Vladimir Nabokov (1899-1977): |
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Die
Geschichte einer sexuellen Erniedrigung
"Lolita,
Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele."
Ein vergehender
Mann schwärmt in seinen Erinnerungen ob seines unbändigen Verlangens nach jenem
ungezogenen Gör, das in seinen Armen Lolita war. Unser Mann trägt den sonderbaren
Namen Humbert Humbert und ist ein gelehrter Kosmopolit europäischer Herkunft.
Nachdem sein erster Versuch eine bürgerliche Ehe zu führen - mangels erotischem
Interesse - schon nach wenigen Jahren gescheitert ist, geht er in die Staaten,
wo er, seiner Melancholie wegen, wiederholt psychiatrischer Hilfestellung bedarf.
Während eines Genesungsaufenthalts in der us-amerikanischen Provinz verfällt der
Vierzigjährige dem knospenden Liebreiz eines kaum schon pubertierenden Mädchens
namens Dolores Haze. Ihr Kosename ist Lolita.
Das
Mädchen, ein ungezogener Balg, kokettiert mit der Wolllust des Gelehrten und verführt
ihn in die Wirklichkeit seiner verbotenen Sehnsüchte. Günstige Umstände bringen
es mit sich, dass das Mädchen seine Geliebte wird. Bei Tag ist sie das Kind, dessen
fürsorglichen Vater er mimt, bei Nacht ist sie seine Hure. Ihr Verhältnis zueinander
bleibt negativ und ist bestimmt von gegenseitiger Beherrschung und Knechtung.
Der Preis für ihre Liebesdienste ist seine Erniedrigung zur Witzfigur, anderseits
sie die Sklavin seiner elterlichen Herrschaft ist.
Denn Dolores Haze ist Vollwaise,
und ihr Liebhaber hat sich darum bemüht ihr rechtmäßiger Adoptivvater zu werden.
Die Alternative zu ihrem Dasein als ihres Adoptivvaters Mätresse wäre das Fürsorgeamt
und die Disziplinarschule, lässt sie Humbert wissen und schüchtert das lebenslustige
Mädchen solcherart ein. Ihr gemeinsames Leben ist Flucht und Verstellung, Eifer
und Verzehr. Beide altern rasch, Lolita rascher noch als Humbert, denn sein Begehren
gilt dem Nymphchen, jenem Welpenkörper im Knospenstadium, der nur für wenige Jahre
währt. Ihr stiller Wunsch ist es, seiner sexuellen Despotie zu entrinnen, derweil
er um sein monogames Vorrecht auf ihre sexuelle Hingabe bangt, die ihm durch nichts
gewährt ist als durch ihre Weltverlassenheit. Dolores entwächst zusehends seiner
väterlichen Obhut, reift zum jungen Mädchen heran, das mit hormonberauschten Knaben
ihr Spiel spielt. Ein tragischer Fortlauf zeichnet sich ab, den Humbert irgendwann
durch die Normalisierung ihres Vater-Tochter-Verhältnisses
abzuwenden gedenkt. Denn bald schon wird das Nymphchen
nicht mehr Nymphchen sein und sodann seine Leidenschaft für Lolita versiegen,
erwartet und hofft Humbert. Doch das gemeinsame Schicksal nimmt einen unerwarteten
Verlauf. Lolita wird mehr als nur eine lustvolle Episode im Leben des Humbert
sein. Lolita ist ihm Auferstehung und Untergang in einem. Die erotische Liebe
zur kindlichen Nymphe verwandelt sich in eine unstillbare zerstörerische Leidenschaft,
über welche Humbert jede Kontrolle verlieren wird. Der sexuelle Außenseiter wird
zum gesellschaftlichen Außenseiter.
Als
Nabokovs Roman "Lolita" 1955 bei Olympia Press, Paris, erschien, wallten Emotionen
hoch. Der Autor, ein honoriger Literaturwissenschafter russischer Herkunft, hatte
an ein neuzeitliches Tabu gerührt und mit sympathischem Verständnis die unzüchtige
Neigung seines Romanhelden abgehandelt. Die Wogen der Empörung klatschten über
Nabokov zusammen, und wen wundert es dann noch, dass der Autor sich von seinem
Lolita-Motiv distanzierte und ein rein poetisches Interesse vorspiegelte. Die
Wahl des Lolita-Motivs sei rein zufällig gewesen. Keinesfalls handle es sich um
engagierte Literatur, die etwa bezwecke, das Schutzalter für Mädchen in Frage
zu stellen. In einer nachgereichten Erklärung spricht Nabokov von einem ihn überfallenden
initialen Inspirationsschauer, den er sich vom Halse schaffen musste. "Lolita" sei
die poetische Umsetzung einer Eingebung, derer er sich nicht mehr erwehren konnte.
Nabokov beendete im Frühjahr 1954 die Reinschrift zu "Lolita". Da er sich der Brisanz
des Themas sehr wohl bewusst war, beabsichtigte er zuerst, dass das Buch anonym
erscheine. Da jedoch eine Tarnung Verrat an der eigenen Sache gewesen wäre, fasste
Nabokov den Entschluss, "Lolita" mit vollem Namen zu signieren. Die vier
us-amerikanischen
Verleger, denen in der Folge das Manuskript nacheinander angeboten wurde und deren
Lektoren einen Blick hineinwarfen, waren von "Lolita" in einem Maße schockiert,
wie es niemand im Freundeskreis des Autors erwartet hatte. Einer der Verleger
meinte gar, wenn er "Lolita" drucke, kämen er und der Autor ins Gefängnis. Ein anderer
Verleger bedauerte zudem, der zweite Teil sei zu lang geraten, was meines Erachtens
zutreffend ist. Mehr dazu später. Jedenfalls ist der Roman einer tragischen Erniedrigung
- für mich ist Humbert eine Figur, die ihrer Würde verlustig geht - mittlerweile
zu Weltruhm gelangt und wurde zweifach verfilmt.
Die Verfilmungen reichen
nicht annähernd an das große Opus heran, was wohl an dem schwierigen Thema liegt,
dem sich filmisch anzunähern auch in liberaleren Zeiten ein unmöglicher, weil
sich selbst verstümmelnder, Balanceakt bleibt. Auch in der heutigen Sprachregelung
ist Humbert Humbert ein Kinderschänder, den es zu richten gilt. Seine sexuelle
Neigung gilt als psychisch abnorm. Wenn Humbert seine ihm peinlich bewusste Neigung
zu Kindmädchen mit Beginn des Textes verständlich und begreifbar macht, wenn er
die versagende Sittenordnung der Gegenwartsgesellschaft mit diesbezüglich entschieden
großzügigeren Einstellungen früherer Generationen vergleicht, und, wenn er auf
eine Klausel des römischen Rechts hinweist, nach der ein Mädchen mit zwölf Jahren
heiraten darf, so gerät der Schöpfer des Humbert in Verdacht, ein politisch unkorrektes
Plädoyer für eine lockere Handhabung der Sitten zu führen. Nabokov hat diesen
Verdacht von sich gewiesen. Doch musste er nicht auch so tun? Kann es sein, dass
Nabokov den bloßen Dichter markierte, um sich ein Übermaß an Gezänk und persönlichen
Anfeindungen zu ersparen?
Vladimir
Nabokov ist ein Virtuose der Sprachbeherrschung. Die Übersetzung ins Deutsche
tut dem keinen Abbruch. Die Erniedrigung des Humbert Humbert wird humorvoll in
Szene gesetzt. Tatsächlich ist "Lolita" ein sehr amüsanter Text, der den Leser immerzu
schmunzeln macht. Schon der sonderbare Doppelname bezeichnet den Gelehrten als
Witzfigur, deren tragisches Schicksal von der heiteren Seite betrachtet wird.
Die ersten zweihundertdreißig Seiten lesen sich flott. Dann beschleicht einen
der Verdacht, der Autor hätte zur gerafften Handlung zu viele Seiten geschrieben.
Die Handlung dehnt sich im zweiten Teil, und auf viel zu vielen Seiten geschieht
viel zu wenig. Natürlich, die gewaltige poetische Kraft des Nabokov lässt auch
noch das Überflüssige lesenswert erscheinen, allein der Spannung tut es nicht
gut. Mancher Leser mag dieser handlungsarmen Gleitstrecken überdrüssig geworden
sein und hat das Buch dann nicht zu Ende gelesen. Bei dieser Gelegenheit sei deswegen
der Frevel empfohlen, zur Not die eine oder andere Seite zu überspringen. Es ist
keine Schande, ein Buch nicht ganz gelesen zu haben. Denn der allzu geschwätzige
Autor nötigt seine Leser. Und der genötigte Leser darf sich wehren.
Nicht
zuletzt wegen der beiden Verfilmungen wurde "Lolita" zum Allgemeinbegriff eines
interessierten Publikums und zu einem umgangssprachlichen Synonym für kokette
Mädchen. Der Romantext selbst ist eher unbekannt und fehlt in den meisten Heimbibliotheken.
Es ist auch keine Schande, "Lolita" nicht gelesen zu haben. Dennoch, das literarische
Wagnis des Vladimir Nabokov sollten Sie zu Lebzeiten einmal gekostet haben, weshalb
ich Ihnen diesen Roman einer erotischen Erniedrigung wärmstens empfehlen möchte.
Folgen Sie meiner Empfehlung! Sie werden es nicht bereuen. Diese Geschichte gefällt
und erheitert Sie ganz gewiss. Vorausgesetzt, Ihr moralisches Empfinden lässt
sich auf die Sache ein.
(haschu)
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... hier eine weitere Stellungnahme zu "Lolita", von Viktor Jerofejew