In vino veritas
Die Wahrheit lebt im Wein.
Laßt diesen Spruch uns ehren,
Und von dem Heuchelschein
Der Zeit uns nicht betören.
Laßt uns, was recht, was schlecht,
Mit
seinem Namen nennen,
Und über Herr und Knecht
Nur ein Gesetz erkennen!
Die Wahrheit lebt im Wein.
Wem gilt der erste Becher?
Schenkt klar und lauter ein! –
Er gilt
dem Trugzerbrecher,
Der Wahrheit hohem Herrn,
Der bei dem hellsten Lichte,
Was hoch, tief, nah und fern
Sich birgt, ruft zu
Gerichte.
Die Wahrheit lebt im Wein.
Der Ewge frägt nach Taten;
Er schauet nicht
hinein
In Akten und Traktaten,
Da wohl sein Name steht
Mit großer
Schrift geschrieben:
Der Buchstab, er vergeht –
Wo ist der Geist geblieben?
Die Wahrheit lebt im Wein.
Was nahen dort für Scharen?
Sie ziehen singend
ein,
Geputzt mit schlichten Haaren.
Sind das die frommen Leut,
Die
sich in Almanachen
Mit ihrer Frömmigkeit
So wunderzierlich machen?
Die Wahrheit lebt im Wein.
Wem gilt der zweite Becher?
Euch soll er heilig
sein,
Ihr starken Lügenrächer,
Die für der Wahrheit Thron
Mit Hand
und Mund gestritten,
Und gern, als Siegeslohn,
Hohn, Not und Tod erlitten!
Die Wahrheit lebt im Wein.
Laßt nicht auf hohen Säulen
Von
blankem Marmorstein
Die Blick allein verweilen.
Die Wahrheit
winkt uns fort,
Und zeigt in öden Klüften
Uns manchen heilgen Ort
Mit ungeschmückten Grüften.
Die
Wahrheit lebt im Wein.
Dem keines Königs
Ehren
Von Gold und Edelstein
Die freie Brust beschweren,
Des
Name nie erklang
Aus eines Sängers Munde,
Den meint der Becher Klang
In
unsrer vollen Runde.
Die Wahrheit lebt im Wein.
Nun füllt den letzten Becher!
Doch seht, der ist nicht rein,
Und wir sind klare Zecher.
Wem gilt der Bodensatz?
Den trüben Obskuranten
Vom Orden des Ignaz,
Und ihren Anverwandten!
(von Wilhelm Müller)