Stefan Slupetzky: "Atemlos"
Kurzgeschichten
Hyperventilierender Zeitgeist mit erhobenem Zeigefinger
Unseligerweise und fernab jeglicher literarischer Realität werden die Texte auf
dem Umschlag des "mit freundlicher Unterstützung der Kulturabteilung der Stadt
Wien" im Wiener "Picus Verlag" erschienenen Buchs als "Short Stories"
bezeichnet, sind diese doch, stellt man zunächst noch erleichtert fest, allesamt auf Deutsch
verfasst. Alles Andere wäre naturgemäß auch völlig absurd, wenngleich leider
durchaus zur Wiener Kulturpolitik, die den Menschen ja seit Jahrzehnten
ungeniert derartige
Verirrungen
an die Köpfe wirft, passend. Man hilft den selbstverschuldet Wortverarmten der
nach eigener Anmaßung bildungsnahen Schicht dennoch stets gern mit
entsprechenden deutschsprachigen Begriffen aus: Erzählungen, Kurzgeschichten.
Stefan Slupetzky beleuchtet in seinen Kurzgeschichten
und Erzählungen diverse Alltagsprobleme und Lebenswirklichkeiten, und er tut
dies mitunter auf geradezu kabarettreife Weise, die einmal zum Schmunzeln, dann
wieder zum Nachdenken anregt, nicht selten jedoch auch Befremden hervorruft. Kurz und
bündig umkreist jeder Text ein spezielles Thema mit einer gewissen, schnell
durchschaubaren Absicht und mit eindeutiger Stoßrichtung.
Und dann gibt es
noch die wenigen anderen, wohl gelungeneren Geschichten, die nicht vorrangig
gesellschaftspolitisch motiviert sind.
Die erste Erzählung führt aus, was heutzutage passiert,
erhält ein trinkfreudiger Winzer in seinen Träumen die unmissverständliche
Anweisung, schleunigst eine "Arche Johann" zu bauen (Konsumgüter und
Luxusobjekte zuerst!), und auch die
Sintflut sowie ihr
Urheber sind nicht mehr, was sie laut Überlieferung einst waren.
Anschließend
werden vermeintliche und tatsächliche Alltagszwänge, denen sich der Einzelne
ausgesetzt sehen mag, in Form einer gnadenlosen Aufzählung abgehandelt. Nicht
von ungefähr trägt dieser Text den stimmigen Titel "Atemlos".
Eine
Flüchtlingsgeschichte mit sozusagen umgekehrten Vorzeichen ist "Ach Afrika",
eine - wenn man so will - pädagogische Versuchsanordnung zwecks angeleiteten
Perspektivenwechsels.
In "Zirbitzer" zerplatzen des Protagonisten schillernde
Lebenslügenballons mit fatalem Ausgang.
"Westend Story" knüpft unmittelbar an
Slupetzkys erfolgreiche Kriminalromane an, jenes Genre, in dem sein
schriftstellerisches Talent wohl am besten zur Geltung kommt bzw. sich seine
diesbezügliche Routine bemerkbar macht: Der schrullige (was denn sonst!) Wiener
Privatdetektiv Prikopa soll Viktoria, die angeblich entführte Tochter des
Wiesbadener Spekulanten Jütte, finden. Dass Mutter und Tochter vieles anders als
der Herr des Hauses sehen, und auch tatsächlich einiges ganz anders ist, stellt
Prikopa alsbald ebenso ernüchtert wie situationselastisch fest. Tote dürfen bei
einer solchen Geschichte selbstverständlich nicht fehlen.
"Das Mädchen mit
den Schwefelhölzern" ist hauptsächlich eine kapitalismusanprangernde
Neuinszenierung des
bekannten Märchens von Hans Christian Andersen mit überraschenden
Selbstjustiz- und Rachemotiven. Offen bleibt freilich - wieder einmal auch hier
- die der Materie innewohnende Frage, wie denn das indirekt geforderte "alles
für alle" langfristig gesichert finanziert werden könnte. Ein Märchen eben!
Eine im
Knabeninternat "Villa Klammheim" angesiedelte spannende Gruselgeschichte bietet
"Das gefangene Herz": Die beiden Schulfreunde Josef und Julius erforschen eines
Nachts die geheimnisumwobene Dachkammer des verfallenen Nordturms, wo vor
einhundert Jahren ein Lehrer und Kindermörder fürchterliche Präparate gesammelt
hat. Die Knaben machen einen wahrhaft grausigen Fund, der die Rückkehr und
eiskalte Fortsetzung des einstigen Schreckens nach sich zieht.
Die
Machenschaften des "BOM" ("Bureau of Motivation") und einiges mehr über die
sogenannte "Europäische Union", deren Zentrum Brüssel, über Medien- und
Bürgermanipulationen enthüllt eine britische Zufallsbekanntschaft dem
Krefelder Karl-Uwe Knöllke, bislang glückloser Erfinder der Einwegkrawatte, der
seinen vermögenden Vater beerben oder zumindest geschäftlich ruinieren will und
daher begierig Mister Wilsons von Geldmächtigen hochgeschätzte skrupellose
Dienste in Anspruch nimmt. Entlarvend!
In "Bummabunga" begleitet man einen
heruntergekommenen Alkoholiker namens Pepper beim Rundgang durch die Trümmer
seiner Existenz und bekommt überdies die "Bummabunga"-Kannibalismus-Pandemie mit
Zombies serviert; furchtbar originell! Es überrascht wohl keinen, dass
ebendieser programmierte Vorzeigetext auch im heurigen "Wiener Gratisbuch" mit
Kurzgeschichten von 29 Wiener Schreibenden jeglichen Geschlechts enthalten ist.
Nur noch dies dazu: Prost!
"Die Befreiung Chipulchicas" entführt den Leser
nur scheinbar nach Mexiko, denn wieder verdeckt der gerötete Propagandazeigefinger
das große Ganze.
Solange der Autor seinen offenkundig allzu leicht erregbaren belehrenden
Zeigefinger in Zaum zu halten vermag, ist die flotte Lektüre durchaus
unterhaltsam. Derartigen Passagen stehen allerdings nicht wenige voller sattsam
bekannter Klischees und vereinfachender Meinungsverabreichung gegenüber. Derlei
wirkt allzu fremdmotiviert (oder förderungsorientiert?) und folglich weder
interessant noch authentisch.
(kre; 10/2020)
Stefan Slupetzky: "Atemlos.
Kurzgeschichten"
Picus, 2020. 173 Seiten.
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Stefan Slupetzky, Schriftsteller,
Musiker und Zeichner, wurde 1962 in Wien geboren. Zwischen 1994 und 2000 schrieb
und illustrierte er mehr als ein Dutzend Kinder- und Jugendbücher, für die er
zahlreiche Preise erhielt. Seither verfasst er Romane, Kurzgeschichten,
Theaterstücke und Liedtexte.
Seine Kriminalromane um den Antihelden Leopold
"Lemming" Wallisch wurden mehrfach ausgezeichnet, unter Anderem mit dem
"Glauser-Preis", dem "Burgdorfer Krimipreis" und dem "Leo-Perutz-Preis".
Slupetzky ist ein Drittel des "Trio Lepschi", mit dem er als Texter und Sänger
durch die Lande tourt.
Zu Stefan Slupetzkys Netzpräsenz:
http://www.stefanslupetzky.at/
Ein weiteres Buch des Autors:
"Im Netz des Lemming"
Ein tragischer Suizid und ein Nachtwächter in Bedrängnis.
Der Lemming versteht sie
nicht mehr, die Welt. Und noch weniger versteht er das Kauderwelsch aus
Internetsprache und Englisch, das sein Sohn Ben mit seinem Freund Mario
spricht. Als der Lemming sich mit ebendiesem Mario durch Zufall eine Straßenbahn
teilt, passiert das Unfassbare: Auf Marios Mobiltelefonbildschirm erscheint eine offenbar
schockierende Nachricht, der Bub rennt unvermittelt aus der Bahn und springt von einer Brücke in den Tod.
Der Lemming ist fassungslos. Noch mehr, als plötzlich
ein Sturm der Empörung auf ihn einprasselt: Die Medien haben aus dem Mann, der mit dem unglücklichen
Burschen vor dessen Suizid gesprochen hat, einen pädophilen Triebtäter gemacht.
Und plötzlich sind sein Foto und sein Name überall. Auch Chefinspektor Polivka,
der dem Lemming vertraut und mit ihm herausfinden will, was wirklich hinter
Marios Tod steckt, gerät ins Kreuzfeuer der Öffentlichkeit. Bald ranken sich
auch wilde Spekulationen um Marios Familie - denn die engagiert sich in der
Flüchtlingshilfe, während Wien im Zeichen von Schmutzkübelkampagnen und politischer Hetze steht.
Der Lemming
indes droht sich in verschiedensten Netzen zu verstricken: Im Internet, mit
dessen Gefahren er es zu tun bekommt, in den Vernetzungen
korrupter Politiker, die nicht nur im Netz falsche Informationen verbreiten,
und in den feinen Fäden, welche die Boulevardpresse spinnt, wenn sie mit haltlosen
Behauptungen eine möglichst große Leserschaft einfangen möchte. (Haymon)
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