Heimito von Doderer (1896-1966) | ![]() |
"Jede Revolution ist viel weniger Bauplatz der Zukunft als Auktion der Vergangenheit." (Heimito von Doderer)
Biografisches
Heimito von Doderer (eigentlich Franz
Carl Heimito Ritter von Doderer) darf wohl mit gutem Recht so wie kein Anderer als Urgestein
österreichischer Literatur bezeichnet werden, da er wie
kein anderer Geist und Ungeist seiner Heimat (v.a. Wiens und Ostösterreichs) in
spannende Literatur umzusetzen wusste. Er wurde am 5. September 1896 in Weidlingau/Niederösterreich
als jüngstes von sechs Kindern des Architekten und
Bauunternehmers Wilhelm Ritter von Doderer (1854-1932) und seiner Frau Louise,
geborene von Hügel (1862-1946), geboren und verstarb am 23. Dezember 1966 in Wien an
einem Krebsleiden. Sein Ehrengrab befindet sich am Grinzinger Friedhof in Wien.
Doderer
entstammte einer protestantischen Familie, doch konvertierte er 1940 zum Katholizismus.
Seine 1930 geschlossene erste Ehe mit Gusti Hasterlik (aus jüdischer Familie)
wurde schon 1932 wieder geschieden. 1952 verehelichte er sich ein zweites Mal,
mit Emma Maria Thoma (1896-1984).
In den Ersten Weltkrieg zog Doderer 1915
als Leutnant eines Ulanenregiments, wobei er 1916 in der Schlacht von Olesza/Ostgalizien
in russische Kriegsgefangenschaft geriet. Während seines durch die zeitgeschichtlichen
Umstände erzwungenen Aufenthalts in Sibirien (1916-1920) fasste er den Entschluss
Schriftsteller zu werden. Nach Österreich zurückgekehrt, absolvierte er ein Studium
der Geschichte und Psychologie in Wien und promovierte 1925 zum Dr. phil. Die
Scheidung seiner Ehe stürzte ihn 1932 in eine schwere persönliche Krise, eine
seelische Irritation, die ihn wohl panisch nach Halt suchen ließ, einem Halt,
den er irrigerweise in der Ideologie des Nationalsozialismus zu erblicken meinte,
denn Doderer trat 1933 in die österreichische Nationalsozialistische Partei ein,
einen Ableger der deutschen Nationalsozialistischen Partei des
Adolf Hitler. Seinen Fehler erkennend, distanzierte er sich 1937 vom
Nationalsozialismus und ließ sich auch nach dem 1938 erfolgten Anschluss Österreichs
an das Deutsche Reich nicht mehr als Parteimitglied führen. Vielmehr konvertierte
er ausgerechnet in Zeiten nationalsozialistischer Kriegseuphorie im Jahre 1940
zum Katholizismus, was zu jener Zeit von den neuen Herrschern nicht unbedingt
als opportun erachtet wurde. Den Krieg erlebte Doderer als Hauptmann und geriet
ein zweites Mal in Kriegsgefangenschaft; diesmal in britische.
Sein episches Werk
Doderer, der von seinem aliterarischen
familiären Umfeld in seinen Ambitionen zum Schriftstellerberuf weder ermutig noch
gefördert wurde, der hierfür also mehr Zähigkeit als viele Andere nötig hatte,
hinterließ der Welt ein beachtliches Werk bestehend aus Romanen, Erzählungen,
Kurzprosa, Essays, Lyrik und persönlichen Betrachtungen in Form von Tagebuchnotizen.
Die bekanntesten Werke des Romanciers Doderer sind (das Erscheinungsjahr jeweils
in Klammer beigefügt):
"Die Strudlhofstiege
oder Melzer und die Tiefe der Jahre" (1951)
"Die Dämonen. Nach der Chronik
des Sektionsrates Geyrenhoff" (1956)
"Die Merowinger oder Die totale Familie" (Romangroteske) (1962)
Seine schriftstellerischen Tagebuchnotizen von 1940/1950 veröffentlichte
er 1964 unter dem Titel "Tangenten".
Von seiner weniger bekannten, doch nichtsdestotrotz virtuosen
Kurzprosa,
wären insbesondere "die Lerche" und
"Trethofen" zu erwähnen.
Aus den oben angeführten Jahreszahlen lässt sich übrigens die Tragik des Schriftstellers
Doderer erahnen, erst in fortgeschrittenem Alter, jenseits der Lebensmitte, als
Literat Anerkennung zu finden. Doderer wurde eben, wie schon erwähnt, in dem eher
amusischen Milieu, dem er entstammte, weder gefördert noch ermutigt. Dass er es
letztlich als schon betagter Herr doch noch zu Ruhm und Geltung im Literaturbetrieb
schaffte, durfte er in erster Linie seinem eigenen Sturschädel verdanken.
Für den studierten Historiker Heimito von Doderer war die Kunst des Romanschreibens
bzw. des Erzählens gleichsam Geschichtsschreibung der anderen Art, was sich etwa
in "Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre" verdeutlicht, wo eine Vielzahl von Personen (rund 50 Einzelschicksale)
auf mehrfachen Zeitebenen von 1925 her bis 1910 zurück geschildert werden. Die nach
dem Barockmaler Freiherr Peter von Strudl benannte Altwiener Treppe symbolisiert hierbei das Bindeglied zwischen verfallendem
Großbürgertum und kleinbürgerlichen "Genies in Latenz".
Doderer bezeichnete sein
Großstadtepos in einem Kommentar des Jahres 1951 als "Zentrum der Substanz
meines Schreibens überhaupt". Und der Germanist und Heimitist Wendelin Schmidt-Dengler
schrieb in "Der Standard" vom Freitag, 1. Oktober 1999, (Seite B4 Sonderthema/Beilage
NATIONALRATSWAHL '99) über Doderers "Strudlhofstiege": "Es lehrt epische Gelassenheit,
man kann auf Distanz zu den Dingen gehen, es passt zur Jahreszeit und, vielleicht
ein Trost für kommende Tage, es geht nach einigen Katastrophen knapp gut aus."
Und noch einmal Doderer selbst: "Das Buch zeigt, was alles zum Dasein eines verhältnismäßig
einfachen Menschen gehört. Und welcher langer Hebel - von Konstantinopel bis Wien,
von Budapest bis Buenos Aires - das Leben bedarf und sich bedient und wie vielerlei
Kräfte es daran wendet, um auch nur einen einzigen solchen einfachen Mann durch
die Etappen seines Schicksals zu bewegen." Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
Auch der Roman "Die Dämonen" ist nichts Anderes als die Geschichte
des modernen Wien, verkörpert in einer Vielzahl von Einzelschicksalen, welche
dem Leser großteils bereits aus der "Strudlhofstiege" bekannt sein werden. Auch
in diesem Roman speist sich das Gegenwärtige wieder aus dem Vergangenen; menschliches
Sein ist ein Sein in der Historie. Im Zeitenfluss bewahrt der Mensch seine Identität
durch die Erinnerung an das Vergangene, das in der Gegenwart fortlebt. Das Dämonische
ist der Geist der Revolution, der seine geschichtlich gewordene Identität zu überwinden
trachtet, auf die Zerstörung von Ordnung aus ist. Im Grunde war für den Naturalisten
Doderer in diesem Sinne jegliche Ideologie von dämonischer Wesensart. Und er erachtete
es als einen tendenziösen Grundzug von Ideologie, in Ordnung Chaos einbrechen
zu lassen.
Zum Stil der Doderer'schen Prosa ist nur noch in aller Kürze anzumerken, dass sie
voll der Perlen ist und in ihrer Sprachgewalt keinen Vergleich zu scheuen hat.
Das Wesen der Denkweise ist - wie schon gesagt - historizistisch, woraus eine
schmerzlich empfundene Schicksalsverfallenheit spricht. Der Einzelne steht ich-verloren
in der Geschichte und geht dabei zugrunde, was Doderer mit melancholischer Verhaltenheit
auszudrücken versteht:
"Österreich um die Jahrhundertwende.
Die Zeit fließt langsam
dahin:
Man macht Karriere,
man findet eine Geliebte,
man geht an seiner
Blindheit zugrunde." (Heimito von Doderer, "Die Wasserfälle von
Slunj")
Der Mensch Heimito von Doderer
Doderer selbst frönte
dem zurückgezogenen Lebensstil eines eher ungeselligen Einzelgängers, der sich
jedoch im sozialen Umgang keine Blöße gab. Dies zeigte sich unter Anderen auch
darin, dass er jeden der zahlreich bei ihm einlangenden Leserbriefe eigenhändig
und gewissenhaft beantwortete; eine höfliche Gewohnheit, die ihn zuweilen sehr
belastete.
Der oft gehassten Literaturkritik fühlte er sich gutmütig verbunden. Fehldeutungen
seiner Schriften tolerierte er als immer noch diskutable Interpretationen, wenn
sie nur von hinreichender literarischer Qualität waren.
Der Privatmann Doderer liebte es, seine Zeit mit der Kunst des Bogenschießens zuzubringen,
dem Sport der Einsamen. Ansonsten verstand er sich als ehemaliger Kavallerieoffizier
auf das Reiten und - als geborener Österreicher - auf den Schilauf.
Seinem Wesen nach ein Pedant, war Ordnung für ihn ein fundamentaler Begriff, der sich
in Marotten wie der Verwendung von unterschiedlichen Tintenfarben bei der handschriftlichen
Verfassung von Texten gleich welcher Art äußerte. Sein schrulliges Credo war,
für jede Arbeit eine eigene Farbe zu verwenden. (Zitat: "Jede Arbeit hat seine
Arbeitsfarbe.") Und für jede Farbe hielt sich Doderer eine eigene Füllfeder parat.
Gegenüber den Segnungen des medial-technischen Fortschritts zeigte er sich beharrlich
abhold; so fand weder die noch jugendliche Technologie der Television noch die
ältere der Rundfunkübertragung in seinen Haushalt Eingang. Auch ins Kino ging
er nie, was jedoch seinen Grund in einer gewissen Menschenscheu haben könnte,
zumal Doderer ebenso den Besuch von Theatervorstellungen mied.
Über
seine besonders geartete Neigung zur Gewalt (man denke nur an seine lustvollen
Schilderungen von Wutanfällen und Gewaltexzessen, oder an seinen oftmals rüden
Tonfall), ja geradezu deren erotische Fetischisierung, wurde schon viel spekuliert;
sein Werk gibt auch Anlass dazu. Gemeinhin zählt man - zu Recht oder zu Unrecht?
- Gewalt jedoch nicht zu den zentralen Themen seines Gesamtwerks, welche nach
herrschender Lesart wie folgt anzuführen wären: Wirken des Schicksals ("Fatalogie");
Einbruch des Chaos in das Leben des Einzelnen; Entfesselung des Dämonischen im
Massenzeitalter, wie in seinem Hauptwerk "Die Dämonen" ausgeführt.
Wie auch immer es nun
um seinen literarischen Bezug zum Gewaltthema wirklich bestellt sein mag, für
den Privatmann Doderer dürfte Gewalt keine unbeachtliche Sache gewesen sein. So
soll er - wenn ich mir diese sowieso schon allgemein kolportierte Indiskretion
einmal erlauben darf - als junger Mann vornehmlich nach reiferen Frauen Ausschau
gehalten haben, da er sich von diesen eher jene besondere Bereitschaft zu der
von ihm dem Gerüchte nach bevorzugten sexuellen Praxis erhoffte, die man mit einem
Wort als sadomasochistisch umschreiben könnte, und wobei gegenständlich der Part
des Gewaltempfängers wohl den Gespielinnen zugedacht war. Was das Sexualleben
Doderers betrifft, so kann zumindest seine Obsession für "dicke Damen" als unbestritten
gelten. Helmut Qualtinger erzählte dazu einmal:
"Sterben wollte Heimo auf
eigene Weise. Er sagte mir, ja eigentlich möchte ich enden mit viel schwarzem
Kaffee und viel Frauen, natürlich mit dicken Ärschen." Und aus Doderers Tagebüchern
ist zu dem Thema der Leibeslust zu erlesen, dass Doderer seine persönliche sexuelle
Praxis als für seine psychische Verfassung zerstörerisch empfand, oft unter sexueller
Katerstimmung litt und immerzu um Disziplinierung seines Trieblebens rang.
Dass der Gegensatz "Ordnung/(Einbruch des) Chaos" für ihn eine ständige Bedrängnis
war, versteht sich allein schon aus dem ordnungsliebenden Charakter Doderers.
Die ständige Bedrohung der gewohnten Ordnung durch plötzlich einbrechendes Chaos
mag dem Pedanten, der er fraglos war, ein unglücklicher Bewusstseinsinhalt gewesen
sein. Die wenigen Personen, Freunde und Heimitisten
(wie sich seine Verehrer, in der Ausdrucksweise ein wenig
schleißig, seit jeher mehrheitlich selbst bezeichnen), welche Heimito von Doderer
persönlich näher kannten, beschrieben sein Wesen dann auch als von tiefem Ernst
bestimmt, eine Ernsthaftigkeit, die den Menschen Doderer zuweilen zu einem Ausflug,
oder darf man gar von Ausflucht sprechen (?), in das Groteske veranlasst haben
soll. Ein Wesenszug, der mir auch für sein Gesamtwerk nicht ganz unpassend erscheint,
als eine Poesie des Grotesken. Doderer wurde in der Ausgabe IV/01 der Literaturzeitschrift
"Text+Kritik" als "Virtuose grotesken Fabulierens" bezeichnet. Trefflicher
lässt es sich nicht mehr sagen.
(Bruno)