(...)
So lebten wir lange Zeit in Frieden nebeneinander, und es fiel mir gar nicht
ein, daß es jemals anders werden könnte, nur daß Rudolf immer finsterer wurde,
je mehr er heranwuchs. Um diese Zeit hatte ich mehrere Male sehr schwere und
furchtbare Träume. Ich sah nämlich immer meinen Bruder Rudolf in einer Rüstung,
wie sie sich auf einem alten Ritterbilde auf unserem Vorsaale befand, durch
ein Meer von durcheinander wogenden, ungeheuren Wolken schreiten, wobei er sich
mit einem langen Schwerte rechts und links Bahn zu hauen schien. So oft er mit
dem Schwerte die Wolken berührte, gab es eine Menge Funken, die mich mit ihren
vielfarbigen Lichtern blendeten, und bei jedem solchen Leuchten kam mir auch
Rudolfs Gesicht plötzlich blaß und ganz verändert vor. Während ich mich nun
mit den Augen so recht in den Wolkenzug vertiefte, bemerkte ich mit Verwunderung,
daß es eigentlich keine Wolken waren, sondern sich alles nach und nach in ein
langes, dunkles, seltsam geformtes Gebirge verwandelte, vor dem mir schauderte,
und ich konnte gar nicht begreifen, wie sich Rudolf dort so allein nicht fürchtete.
Seitwärts von dem Gebirge sah ich eine weite Landschaft, deren unbeschreibliche
Schönheit und wunderbaren Farbenschimmer ich niemals vergessen habe. Ein großer
Strom ging mitten hindurch bis in eine unabsehbare, duftige Ferne, wo er sich
mit Gesang zu verlieren schien. Auf einem sanftgrünen Hügel über dem Strome
saß Angelina, das italienische Mädchen, und zog mit ihrem kleinen, rosigen Finger
zu meinem Erstaunen einen Regenbogen über den blauen Himmel. Unterdes sah ich,
daß das Gebirge anfing sich wundersam zu regen; die Bäume streckten lange Arme
aus, die sich wie Schlangen
ineinander schlungen, die Felsen dehnten sich zu ungeheuren Drachengestalten
aus, andere zogen Gesichter mit langen Nasen, die ganze wunderschöne Gegend
überzog und verdeckte dabei ein qualmender
Nebel. Zwischen den Felsenplatten streckte Rudolf den Kopf
hervor, der auf einmal viel älter und selber wie von Stein aussah, und lachte
übermäßig mit seltsamen Gebärden. Alles verwirrte sich zuletzt und ich sah nur
die entfliehende Angelina mit ängstlich zurückgewandtem Gesichte und weißem,
flatterndem Gewande, wie ein Bild über einen grauen Vorhang, vorüberschweben.
Eine große Furcht überfiel mich da jedesmal und ich wachte vor Schreck und Entsetzen
auf.
Diese Träume, die sich, wie gesagt, mehrere Male wiederholten, machten einen
so tiefen Eindruck auf mein kindisches Gemüt, daß ich nun meinen Bruder oft
heimlich mit einer Art von Furcht betrachtete, auch die seltsame Gestaltung
des Gebirges nie wieder vergaß. (...)
(aus "Ahnung
und Gegenwart" von J. v. Eichendorff)
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