Denis Diderot (1713-1784) | ![]() |
"Ceci
n'est pas un conte"
Denis Diderot wurde am 5. Oktober
1713 in Langres in der Champagne als Sohn eines Messerschmieds geboren. Der
hochbegabte Bursche erhielt zunächst als Jesuitenschüler eine umfassende
Ausbildung, studierte dann in Paris und schlug schließlich anders als
von seinem Vater und den Jesuiten
geplant einen unabhängigen Weg ein. In den ersten Jahren lebte er sehr
bescheiden als Schreiber, Übersetzer und Privatlehrer, ab den Vierziger
Jahren trat er zunächst mit der Herausgabe von Übersetzungen englischer
Bücher und im Weiteren auch mit ersten eigenen Schriften an die Öffentlichkeit.
Diese durchleuchteten die großen Fragen der Zeit im Geiste der Aufklärung
und mit einem Selbstbewusstsein, welches der Vernunft wie den grundlegenden
menschlichen Emotionen gleichermaßen vertraute, kritisierten dabei besonders
scharf kirchlichen Machtmissbrauch und religiöse Schablonenhaftigkeit und
stießen dergestalt sofort auf erbitterte Gegnerschaft.
Diderots 1746 erschienene
"Filosofische Gedanken" wurden durch Parlamentsbeschluss verboten
und - soweit sie gedruckt vorlagen - verbrannt. Beim 1749 erschienenen "Brief
über die Blinden" erreichte Diderots Konflikt mit der Obrigkeit seinen
Höhepunkt; der Schriftsteller wurde drei Monate inhaftiert, war kurze Zeit
in völligem Unwissen über seine Zukunft inklusive ob er noch eine
hatte, vermochte aber immerhin die "Apologie des Sokrates" von Plato,
die er dann auch mit einer selbsthergestellten Tinktur ins Französische
übersetzte, und John Miltons "Verlorenes Paradies" mit ins Gefängnis
zu schmuggeln. Auf Grund dieser üblen Erfahrung veröffentlichte Diderot
künftig manche Schriften gar nicht mehr in Frankreich, vieles wurde zunächst
in Deutschland, insbesondere von Lessing und Goethe, rezipiert und fand erst
spät nach Frankreich zurück.
Und wohl deshalb auch wahrte Diderot diese Zurückhaltung,
um sein Hauptwerk, in welches bereits der größte Teil seiner Kraft
ging, nicht zu gefährden: 1747 hatte er zusammen mit Jean Le Rond d'Alembert
die Herausgabe dessen, was das wichtigste Buch der Aufklärung werden sollte,
der Enzyklopädie bzw. mit vollständigem Titel "Encyclopédie ou
dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des metiers, par une société
de gens de lettres" übernommen (und das Projekt vorher wesentlich
mitinitiiert). Bei dieser für das junge, aufstrebende und nach geistiger
Selbstbestimmung verlangende Bürgertum zusammengestellten Enzyklopädie,
basierend auf der englischen Enzyklopädie von Ephraim Chambers, handelte
es sich schlussendlich um ein 28-bändiges Werk, welches zwischen 1751 und
1772 erscheinend das gesamte Wissen der Zeit zusammenfasste und in allgemein
verständlichem Französisch erläuterte, ein bis dahin einmaliges
Unterfangen, das zweieinhalb Jahrzehnte lang mehrere hundert Mitarbeiter in
Anspruch nahm. Und das sich, da die Enzyklopädie bei filosofischen, religiösen,
gesellschaftlichen Themen sowie bei solchen der Staatsform auch Bewertungen
im Geist der Aufklärung vornahm, zu einem dauernden Kampf mit Staat und
Kirche um Gedankenfreiheit gestaltete, allerlei Intrigen, Veröffentlichungsverbote,
den entnervten Rücktritt d'Alemberts, den Bannfluch des Papstes und die
äußerst bösartige antiaufklärerische Komödie "Die
Filosofen" von Palissot zu überstehen hatte und dabei illustrer Interventionen
von Madame de Pompadour bis Voltaire sowie - Diderot in einem Brief an letzteren
- der "Dummheit der Zensoren" bedurfte, um schließlich erfolgreich
beendet werden zu können.
Denis Diderot war beruf(ung)sbedingt ein universal gebildeter und ganzheitlich
denkender Mensch. In sämtliche Gebiete der Wissenschaft eingelesen steuerte
er neben seiner redaktionellen Tätigkeit der Enzyklopädie eigene Artikel
zur Filosofiegeschichte und Technik bei, sprach sich für die verstärkte
Verwendung von Experimenten aus und wirkte auf die Forschung seiner Zeit durch
seine kühnen, aber unvoreingenommenen und einem Gespür für das
Wesentliche entspringenden Spekulationen äußerst befruchtend. Dieselbe
Ausgeglichenheit, Unvoreingenommenheit, ein tiefes Vertrauen in die Zuträglichkeit
der Wahrheit für den Menschen und aus alledem resultierend eine starke Widerstandsfähigkeit
gegen Vorurteile kennzeichnen auch seine filosofischen Schriften, die die Filosofie
der Aufklärung maßgeblich beeinflussten. Im Laufe seines Lebens stand
er die meiste Zeit auf dem Fundament des Materialismus, den er indessen keineswegs
als bindende Ideologie bzw. bindenden Glaubenssatz, sondern als brauchbare Arbeitshypothese
bis zum Finden einer besseren auffasste, und versäumte innerhalb dessen nicht,
auf die einheitliche Herkunft allen Seins und die Komplexität des Erkenntnisprozesses
selbst, auf die ungelösten Rätsel von Wahrnehmung, Empfindung, Urteilskraft
usw. hinzuweisen. In der Politik vertrat Diderot einen dezidiert antikolonialistischen
Standpunkt (in "Nachtrag zu Bougainvilles Reise nach Tahiti"; 1772),
sprach sich gegen das Konzept der Gewaltentrennung von Montesquieu aus und plädierte
für eine starke und einigende Staatsmacht, freilich nicht in Form eines Menschen,
sondern der allen Menschen gemeinsamen Vernunft. Was die Monarchen seiner Zeit
betraf, schwieg er in Frankreich, attackierte den Aufklärerfreund Friedrich
den Großen von Preussen in seiner "Schrift wider einen Tyrannen"
(1770) als in seiner Heuchelei für echten Fortschritt besonders gefährlich
und pflegte regen Briefverkehr mit Zarin Katharina II. von Russland, der in die
Russlandreise der Jahre 73/74 mündete. Katharina ließ sich zu seiner
Enttäuschung zwar nicht auf seine politischen Ideen ein, zahlte ihm aber
immerhin eine lebenslange Rente und kaufte pro forma seine Bibliothek auf. Die
Französische Revolution erlebte er nicht mehr, Denis Diderot starb am 31.
Juli 1784 in Paris.
Zwischen
Diderots theoretischen Schriften (über Filosofie, Wissenschaft, Technik,
zeitgenössische Malerei, Politik usw.) und seinen literarischen Werken besteht
ein fließender Übergang in dem Wunsch, möglichst viele Aspekte
der Wirklichkeit in ein möglichst ganzheitliches Werk einzubeziehen. Seine
im Bürgerstand angesiedelten, um diffizile Moralprobleme kreisenden Theaterstücke
("Der natürliche Sohn" - 1757; "Der Familienvater" - 1758)
sind von ausnehmend pädagogischem Charakter; seine Gedanken über die
Welt sind eingebettet in Romane und Erzählungen, neoplatonische Dialoge (bzw.
ein ständiger Wechsel zwischen Dialog und Prosa), welche die gesellschaftliche
Wirklichkeit, ihre Individuen und vor allem Handlung miteinbeziehen.
Dass er
neben seiner Dialektik auch ein hervorragender, sinnlicher und subtiler Erzähler
war, bewies der angeblich in Geldnöten befindliche Diderot schon 1748 mit
"Die geschwätzigen Kleinode" ("Les
bijoux indiscrets"), einer erotischen Geschichte im Stil von 1001
Nacht: Ein Sultan ist im Besitz eines magischen Ringes, der jedes weibliche Geschlecht,
auf das er ihn richtet, zum Erzählen bringt.
Einen zeitgenössischeren,
durch Käuflichkeit, Bigotterie und Perversionen entarteten Eros zeigt der
in Briefform verfasste Roman "Die Nonne" (1769). Eine junge Frau wird
- häufige Praktik jener Zeit - gegen ihren Willen in ein Kloster gesperrt,
wo sie einen verzweifelten Kampf um ihre Freiheit und Unschuld und damit gegen
den verkommenen Zustand des Klerus, den auch de
Sade kaum schärfer dargestellt hat und wofür das Wort "Unsitten"
eine grobe Verharmlosung wäre, führt.
In "D'Alemberts Traum"
(1769) dient Diderot die Fieberfantasie eines Kranken als Aufhänger, um seine
naturwissenschaftlichen Thesen und Spekulationen (zum Beispiel die Entwicklung
des Denkens aus dem Empfinden) möglichst anschaulich zu machen.
Einen
besonderen Lesegenuss bereitet "Rameaus Neffe" (1774), eine tiefgründige
Satire auf die Gesellschaft seiner Zeit, ihre Typen, Verhaltensweisen, Werte,
Ziele usw. in Form eines angeregten Gesprächs zwischen dem wieder einmal
als Filosof auftretenden Ich-Erzähler und dem Titelhelden, dem Neffen des
berühmten Opernkomponisten Jean-Philippe Rameau,
einem echten Pariser
Original, mit dessen komödiantischer Zerrissenheit Diderot sein
Für und Wider ethischer, ästhetischer, erkenntnistheoretischer und sonstiger
Argumente würzt.
Ein literarisches
Meisterwerk höchster Originalität ist der Roman oder vielmehr Antiroman
"Jacques der Fatalist und sein Herr" (1769). Offiziell stehen die
beiden Titelhelden in dem Verhältnis von Herr und Diener zueinander, tatsächlich
aber handelt es sich eher um eine enge Freundschaftsbeziehung voller Vertraulichkeiten,
kleiner Sticheleien und bedingungsloser gegenseitiger Wahrhaftigkeit. So perfekt
passen Herr und Diener zueinander, dass man die beiden recht gut als zwei Seelen
in Diderots Brust deuten kann, verschieden in Temperament und gesellschaftlichem
Stand, ebenbürtig in Geist und sprachlichem Ausdruck. Gemeinsam reisen
sie durch die Lande, erleben dabei tolle Abenteuer und vertreiben sich die ereignisärmeren
Stunden mit ihrer Lieblingsbeschäftigung: Jacques liebt das Erzählen
über alles, sein Herr das Zuhören. Entsprechend viele Erzählungen,
Liebesgeschichten
in erster Linie, unterbrechen immer wieder die Handlung und tragen im Bündnis
mit unerwarteten, teilweise absurden Verläufen der Geschichten, abrupten
Themen- und Perspektivenwechseln was sie nur können dazu bei, den Leser
zu verunsichern und Tugenden wie Konzentration, Flexibilität und Einfühlungsvermögen
in ihm zu stärken. Neben der Liebe, deren Macht auf bemerkenswerte Weise
dargestellt wird, ist das zweite Hauptthema die (Un-)Gleichheit der Menschen.
Trägt diese in dem Herr-Diener-Paar komische und ironische Züge, so
äußert sie sich umso brutaler in der ungeschminkten Beschreibung
der gesellschaftlichen Wirklichkeit des damaligen Frankreich. Als drittes Hauptthema
ist das filosofische Problem der Willensfreiheit zu nennen bzw., soweit aus
den Gedanken auch das Verhalten abgeleitet wird, die Frage, mit welcher Grundeinstellung
denn dem Leben bestmöglich zu begegnen sei. Jacques, der ein Anhänger
gänzlicher Vorbestimmtheit ist, bringt seinen Herrn, der bei seinem Eintreten
für die Willensfreiheit keine sonderlich gute Figur macht, verbal und durch
Taten mehrmals in arge Bedrängnis, und wiederholt muss der Ich-Erzähler
eingreifen, um Schlimmeres zu verhindern. Überhaupt ergreift der Ich-Erzähler,
ja Diderot häufig selbst das Wort, kommentiert seine Figuren, nimmt Bezug
auf seine eigene Situation als gerade Schreibender, erwähnt Vorfälle
aus seinem eigenen ereignisreichen Leben, kritisiert seine eigenen und anderer
Leute Schriften, wendet sich unmittelbar mit einer Frage an den Leser, regt
ihn dazu an, über die jeweilige Sache selber Überlegungen anzustellen
und ein Urteil zu treffen, nur damit das getroffene Urteil ein paar Seiten weiter
wieder in Frage gestellt werden muss, und lässt en passant noch allerhand
köstlichen Witz, feine Ironie, subtile Charakterzeichnungen und (wohl unvermeidlicherweise)
auch jede Menge enzyklopädisches Material einfließen.
Die langfristige Wirkung des Romans war gewaltig. Die deutschen Klassiker haben
"Jacques der Fatalist und sein Herr" mit ebenso großem Vergnügen
gelesen und aus seinem reichen Ideenschatz geschöpft wie E.T.A.
Hoffmann und James Joyce,
bei den beiden Titelhelden wiederum handelt es sich um direkte Vorgänger
der existenziellen Sadomaso-Paare von Samuel Beckett. Und natürlich ist
"Jacques der Fatalist und sein Herr" bis auf den heutigen Tag (wann
auch immer der ist) lesenswert geblieben; sei es als Zeitdokument, Liebesgeschichtenanthologie,
als in seiner neuartigen Dichte und Vielschichtigkeit einzigartiger Roman, oder
auch als Fantasie eines freien Geistes, der jeder Assoziation, jedem Einfall
nachgehen kann ohne flach und geschmacklos zu werden, weil er immer intensiv
und echt ist, das Leben zu genießen weiß und den Dingen auf den
Grund geht.
(stro)
Und hier finden Sie Texte von Diderot im Original