Jeremy Tiang: "Das Gewicht der Zeit"
Ein großer Familienroman über die
Geschichte Singapurs
Der Roman "Das Gewicht der Zeit" spannt die Zeit vom
Guerillakrieg der Malayan Emergency zwischen 1948 und 1960, über den
Hock Lee Bus-Aufstand bis hin zur Verhaftung des links-sozialistischen
Ministerpräsidenten Loh Miaw Gong, nachdem er den Parlamentssitz bei den Wahlen
1963 gewinnen konnte. Somit ist er dank seines geschichtspolitischen
Hintergrunds so etwas wie eine literarische Politgeschichte des Stadtstaats
Singapur. Während die Erzählung dicht mit der Geschichte Singapurs verstrickt
ist, liegt die Kraft dieses ausgezeichneten Romans im feinfühligen Porträt einer
(erweiterten) Familie, deren Mitglieder in allen politischen Lagern zu finden
sind.
Erzählt wird dieser Roman aus der Sicht von sechs
Familienmitgliedern, mit wechselnden Perspektiven und an unterschiedlichen
Schauplätzen. Jeremy Tiang erzählt scheinbar mühelos, mit feinen Schattierungen,
egal ob es die Stimmen Jasons ist, der seine letzten Tage im Krankenhaus
verbringt, oder ob der Schauplatz im Dschungel oder in billigen Lokalen der
1970er-Jahre
in Kuala Lumpur liegt. Bestechend ist daran auch, mit wie viel
Empathie er seine Personen zeichnet, die teilweise knapp am Lächerlichen
vorbeischrammen, was natürlich im Schatten derart großer politischer Geschichte
fast unvermeidbar ist. Und so findet er eben in seinen Figuren, die zum Großteil
durchschnittliche Menschen mit üblichen Problemen sind, auch wenn sie von
Widrigkeiten gebeutelt werden, jene Kraft, die den Leser während der Lektüre
fesselt.
Zu Beginn erzählt Jason, der im Krankenhaus liegt, vom Tod
seiner Schwester Mollie, die am 10. März im Bombenanschlag auf das MacDonald-Haus
getötet wurde. Er erinnert sich an damals, sinniert über die politischen
Verstrickungen, die schuldlos Umgekommenen, die Schuld derer, die überlebt
haben. Über seine Gefühle, als die Täter wenige Jahre später hingerichtet
wurden. Besuch erhält er von seiner erwachsenen Tochter Janet, sein Sohn Henry
lebt in England, verschiebt seinen Besuch beim Vater so lange, bis es zu spät
ist.
"Wenn seine Schwester nur nicht gestorben wäre, wenn Mollie sich an
diesem Tag in einem anderen Raum aufgehalten, wenn sie früher
Teepause gemacht
hätte, dann wäre dies vielleicht auch seine Rettung gewesen. Wenn er auf seinem
Eisenbett liegt, wohlwissend, dass er bald sterben wird, denkt er manchmal an
Mollie und fragt sich, ob sie voller Angst war oder gelassen, als sie aufblickte
und die Welt um sie herum plötzlich einstürzte." (S. 15)
Der
emotionale Ausgangspunkt dieses Romans ist allerdings Siew Li, Jasons Frau. Kurz
nachdem ihre Kinder Janet und Henry zur Welt kommen, muss sie aufgrund ihrer
marxistischen Überzeugung und ihrer Betätigung im Widerstand die Familie
verlassen. Zu groß wäre sonst die Gefahr für ihr Leben und das ihrer
Familie. So
nimmt sie den Kampf auf, der ihr so wichtig ist. Im zweiten Abschnitt des Buchs
wird ihre Geschichte erzählt.
"Danach lief alles wie geschmiert, als wäre
Siew Li für die Bewegung bestimmt und hätte im Kopf nur einen Schalter umlegen
müssen. ... Teil der Bewegung zu sein, fühlte sich nicht nur gut, sondern
richtig an - der einzige für sie mögliche Platz. Unvorstellbar, wie sie früher
gewesen war, wie sie durchs Leben getrudelt war und nichts anderes im Sinn
gehabt hatte als die Schule und ihre Mutter, wie sie die Tage vertändelt hatte,
ohne über den Tellerrand ihrer unmittelbaren Umgebung hinauszusehen. Wie hatte
sie bloß so ignorant sein können?" (S. 62)
Dann gibt es die
Geschichte von Nam Teck, dessen Wege sich auch mit denen von Siew Li kreuzen,
die nun im Dschungel Lifeng heißt, was so viel wie "Schlauer Phoenix" bedeutet.
Dann die Geschichten der Journalistin Revathi und von Stella, die 1987 bei der
Rückkehr nach Singapur von Schergen der Staatssicherheit verhaftet, verhört und
gefoltert wird. Sie hat lange keine Ahnung davon, was man ihr vorwirft, bis sie
erfährt, dass sie wegen ihrer karitativen Tätigkeit in einer Kirche verdächtigt
wird, den Staat zu hinterfragen, und das, obwohl ihr Gehalt vom Staat bezahlt
wird. Wasserschocks und Ohrfeigen stehen auf der Tagesordnung. Schließlich macht
man ihr auch ihre Tante Siew Li zum Vorwurf, die als bekannte Terroristin gilt.
Es ist staatliche Willkür der paranoiden Sorte, die Jeremy Tiang schildert. Von
der Art, wie man sie in Diktaturen erwartet.
"An manchen Tagen kam es ihr
vor, als wiederholten die Fragen sich, doch da ihr bekannt war, dass man eine
Frage unterschiedlich formulieren musste, wenn man einen Lügner ertappen wollte,
störte sie sich nicht daran. Es erschien ihr immer noch unwahrscheinlich, dass
es innerhalb der Kirche Verschwörer gab, die die Regierung stürzen wollten, aber
wenn dies der Fall sein sollte, so hatten sie sich sehr bedeckt gehalten, und
Stella war ohnehin noch nie eine gute Beobachterin gewesen." (S. 217)
Der letzte Teil des Romans ist Henry gewidmet, der damit zurechtkommen muss,
dass er seinen Vater vor dessen Tod nicht mehr gesehen hat.
Interessant
ist, dass der Singapore National Arts Council die Förderung des Buchs
zurücknahm, nachdem er das Manuskript zur Begutachtung erhielt, wohl wegen der
kritischen Sichtweise auf das Geschehen im Singapur der letzten Jahrzehnte. Auch
wenn die offizielle Begründung "Nichterfüllung der Richtlinien und
Abweichung vom ursprünglichen Exposé" lautete. Dennoch gewann der Roman den
"Singapore Literature Prize 2018", der vom "Singapore Book Council"
vergeben wird. Und das mehr als verdient.
In einem Interview betonte der
Autor, dass er das Buch geschrieben hat, weil es so viele Erzählungen und
Lebensgeschichten gibt, die in der Geschichte Singapurs verleugnet werden.
Diesen Menschen wollte er eine Stimme geben, damit das Verständnis dafür, was
Singapur darstellt, und was es bedeutet, Singapurer zu sein, wächst. So
erweitert er den Horizont der Leser und bringt in Erinnerung, was so viele
Menschen erleiden mussten, um die glitzernde, schillernde Metropole zu
ermöglichen, die Singapur heute ist.
Mit den Verstrickungen seiner
Charaktere in der Geschichte seines Landes hat Jeremy Tiang einen literarisch
ausgezeichneten, von Susann Urban hervorragend übersetzten, emotional geladenen,
historisch äußerst wichtigen und so insgesamt beeindruckenden Roman geschaffen,
dem man möglichst viele Leser wünscht.
(Roland Freisitzer; 06/2020)
Jeremy Tiang: "Das Gewicht der Zeit"
(Originaltitel "State of Emergency")
Aus dem Englischen übersetzt von Susann Urban.
Residenz, 2020. 303 Seiten.
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Jeremy Tiang, geboren in Singapur, lebt als Autor und Übersetzer in Brooklyn. Er hat zahlreiche Theaterstücke und den Kurzgeschichtenband "It never rains on National Day" (2015) verfasst sowie Romane und Theaterstücke aus dem Chinesischen übersetzt. Er ist Herausgeber des "Pathlight Magazine" und Gründer des Übersetzerkollektivs "Cedilla & Co".