Guter Wein, gut Latein
Guter Wein lehrt gut Latein.
Sitz ich bei dem vollen Glase,
Mein ich, ein Apoll
zu sein,
Und es hebt sich meine Nase
In die Wolken fast hinein.
Zöpfe, Beutel und
Perücken
Wachsen flugs auf meinem Haupt,
Es mit Ehren auszuschmücken,
Die kein Säkulum ihm raubt.
Guter Wein lehrt gut Latein.
Seh ich schon der Flasche Boden,
Ist mir
auch Apoll zu klein;
Kühner als die kühnsten Oden
Stürm ich in die Welt hinein.
Und nach
meinem Saitenspiele
Laß ich sich die Reiche drehn;
Liberale und Servile
Müssen Musterung bestehn.
Guter
Wein lehrt gut Latein.
Ist der Tisch erst naß geworden,
Werd ich gar ein
Taktikus,
Lasse nach der Regel morden,
Und es geht auf Hieb und Schuß.
Mit dem Finger mal ich Flüsse.
Seen mit der ganzen Hand;
Meines roten
Weines Güsse
Strömen für das Vaterland.
Guter
Wein lehrt gut Latein.
Ist der Tisch dann abgewaschen,
Steck ich ein das
Schwert indes,
Und vor meinen leeren Flaschen
Halt ich friedlichen Kongreß.
Länder reiß ich flugs in Stücken,
Kann mit einer neuen Naht
Alte Fetzen
wieder flicken –
Bin ich nicht ein Diplomat?
Guter Wein lehrt gut Latein.
Komm ich an die letzten Tropfen,
Ist mir nichts mehr gut genug;
Und ich riech an meinem Pfropfen.
Kritisiere den Geruch.
Leer ist meine Westentasche,
Und der Wirt liebt bares Geld. –
Schafft mir eine neue Flasche,
Oder eine neue Welt!
(von Wilhelm Müller; 1794-1827)