(...) Auf dem Tanzboden
»Zur Gemütlichkeit« beschloß man den Festtag. Diesen Tanzboden hielt die Witwe
Désir, eine dicke Mutter von fünfzig Jahren, rund wie ein Faß, aber so frisch
und wohl erhalten, daß sie noch sechs Liebhaber hatte, einen für jeden Tag der
Woche, sagte sie, und alle sechs für den Sonntag. Sie nannte alle Grubenarbeiter
ihre Kinder, von Rührung übermannt bei dem Gedanken an das Meer von Bier, das
sie seit dreißig Jahren ihnen ausschenkte. Sie rühmte sich auch, daß keine einzige
Schlepperin schwanger werde, ohne vorher bei ihr das Tanzen gelernt zu haben.
Die Wirtschaft »Zur Gemütlichkeit« bestand aus zwei Sälen: aus der Trinkstube,
wo das Schankpult und die Tische standen, und aus dem Tanzsaal, in den man aus
der Trinkstube durch eine weite Bogenöffnung gelangte. Der Tanzsaal war ein
großer Raum, nur in der Mitte gedielt und ringsherum mit Ziegeln ausgelegt.
Den Zierat gaben zwei Gewinde von papiernen Blumen ab, die an der Saaldecke
von einem Ende zum andern sich zogen und in der Mitte sich kreuzend, durch einen
Kranz ebensolcher Blumen zusammengehalten wurden. An den Wänden hingen vergoldete
Wappenschilder, welche die Namen
von Heiligen trugen: den heiligen Eloi, Schutzpatron der Eisenarbeiter;
den heiligen Krispin, Schutzpatron der Schuster; die heilige Barbara, Schutzpatronin
der Bergleute, kurz, den ganzen Kalender der Gewerbe. Die Saaldecke war so niedrig,
daß die drei Musiker auf ihrer Tribüne, die nicht größer als eine Predigerkanzel
war, mit dem Kopf anstießen. Die Beleuchtung besorgten vier Petroleumlampen,
die am Abend in den vier Winkeln des Saales aufgehängt wurden.
An diesem Sonntag begann der Tanz schon um fünf Uhr nachmittags bei hellem Tageslichte.
Aber erst gegen sieben Uhr füllten sich die Säle. Draußen hatte sich ein heftiger
Wind erhoben; es wirbelte schwarze Staubwolken auf, die alle Leute blendeten
und sich knisternd in die offenen Bratöfen legten. Maheu, Etienne und Pierron
waren ebenfalls gekommen, um Chaval aufzusuchen, der mit Katharina tanzte, während
Philomene allein geblieben war und ihnen zusah. Weder Levaque noch Zacharias
war sichtbar geworden. Da es im Saale an Sitzbänken fehlte, ließ sich Katharina
nach jedem Tanze am Tische ihres Vaters nieder. Man rief auch Philomene, allein
sie wollte lieber stehen. Der Tag ging zur Rüste; man sah im Saale nur mehr
Hüften und Brüste in einem Wirrsal von Armen sich bewegen. Mit hellem Jubel
wurden die vier Lampen empfangen; plötzlich ward alles erhellt, die roten Gesichter,
die an der Haut klebenden wirren Haare, die fliegenden Röcke, die den scharfen
Geruch der schwitzenden Paare verbreiteten. Maheu zeigte Etienne die Mouquette,
die dick und fett wie eine Schweineseite am Arme eines langen, mageren Handlangers
walzte; sie hatte doch endlich einen Mann gefunden und sich mit ihm getröstet.
Endlich um acht Uhr erschien Frau Maheu mit Estelle an der Brust und gefolgt
von den Kleinen, von Alzire, Heinrich und Leonore. Sie suchte ihren Mann geradeswegs
hier auf, weil sie sicher war, ihn hier zu treffen. Man beschloß, später zur
Nacht zu essen, niemand hatte Hunger; alle hatten den Magen mit Kaffee überschwemmt
und mit Bier überladen. Es kamen noch andere Frauen, und es gab ein Geflüster,
als man hinter der Maheu die Levaque eintreten sah, gefolgt von Bouteloup, der
Philomenes Kinder, Achilles und Desirée, an der Hand führte. Die beiden Nachbarinnen
schienen ihren Frieden gemacht zu haben; die eine drehte sich herum, um mit
der anderen zu reden. Unterwegs hatte es eine große Auseinandersetzung zwischen
ihnen gegeben; die Maheu hatte sich endlich darein ergeben, daß Zacharias heirate;
allerdings war sie trostlos, den Erwerb ihres Ältesten einzubüßen; doch mußte
sie einsehen, daß es ungerecht sei, ihn noch länger zurückzuhalten. Sie suchte
denn, eine gute Miene zu machen, obgleich ihr Herz von Sorge erfüllt war, weil
sie, die Hauswirtin, sich fragen mußte, wie sie fernerhin das Auslangen finden
sollten, da doch, ein Hauptteil ihres Einkommens wegfallen werde.
»Setze dich dorthin, Nachbarin«, sagte sie und zeigte auf einen Tisch neben
dem, an welchem Maheu mit Etienne und Pierron trank.
»Ist mein Mann nicht bei euch?« fragte die Levaque.
Die Kameraden sagten ihr, daß er wiederkommen werde. Man rückte enger zusammen,
Bouteloup mit den Kindern nahm ebenfalls Platz, und man saß so gedrängt, daß
die beiden Tische gleichsam nur einen ausmachten. Man bestellte Bier. Als Philomene
ihre Mutter und ihre Kinder eintreffen sah, kam auch sie näher. Sie nahm einen
Sessel und schien froh zu hören, daß man sie endlich verheirate. Als man Zacharias
suchte, antwortete sie mit ihrer weichen Stimme:
»Ich erwarte ihn; er ist nicht weit.«
Maheu hatte mit seiner Frau einen Blick ausgetauscht. Wie, sie willigte ein?
Er ward ernst und rauchte schweigsam seine Pfeife.
Auch ihn erfaßte die Sorge wegen des morgenden Tages angesichts der Undankbarkeit
der Kinder, die eines nach dem anderen heirateten und ihre Eltern in Elend zurückließen.
Man tanzte noch immer; der Schluß einer Quadrille hüllte den Saal in einen rötlichen
Staub; die Mauern krachten; eine Pickelflöte ließ schrille Pfiffe vernehmen
wie eine notleidende Lokomotive; wenn die Tänzer stille standen, rauchten sie
wie Pferde.
»Erinnerst du dich,« sagte die Levaque und beugte sich zum Ohre der Maheu, »daß
du davon sprachst, Katharina erwürgen zu wollen, wenn sie die ›Dummheit‹ begehen
werde?«
Chaval führte eben Katharina an den Familientisch zurück; hinter dem Vater stehend,
tranken sie den Rest ihres Bieres.
»Mein Gott, man sagt es nur so ...« entgegnete die Maheu kleinlaut. »Mich beruhigt,
daß sie kein Kind bekommt; dessen bin ich sicher. Wenn die auch einen Balg kriegte
und ich genötigt wäre, sie zu verheiraten: was sollten wir dann essen?«
Die Pickelflöte pfiff jetzt einen Polka. Während der betäubende Lärm des Tanzes
wieder anging, teilte Maheu seiner Frau mit leiser Stimme einen Gedanken mit:
Warum sollten sie nicht einen Mieter nehmen, Etienne zum Beispiel, der eine
Pension suchte? Sie würden Platz haben, weil Zacharias sie bald verlasse; das
Geld, das sie in
dieser Weise auf der einen Seite verlieren, würden sie auf der anderen Seite
zum Teil wieder hereinbekommen. Das Gesicht der Maheu hellte sich auf: gewiß,
es sei eine gute Idee, und man müsse die Sache abmachen, meinte sie. Wieder
einmal schien sie vor dem Hunger gerettet; ihre gute Laune kehrte so rasch wieder,
daß sie Bier für die Gesellschaft bestellte.
Mittlerweile bemühte sich Etienne, Pierron zu gewinnen, dem er seinen Plan einer
Unterstützungskasse auseinandersetzte. »Wir reden dann ganz anders mit der Gesellschaft;
wir finden so die ersten Mittel des Widerstandes ... Bist du dabei?«
Pierron hatte die Blicke gesenkt und war bleich geworden.
»Ich will darüber nachdenken«, stammelte er. »Eine gute Aufführung ist die beste
Unterstützungskasse.«
Maheu bemächtigte sich jetzt Etiennes und machte ihm rundheraus als rechtschaffener
Mann den Vorschlag, ihn als Mieter in sein Haus zu nehmen. Der junge Mann ging
auf den Vorschlag sofort ein, denn er wünschte lebhaft, im Dorfe zu wohnen,
mehr unter den Kameraden zu leben. Man schloß in wenigen Worten das Geschäft
ab; die Maheu erklärte, man wolle nur die Heirat der Kinder abwarten.
Endlich kam auch Zacharias mit Mouquet und Levaque. Alle drei brachten die Gerüche
des »Vulkan« mit, einen Atem von Wachholderbranntwein, einen scharfen Moschusgeruch
von unsauberen Dirnen. Sie waren sehr betrunken, schienen zufrieden mit sich
selbst und stießen einander zum Spaß mit den Ellbogen. Als Zacharias erfuhr,
daß man ihn endlich verheiraten wolle, lachte er so stark, daß es ihn schier
erstickte. Philomene erklärte, sie sehe ihn lieber lachen als weinen. Da kein
Sessel mehr frei war, überließ Bouteloup die Hälfte des seinen Levaque; dieser
ließ plötzlich, gerührt durch den Anblick der versammelten Familie, noch einmal
Bier auffahren.
»Man vergnügt sich doch nicht alle Tage, was?!« schrie er.
Sie blieben bis zehn Uhr da. Es kamen noch immer Weiber hinzu, um ihre Männer
heimzuführen; den Weibern folgten Scharen von Kindern; und die Mütter taten
sich keinen Zwang mehr an, holten ihre Brüste hervor -- Brüste so lang und blond
wie Hafersäckchen -- und badeten ihre pausbäckigen Kleinen in Milch; die Kinder
aber, mit Bier gefüllt, krochen unter den Tischen herum und entleerten sich
da ohne Scham. Die Bierflut stieg immer höher; die Fässer der Witwe Désir wurden
leer und die Bäuche voll; das Bier floß von überall, aus der Nase, aus den Augen
und von anderwärts. Die Leute schwollen dermaßen an, wie sie in einem Haufen
beisammen saßen, daß jeder mit einer Schulter oder einem Knie an den Nachbar
stieß, und alle waren lustig und guter Dinge, weil sie sich so eng beisammen
fühlten. Die Mäuler standen in unaufhörlichem Gelächter bis an die Ohren offen.
Es war heiß wie in einem Backofen; man ward schier gesotten und machte es sich
bequem; die entblößten Glieder erhielten in dem Tabaksqualm einen Goldschimmer;
die einzige Unbehaglichkeit war, daß man sich zuweilen stören mußte; von Zeit
zu Zeit erhob sich ein Mädchen, ging in den Hof, hockte neben dem Brunnen nieder,
hob die Röcke auf und kam dann wieder zurück. Die Tänzer unter den Gewinden
von Buntpapier sahen einander nicht mehr, so sehr schwitzten sie; das ermutigte
die Kohlenburschen, die Schlepperinnen umzuwerfen, wenn man im Gewühl des Tanzes
zufällig zusammenstieß. Wenn eine solche Dirne hinfiel und ein Mann auf sie,
dann deckte die Pickelflöte den Fall mit ihrem überlauten Quieken, und sie wurden
von den stampfenden Füßen fortgewälzt, als wenn der ganze Ballsaal über sie
eingestürzt sei.
Jemand sagte im Vorübergehen Pierron, daß seine Tochter Lydia vor der Tür quer
auf dem Straßenpflaster liegend schlafe. Sie hatte ihren Teil aus der gestohlenen
Schnapsflasche getrunken und war jetzt berauscht; er mußte sie an seinem Halse
heimtragen, während Johannes und Bebert, die noch fester auf den Beinen waren
und die Sache sehr drollig fanden, ihm von ferne folgten. Es war das Zeichen
zum Aufbruch; ganze Familien verließen die Schenke »zur Gemütlichkeit«; auch
die Familien Maheu und Levaque entschlossen sich, nach dem Dorfe heimzukehren.
In diesem Augenblicke verließen auch Vater Bonnemort und der alte Mouque Montsou
bedächtigen Schrittes, in ihre Erinnerungen still versunken. So kehrten denn
alle zusammen heim; man durchschritt noch einmal das Marktgewühl mit seinen
Bratöfen, in denen die Kartoffeln
erstarrten, seinen Schenken, wo der Inhalt der letzten Schoppen bis auf die
Straße hinausrann. Noch immer drohte das Gewitter; die Lustigkeit stieg höher
und höher, als man die letzten beleuchteten Häuser des Dorfes hinter sich hatte
und sich in der finsteren Landstraße verlor. Ein heißer Hauch strich über das
reife Getreide hin; in jener Nacht sind viele Kinder gemacht worden. In regellosen
Scharen langte man im Arbeiterdorfe an. Weder die Levaque noch die Maheu hatten
eine rechte Eßlust zum Nachtmahl; sie schliefen schon, während sie den vom Mittagessen
gebliebenen Rest vom Rindfleisch aßen.
Etienne hatte Chaval weggeführt, um bei Rasseneur noch eins zu trinken.
»Ich bin dabei«, sagte Chaval. als der junge Mann ihm die Angelegenheit der
Unterstützungskasse erklärt hatte. »Schlag ein, du bist ein wackerer Junge.«
Etiennes Augen flammten jetzt in einem beginnenden Rausche auf.
»Ja, wir wollen einig sein«, rief er. »Gerechtigkeit über alles; dafür gebe
ich den Wein und die Weiber hin. Eine Sache ist's, die mir das Herz warm macht:
der Gedanke, daß wir die Spießbürger alsbald hinwegfegen werden.« (...)
(aus dem "Germinal" von Emile Zola) Buch bei amazon.de bestellen