils, wenn auch, was nicht an dem Spezialisten für Alhamiado, in arabischer
Schrift geschriebenes altes Bosnisch, liegt, auf bescheidenerem Niveau.
Stärker noch als bei Schultze
arbeitet Schulze hier mit dem Unbewussten, den Wahrnehmungsbrillen, Reizwörtern,
Vorurteilen der
Frau Lektorin. Dadurch, dass über Paulinis angebliches rechtsradikales Treiben
nichts Konkretes vorliegt, verraten die Einschätzungen der
Lektorin mehr über die Welt, in der sie lebt, verweisen auf die von ihr konsumierten Medien,
auf die herrschende, kaum in Frage gestellte öffentliche Meinung. Ihr
triumphierendes "Da bekommen Sie es doch schwarz auf weiß." (S. 309), als wäre Gedrucktes der
ultimative Wahrheitsbeweis, wirkte lächerlicher, wären solche Einstellungen
nicht so weitverbreitet und wirkmächtig.
Für kritische Lesarten von Norbert Paulinis Charakter werden vom Autor ebenfalls etliche Anhaltspunkte geliefert. Nicht nur Herrschaftswahn, Überhebung und der Blick von oben herab, wie Schultze es ihm vorwirft, sind zumindest ansatzweise vorhanden, auch auf den Fluchtcharakter des Lesens, das künstliche Leben zwischen Buchdeckeln und als wandelnde Enzyklopädie für Zitate und Querverweise wird verwiesen, auf Paulinis Abneigung, den Geistesmenschen etwas aktiver, etwa durch das Halten von Vorträgen zu irgendeinem seiner Fachgebiete, anzulegen, auf seine geringe Begabung für Erziehungsfragen, seine Lust am Schockieren, seine Eitelkeit und manches mehr. Es liegt somit häufig am Leser, die unbeschriebenen Räume, wenn er möchte (und wenn sie ihm denn auffallen) nach eigenen Erfahrungen und Einschätzungen zu beleben. Außerdem könnte die Aufmerksamkeit, dass bei jeder Wahrnehmung die eigene oder übernommene Interpretation keine kleine Rolle spielt, die große Geschichte von den Siegern geschrieben wird, und auch die kleineren Geschichten bisweilen eine dahinterliegende Absicht und zumeist ein konkretes menschliches Wesen verbergen, gesteigert werden.
Hauptzielgruppe der subtilen,
unter Umständen verstörenden Kritik Ingo Schulzes bildet in "Die rechtschaffenen
Mörder" indes klar jene der selbstkritikarmen Herolde fremder "Wahrheiten",
der ewigen Besserwisser, der sich selbst ungemein progressiv Dünkenden, obwohl
die dunkle Seite des Menschen einfach ausblendend, "die Klugen, die
Aufgeklärten und Selbstgerechten" nennt sie der Paulini des zweiten
Teils auf S. 275 und hat mit deren frecher und bzw. oder dummer Anmaßung so
seine liebe Not.
Nicht er allein, oh nein.
Übrigens endet selbst der
originale Prinz Vogelfrei, der dem des Romans unter anderem die Heiterkeit
der großen Distanz voraushat, sein Gedicht "Narr in Verzweiflung" ungewöhnlich
deftig:
"...
Doch wenn die Arbeit
abgetan,
Säh gern ich euch, ihr Überweisen,
Mit Weisheit Tisch und Wand
besch ..."
(aus "Die fröhliche Wissenschaft" von Friedrich Nietzsche)
(fritz; 07/2020)
Ingo Schulze: "Die rechtschaffenen Mörder"
S. Fischer, 2020. 320 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen
Hörbuch bei amazon.de bestellen