Die Feeninsel
Nullus enim locus sine genio est.
(Servius)
›La musique‹ - sagt
Marmontel in seinen ›Contes Moraux‹, die all unsere Übersetzer beharrlich ›Moralische
Geschichten‹ genannt haben, als wollten sie sich über ihren Inhalt geradezu
lustig machen -, ›la musique est le seul des talents, qui jouisse de lui-même;
tous les autres veulent des témoins.-‹ Und es will mir scheinen, als verwechsle
hier der Autor den Genuß, angenehme Töne zu hören, mit der Kraft, sie hervorzubringen.
Denn die Musik ist ebensowenig wie jedes andere ›talent‹ imstande, einen reinen
Genuß zu gewähren, wenn nicht eine zweite Person ihre Ausführung würdigt; und
die Fähigkeit, Wirkungen hervorzubringen, die man auch in der Einsamkeit voll
genießt, hat sie ebenfalls mit den anderen ›talents‹ gemeinsam. Der Grundgedanke,
den Marmontel nicht klar genug ausgedrückt oder dessen letzte Fassung er einer
echt französischen Vorliebe für Geistreichelei geopfert hat, ist ohne Zweifel
durchaus haltbar: insofern nämlich die höhere Gattung der Musik am besten
von uns gewürdigt werden kann, wenn wir ganz allein sind. In dieser Form wird
die Behauptung allen denen genehm sein, die die Tonkunst um ihrer selbst, um
des geistigen Genusses willen lieben, den die arme Menschheit haben kann, und
vielleicht nur diesen einen, der noch mehr als der musikalische durch das Gefühl
der Einsamkeit erhöht wird.
Ich meine das Glück, das uns
die Betrachtung einer Landschaft gewährt. In Wahrheit, ja! Ein Mensch, der die
Herrlichkeit Gottes auf Erden von Angesicht zu Angesicht schauen will, muß sie
in der Einsamkeit betrachten. Für mich wenigstens ist jede Gegenwart-nicht nur
die menschlichen Lebens, sondern des Lebens überhaupt, des Lebens in jeder anderen
Gestalt als der, welche die stummen grünenden Wesen haben, die dem Boden entsprießen
- ein Mißklang in der Landschaft, ein friedestörender Feind des besonderen Geistes,
der in ihr wohnt.
Ich liebe es, die dunklen Täler
zu betrachten und die grauen Felsen und die Wasser, die schweigend lächeln,
und die Wälder, die in unruhigem Schlummer seufzen und stöhnen, und die wachsamen
Berge, die so stolz herniedersehen. Ich liebe es, diese Dinge als das zu betrachten,
was sie sind: große Glieder eines ungeheuren, lebendigen und fühlenden Ganzen,
das mit den anderen Planeten seinen stillen Weg wandelt und dessen sanfte Dienerin
der Mond, dessen Herrscher die Sonne ist; dessen Leben Ewigkeit, dessen Gedanke
der eines Gottes, dessen Genuß Erkenntnis ist; dessen Bestimmung sich in Unendlichkeit
verliert; eines Ganzen, das uns Menschen genau so erkennt wie wir die kleinen
und kleinsten Tierchen, die unser Gehirn beunruhigen, und ein Wesen ist, das
wir als leblos, als reinen Stoff betrachten, geradeso wie uns diese Tierchen,
die animalculae, dafür halten werden.
Unsere Teleskope und mathematischen
Berechnungen bestätigen uns in jedem einzelnen Punkt, daß der Raum, und folglich
auch das Volumen, in den Augen des Allmächtigen eine wichtige Bedeutung hat.
Die Kreise, in denen sich die Sterne
bewegen, sind der ganzen Evolution
so angepaßt, daß in ihnen die größtmögliche Zahl von Körpern ohne Kollision
ihre Bahn beschreiben kann. Die Form dieser Körper enthält auf der gegebenen
Oberfläche die größtmögliche Menge Materie, und die Oberfläche selbst ist so
beschaffen, daß sie unter diesen Umständen eine größere Zahl Bewohner aufnehmen
kann, als wenn sie auf irgendeine Weise anders geartet wäre. Auch kann man aus
der Unendlichkeit des Raumes gar kein Argument gegen den Gedanken herleiten,
daß der Stoff in den Augen Gottes Bedeutung habe; es kann ja eine Unendlichkeit
der Materie geben, um ihn zu füllen. Da wir nun klar erkennen, daß die Belebung
dieser Materie, wenigstens so weit wir urteilen, das leitende Prinzip in dem
Wirken der Gottheit ist, wäre es unlogisch, anzunehmen, daß dieses Prinzip sich
auf die Regionen des Kleinen, in denen es sich uns täglich offenbart, beschränke
und nicht auch das Erhabene durchdringe. Wie wir bis ins Unendliche Kreise in
Kreisen finden, die sich alle um einen unendlich weit entfernten Mittelpunkt,
das Haupt der Gottheit, drehen - können wir so nicht, dem entsprechend, Leben
in Leben vermuten, das geringere in dem höheren und das ganze im Geiste Gottes?
Kurz, wir irren, wenn wir in törichter Selbstüberschätzung glauben, daß der
Mensch in seiner zeitlichen oder zukünftigen Entwicklungsform eine größere Wichtigkeit
im Weltall habe als die Ackerkrume, die er bebaut und der er die Seele aus einem
sehr wenig tiefen Grunde abspricht: weil er das Gesetz ihres Seins und dessen
lebendige Wirkung nicht sieht.
Diese und ähnliche Gedanken gaben
meinen Betrachtungen in den Bergen und Wäldern, am Ufer der Flüsse und am Strande
des Meeres eine Richtung, welche die alltägliche Welt phantastisch nennen wurde.
Unzählige Male habe ich forschend einsame Gegenden durchwandern und die still-rege
Beschaulichkeit, mit der ich manches dunkle Tal durchstreifte oder mein Auge
über manchen weithin schimmernden See schweifen ließ, wurde noch durch den Gedanken
vertieft, daß ich allein umherirrte, allein betrachtete. Welcher geschwätzige
Franzose sagte doch mit einer Anspielung auf das wohlbekannte Werk Zimmermanns:
›La solitude est une belle chose; mais il faut quelqu'un pour vous dire que
la solitude est une belle chose!‹? Als Epigramm läßt sich nichts gegen diesen
Satz einwenden; aber: il faut! Diese Notwendigkeit ist ein Ding, das es nicht
gibt.
Auf einer meiner einsamen
Wanderungen durch eine ferne, von Bergen umschlossene und von Bergen durchquerte
Gegend, an traurig plätschernden Flüssen und düsteren, schlafenden Seen vorüber,
kam ich an einen kleinen Bach, der eine Insel umsäumte. Es war im Laubmonat
Juni. Ich warf mich auf den Boden, unter die Zweige eines duftenden, unbekannten
Gesträuches, um, während ich mir die Landschaft besah, zugleich ein wenig ausruhen
zu können.
An allen Seiten, nur nicht
im Westen, wo die Sonne sich schon dem Untergang neigte, erhoben sich die grünen
Mauern des Waldes. Der kleine Bach, der eine scharfe Biegung machte und sich
ganz plötzlich den Blicken entzog, schien keinen Ausweg zu haben und im Osten
von dem tiefen Grün der Bäume aufgesogen zu werden; während an der gegenüberliegenden
Seite - so schien es mir wenigstens, als ich den Blick nach oben richtete -
lautlos ein reicher, purpurgoldener Wasserfall aus den westlichen Lichtquellen
des Himmels in das Tal herniederstürzte.
Etwa im Mittelpunkt der Landschaft, die mein träumender Blick umschloß, ruhte
im Schoß des Baches das kleine, runde, üppig begrünte Eiland,
Dess' Licht und Schatten
so getönt,
Daß in der Luft es schwebend schien -
Und so spiegelhell
war das Wasser, daß man nicht erkennen konnte, an welchem Punkt des smaragdenen
Abhanges der Insel sein kristallenes Reich begann.
Meine Lage ermöglichte es mir, mit einem Blick das östliche und westliche Ende
des Eilands zu überschauen; und ich bemerkte sonderbar ausgeprägte Gegensätze.
Der Westen war ein strahlender Harem
von Gartenschönheiten. Er glühte und errötete unter den schrägen Strahlen der
Sonne, und seine Blumen
lächelten zauberhaft. Das Gras war kurz, leicht bewegt und asphodelenübersät.
Die Bäume geschmeidig, glänzend,
schlank und voll Anmut, ihre Gestalt, ihr Laubwerk morgenländisch, die Rinde
weich, leuchtend und farbig. Ein tiefes, belebendes Freudegefühl schien alles
zu durchdringen, und obgleich der Himmel kein Lüftchen entsandte, war das Bild
durch das weiche Flattern zahlloser Schmetterlinge,
die man für beschwingte Blumen hätte halten können, still belebt.
Die östliche Seite der Insel tauchte in tiefsten Schatten. Eine düstere, doch
friedvolle Melancholie lag darüber. Die Bäume waren von dunkler Farbe und trauervoller
Gestalt und Haltung - sie verflochten sich zu ernsten, feierlichen, geisterhaften
Erscheinungen, die an tödlichen Kummer und frühzeitigen Tod zu denken gemahnten.
Der Rasen hatte die tiefe Farbe der Zypressen; die Spitzen seiner Halme hingen
verschmachtend herab. Hier und da erhoben sich kleine Hügel, niedrig, schmal
und nicht lang, die aussahen wie Gräber, aber doch keine waren, obgleich Raute
und Rosmarin sie überwucherten. Der Schatten der Bäume fiel schwer auf das Wasser;
er schien in ihm zu versinken und den flachen Grund mit seiner Dunkelheit zu
erfüllen. Ich bildete mir ein, daß jeder Schatten, der mit der Sonne tiefer
und tiefer sank, sich traurig von seinem Stamm losriß und von dem Fluß verschlungen
wurde, während gleichzeitig andere Schatten aus dem Baum stiegen und die Stelle
ihres begrabenen Vorgängers einnahmen.
Kaum hatte sich dieser Gedanke
in meiner Vorstellung festgesetzt, da verlor ich mich auch schon in andere Träumereien:
›Wenn es jemals eine verzauberte Insel gab‹, sagte ich mir, ›so ist es diese.
Sie wird das Reich der wenigen holden Feen sein, die noch von ihrem Geschlecht
übriggeblieben sind. Ruhen die anderen in jenen Gräbern? Geben auch sie ihren
süßen Geist auf, wie die Kinder der Menschen? Oder ist ihr Tod ein trauriges
Hinwelken? Geben sie ihr Leben nach und nach in Gottes Hand zurück, wie diese
Bäume Schatten nach Schatten entsenden? Ist das Leben der Feen für den unersättlichen
Geist des Todes dasselbe, was jene hinblühenden Bäume für das Wasser sind, das
ihre Schatten trinkt und dadurch dunkler wird?‹
Während ich so mit halbgeschlossenen Augen träumte und die Sonne schneller und
schneller ihrem Lager zueilte, indes ein Wirbelwind um die Insel schoß und leuchtend
weiße Flocken den Platanen entriß und auf das Wasser verstreute - während ich
so träumte, schien es mir, als ob die Gestalt einer jener Feen, an die ich eben
gedacht hatte, langsam aus dem. Licht am westlichen Ende der Insel in die Dunkelheit
entschwebe. Sie stand aufrecht in einem seltsam zerbrechlichen Boote, das sie
mit dem Scheinbild eines Ruders bewegte. Während ihre Haltung unter der Wirkung
der letzten zögernden Sonnenstrahlen Freude auszudrücken schien, sank Bekümmernis
auf sie nieder, da sie in den Schatten gelangte. Langsam glitt sie dahin, umkreiste
die Insel und stand dann wieder im verglühenden Licht. ›Der Kreislauf, den die
Fee jetzt beschrieben hat‹, fuhr ich in meinen Träumen fort, ›wird der Ring
eines kurzen Jahres ihres Lebens sein. Sie hat ihren Winter und ihren Sommer
durchfahren. Sie ist ihrem Tode um ein Jahr näher gekommen, denn ich habe gesehen,
daß ihr Schatten, als sie in die Dunkelheit kam, von ihr abfiel, von dem schwarzen
Wasser aufgesogen wurde und seine Finsternis noch finsterer machte.‹
Und wieder erschien das Boot mit der Fee, und in ihrer Haltung lag wieder mehr
Sorge und Trauer und weniger lebendige Fröhlichkeit. Sie glitt von neuem aus
dem Licht in die Dunkelheit, die sich von Sekunde zu Sekunde vertiefte, und
wieder fiel ihr Schatten von ihr ab in das ebenholzfarbene Wasser und wurde
von seinem Schwarz verschlungen. Und immer wieder umkreiste sie die Insel -
während die Sonne sich schon zum Schlummer bettete -, und jedesmal, wenn die
Fee wieder im Lichte stand, erschien ihre Gestalt schwächer, zerbrechlicher,
undeutlicher, und jedesmal, wenn sie in die Dunkelheit steuerte, löste sich
ein dunklerer Schatten von ihr los, der von noch tieferer Finsternis verschlungen
wurde. Und endlich, als die Sonne ganz versunken war, verschwand auch die Fee
- die jetzt wohl nur noch ein Schatten ihrer selbst war - mit dem Boote in den
Weiten des abenddunklen Flusses.
Ob sie jemals wieder aus ihm hervortauchte, ich kann's nicht sagen, denn tiefste,
dichteste Finsternis fiel über alle Dinge, und ich sah ihre zauberhafte Gestalt
nicht wieder.
(von Edgar Allen Poe)
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