Pascal Mercier: "Nachtzug nach Lissabon"
Gekürzte Lesung von Walter
Kreye
(Hörbuchrezension)
Ein Goldschmied der
Worte
Da wandelt er, unser Protagonist Gregorius, ahnungslos und
traumgeküsst über die Brücke, Richtung Gymnasium, wie jeden Tag in den letzten
30 Jahren. Ende 50, die Zuverlässigkeit in Person, Lehrer für Altgriechisch, von
der gesamten Schule liebe- und respektvoll "Mundus" ("Die Welt") genannt. Noch
ahnen weder Hauptfigur noch Hörer, dass dies das letzte Mal sein wird. Denn als
er gewahr wird, dass sich eine junge Frau selbst entleiben will, schreitet er
ritterlich-beherzt ein. Doch diese vernichtet nur einen Brief in den Fluten
unter der Brücke. Als der schönen jungen Dame bewusst wird, dass der Brief auf
immer verloren ist, sprintet sie zu "Mundus", stammelt eine Entschuldigung und
schreibt eine Telefonnummer auf die Stirn des verdatterten Gregorius. Nachdem er
sich von seiner Überraschung erholt hat, bittet er die Frau, ihn zu begleiten.
Auf dem Weg zum Gymnasium fragt er die Namenlose nach ihrer Muttersprache.
Melodiös sagte sie: "Portugues".
Abbruch - Aufbruch
Er
stellt sich gedankenverloren vor seine Klasse und lässt seine Blicke langsam von
Bank zu Bank gleiten. "Wie viel Leben sie noch vor sich haben! Wie offen ihre
Zukunft noch ist! Was noch alles mit ihnen passieren kann! Was sie noch alles
erleben können!" Und was ist mit meinem Leben, meiner
Zukunft?
"Ein letztes Mal ließ er die Blicke über die Köpfe gleiten. Dann
erhob er sich langsam, ging zur Tür, ... und verschwand ... aus dem Zimmer." Am
nächsten Tag reist er auf der Suche nach Amadeu Inácio de Almeida Prado, dem
Autor des Buches "Ein Goldschmied der Worte", nach Portugal ab.
Gregorius
war bisher introvertiert, lebte zurückgezogen, und sein größtes Erlebnis war die
Korrektur der Schülerarbeiten - bis auf seine Scheidung, die schon etliche Jahre
zurück liegt.
Obwohl er schon früh nach seiner Ankunft in Lissabon
erfährt, dass Prado vor 30 Jahren verstarb, reist er nicht ab, um sein altes
Leben wieder aufzunehmen. Auf den Spuren Prados zieht er durch Lissabon, trifft
sich mit den noch lebenden Mitgliedern seiner Familie, seinen Freunden und
Feinden. Für viele dieser Menschen, die seit Amadeus Tod ihre Gefühle
unterdrückten, wirkt der unbedarfte, neugierige und offenherzige Gregorius wie
ein Spiegel. Er verhilft ihnen wortwörtlich zu einem neuen Leben, das noch
voller Möglichkeiten steckt. Und auch er beginnt sich, teils radikal, zu ändern.
So fängt er an zu rauchen, nimmt das Schachspiel wieder auf, verliebt sich ein
bisschen in seine Augenärztin und zieht zu seinem neu gewonnenen Freund.
Dieses neue Leben wird jäh unterbrochen, als er von Schwindelanfällen
heimgesucht wird. Obwohl ihm seine Freundin/Augenärztin versichert, die Symptome
klängen harmlos, reist er zur weiteren Behandlung in sein Heimatland
ab.
Philosophische Betrachtungen
Mercier verknüpft
Gregorius' Suche mit seiner Suche nach Identität und Individualität aber auch
Integrität, Loyalität und Freundschaft. Inwieweit ist man "seines eigenen
Glückes Schmied", und kann man wirklich aus den gewohnten Bahnen ausbrechen? Und
welchen Preis ist man bereit, dafür zu zahlen?
Kehrt Gregorius irgendwann
nach Portugal zurück oder bleibt er in der Schweiz? Und egal, wo er später
einmal lebt, kann er "die Lehren" aus Amadeus Leben verwenden, um sein eigenes
anders zu gestalten? Besser? Glücklicher? Keine dieser Fragen wird beantwortet
sondern sie stehen zum Disput und können von jedem Hörer auf individuelle Art
und Weise beantwortet werden - oder auch nicht. Für diejenigen, die diesem
Aspekt keine größere Beachtung schenken möchten, bleibt eine ausgesprochen
unterhaltsame, exquisite und literarisch hochwertige Suche nach einem fiktiven
Autor, Arzt und Widerstandskämpfer.
Ein alter Schweizer spricht
Portugiesisch
Walter Kreye hält sich während der gesamten Lesung
wohltuend zurück. Selbst bei den Schilderungen der Gräuel der Militärdiktatur trägt
er nicht auf oder verfällt in einen anklagenden Ton. Im Gegenteil zeichnen
sich gerade diese Passagen durch einen besonders ruhigen, aber eindringlichen
Tonfall aus. Man spürt die Scham und Demütigung, denen das Opfer ausgesetzt war;
die Fassungslosigkeit, mit der auf die Kaltblütigkeit der Schergen reagiert
wurde; die Unfähigkeit, nach der Entlassung aus der Folterhaft Rache zu
nehmen.
Voll von positiver Ausstrahlung, mediterranem Klima und
atmosphärisch klingen hingegen die Passagen, in denen sich Gregorius bewusst
wird, was er alles in kürzester Zeit in seinem Leben geändert hat, ohne
Gewissensbisse oder Hadern darüber, dass er erst mit fast 60 zu einer neuen
Identität gefunden hat, oder in denen er über Lissabon und seine neuen Freunde
spricht.
Fazit: Hinter der vorrangig erzählten Suche nach einem Autor,
Arzt und Widerstandskämpfer verbergen sich für den anspruchsvollen Hörer noch
weitere Handlungs- und Erzählebenen. Walter Kreyes Vortrag erfasst den Roman in
all seinen Facetten und verleiht sämtlichen Aspekten in der angenehmsten Weise
Ausdruck.
(Wolfgang Haan; 01/2006)
Pascal Mercier: "Nachtzug nach
Lissabon"
Hörbuch Hamburg, 2005. 6 CDs, Laufzeit 470 Minuten.
ISBN
3-89903-224-1.
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Buchausgabe:
Hanser,
2004. 496 Seiten.
ISBN 3-446-20555-1.
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Pascal Mercier wurde 1944 in Bern
geboren, studierte Indologie und Anglistik in London, Philosophie, Indologie,
klassischen Philologie und Anglistik in Heidelberg. 1973-1975
Forschungsaufenthalte in Berkeley und Harvard. 1981 bis 1993 diverse Professuren
u.a. in Hamburg, Heidelberg, Berlin, Bielefeld, Marburg. Seit 1993 ist er als
Professor für Philosophie an der Freien Universität Berlin tätig.
Pascal
Mercier ist Mitbegründer des Forschungsschwerpunktes "Kognition und Gehirn" bei
der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Schwerpunkte: Philosophische
Psychologie, Erkenntnistheorie, Moralphilosophie. Zahlreiche wissenschaftliche
Veröffentlichungen unter seinem bürgerlichen Namen Peter Bieri.
Ein
weiteres Buch des Autors:
"Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung
des eigenen Willens"
Was bedeutet es, frei zu sein? Gibt es eine absolute
Freiheit des Willens? Der Philosoph Peter Bieri präsentiert die
unterschiedlichsten Antworten auf die Frage der
Willensfreiheit wie auf einer Bühne: In kleinen, immer wieder abgewandelten
Szenen verstrickt er scheinbar zwingende Vorstellungen von Freiheit so lange in
Widersprüche, bis sich am Ende die Prinzipien einer wirklichen Freiheit erkennen
lassen.
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