Henry David Thoreau: "Walden" |
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Aus dem vertrauten Lebenslauf
aussteigen und solcherart alle gesellschaftsbedingte Entfremdung vom eigenen Selbst
zu überwinden, ist ein alter Menschheitstraum, welcher sich immer schon aus kritischen
Bemerkungen zur jeweiligen Gesellschaftsrealität und ihren Entfremdungsmechanismen
speist. Die Suche nach neuen Welten und Lebensformen und den damit verbundenen
Neuerschließungen von Lebenschancen mag wohl auch einer der Beweggründe gewesen
sein, welcher zur Besiedelung Amerikas mit allen seinen für die Rest- und Nachwelt
so bedeutsamen und kritischen Folgen führte und in eben diesem Land des Pioniergeistes
bis heute in gewisser Weise zum Traditionsbestand us-amerikanischer Lebenskultur
gehört.
Nicht zuletzt hat die von US-Amerika auf die
hochindustrialisierten Nationen überschwappende Ökologiebewegung ihre Wurzeln
in den Visionen und der Praxis naturnaher Lebensweisen, die für eine Minderheit
der US-Amerikaner nach wie vor wirklich sind.
Ein frühes wie
ebenso klassisches Beispiel für us-amerikanische Aussteigerkultur ist das von Henry
David Thoreau verfasste Buch "Walden - Ein Leben mit der Natur", welches spätestens
seit der Bauch- und Kopfrevolte von 1968 auch bei uns in Europa zum Kultbuch einer
ganzen "Aussteiger-Generation" avanciert ist.
Henry David Thoreau, Essayist, Philosoph, Transzendentalist,
wurde am 12. Juli 1817 in Concord / Massachusetts (USA) als drittes Kind eines
kleinbürgerlichen Geschäftsmanns geboren. Nach dem Studium an der Harvard University
(1833-1837) ergriff Thoreau den Beruf des Schullehrers, gab seine Stellung jedoch
schon nach nur zwei Wochen aus Protest gegen die zu seiner Zeit üblichen "absurden
und unangemessen strengen Disziplinierungsmaßnahmen (u.a. die Prügelstrafe)"
auf, um in der Folge gemeinsam mit seinem Bruder John eine kleine Privatschule
zu gründen, mittels derer er seine progressiven pädagogischen Ideen umzusetzen
hoffte. Eindrückliche Naturerfahrungen, insbesondere eine Kanufahrt im September
1839 entlang der Flüsse Concord und Merrimack, brachten ihm die Selbsterkenntnis,
dass er nicht zum Pädagogen, sondern zum Naturpoeten berufen sei. 1845 begann
er sein zweijähriges Selbstexperiment am Waldensee, über welches er nach wiederholten
eingehenden Fragen zu seinen Erfahrungen mit einer naturnahen Lebensweise gegenständliches
Buch mit dem Titel "Walden" verfasste. Henry Thoreau war ein unbeugsamer Geist,
der sein Leben in den Dienst seiner ethischen Überzeugungen stellte, etwa indem
er sich vehement für das Recht auf zivilen Ungehorsam und für die Abschaffung
der Sklaverei
einsetzte.
Thoreaus
ökozentrisches Denken verstand sich als visionärer Protest gegen ein Leben der
Selbstentfremdung im beginnenden Industriezeitalter. Unter Rückgriff auf Traditionen
der Romantik anerkannte er in erster Linie die Natur als Orientierungsinstanz,
hingegen er gesellschaftlichen Konventionen abweisend gegenüberstand. Vielmehr,
gesellschaftlichen Tendenzen der Vermassung trat er mit der dezidierten Forderung
nach Extravaganz entgegen, die sich etwa als Wunsch nach Unverständlichkeit im
schriftlichen Ausdruck äußerte, zumal auch die Geschöpfe der Natur nicht nach
nur einer genormten Verständigungsmethode funktionieren und - so meinte Thoreau:
"Die flüchtige Wahrheit unserer Worte sollte stets die Unzulänglichkeit der Aussage
durchblicken lassen." Über seine Kritik an den seiner Meinung nach imperialistischen
Zielen des Mexikanischen Krieges (1845) sowie der Haltung der Vereinigten Staaten
von Amerika in der Sklavenfrage gelangte Thoreau zu einer zunehmend staatsfeindlichen Grundhaltung,
welche ihren Niederschlag in der Prosaschrift mit dem Titel Civil Disobedience
("Ziviler Ungehorsam"; später veröffentlicht als "Über die Pflicht zum Ungehorsam
gegen den Staat") fand, die bis heute als klassisches Manifest des gewaltfreien
Widerstands gilt und Denken wie Praxis von gewaltfreien Sozialreformern wie Leo
Tolstoi, Mahatma Ghandi und
Martin Luther King
wie auch die Resistance gegen Hitler-Deutschland
inspirierte.
Am 6. Mai 1862 starb Thoreau an Lungentuberkulose. Es wäre eine unzulässige
Vereinfachung "Walden" einfach nur als Erfahrungsbericht über eine selbstexperimentelle
Zeit am Rande der Zivilisation zu verkennen, als ein quasi romantisierendes "Zurück
zur Natur", ergänzt durch eine Fülle von zeitkritischen und philosophischen Reflexionen,
deren oft nonkonformistischer Gehalt den Leser zwar in intellektuelles Erstaunen
zu versetzen mag, darüber hinaus den gewohnten Lebenslauf jedoch nicht weiter
irritieren wird.
Thoreaus Kritik wendet sich direkt
gegen den Geist puritanischer Arbeitsethik, der nach Meinung des Soziologen Max
Weber als Ausdruck innerweltlicher Askese der Entstehung kapitalistischer
Verhältnisse so richtig förderlich war. "Warum müssen sie, kaum zur Welt gekommen,
damit beginnen, an ihrem Grab zu schaufeln, wo sie doch nichts als ein Menschenleben
vor sich haben, um, so gut es geht, mit allem fertig zu werden?", beklagt Thoreau
in seinem ersten Kapitel über die "Ökonomie des Lebens" und erinnert an die uralte
Erkenntnis, dass alle angesammelten Schätze dieser Erde irgendwann doch von Motten
und Rost zerfressen oder von Dieben gestohlen werden. Reichtum macht unfrei und
unglücklich: "Ich kenne unter meinen Landsleuten junge Männer, die das Unglück
hatten, eine Farm zu erben ...", und zerstört des Menschen Leben: "Wie vielen
armen unsterblichen Seelen bin ich nicht auf der Straße des Lebens begegnet, die
sich keuchend und stöhnend unter ihrer Last hinschleppten, ...". Wenn sich Thoreau
aus dieser Welt der Verleugnung von Lebensbedürfnissen in sein einfaches Blockhaus
am Waldensee zurückzieht, um ein Leben als Einzelner im Einklang mit den Gesetzen
der Natur zu erproben, so bedeutet dies nicht einfach nur panische Weltflucht,
sondern vielmehr die Verweigerung von Konformität mit den Ansprüchen und Exzessen
einer totalitär wirksamen Lebensweise unter kapitalistischen Verhältnissen, die
den Menschen zum uniformen Produktionsfaktor verkümmert und ... - ich ergänze
für unsere weniger puritanischen Zeitgenossen: ... an Stelle von selbstbescheidener
Bedürfnisorientierung blindwütigen Konsumrausch setzt.
Die scheinbare Geste des Zurück- und Ausweichens versteht sich
bei genauerer Betrachtung ganz zweifellos als scharfe Protesthaltung, als gelebter
Widerspruch zur vorherrschenden Lebenspraxis, denn keinesfalls beabsichtigte
Thoreau sich den Umstieg in ein zurückgezogenes und freudloses Einsiedlerleben
zum Lebensprogramm zu machen. Thoreau war Kulturmensch, der es als Aristokrat
des Geistes liebte, klassische Literatur von Homer über
Dante bis zu Shakespeare in der Sprache der Verfasser zu lesen, der sich
als bewusster Citoyen in das politische Geschehen seiner Zeit kämpferisch einbrachte
und darüber hinaus durchaus die Errungenschaften menschlicher Zivilisation -
wie auch das Wilde und Bestialische - zu schätzen wusste. In den Nachbetrachtungen
zu "Walden" stellt der Autor deswegen klar, dass seine Absicht eben
nicht die Erschließung eines alternativen - konkurrierenden - Lebenskonzepts
gewesen sei, sondern dass es sich um ein Experiment gehandelt habe, im Sinne
der Verprobung eines sich selbst verordneten Milieuwechsels auf Zeit.
Es wäre sicher
vermessen, von Thoreaus radikalem Selbstexperiment gesellschaftlicher Versagung
Handlungsanleitungen für einen breit angelegten politischen Aktionismus ableiten
zu wollen. Und allein schon die Vorstellung mittels Verlegung von Wohnsitzen in
abgelegene Waldblockhütten die Welt verbessern zu wollen, berührt peinlich und
wäre an Skurrilität kaum noch zu übertreffen und ganz gewiss nicht in Entsprechung
mit der Intention des Verfassers von "Walden". Hat doch selbst Thoreau der (für
das utopienverliebte 19. Jahrhundert nicht untypischen) Versuchung widerstanden
sich zum Propagandisten einer, auf Regeln der Selbstbeschränkung basierenden,
autonomistischen Gegenkultur zu stilisieren, wie es nach ihm ein Leo
Tolstoj in der Tat versuchte und - es war abzusehen - daran scheiterte. Die
alte philosophische Aufforderung des "Erkenne dich selbst" und die Wahrung von
Extravaganz unter selbstentfremdenden Gesellschaftsverhältnissen war dem jungen
Mann aus Massachusetts Anreiz für ein Experiment, das er abbrach, als es ihn nach
neuen Erfahrungen gelüstete. Faszinierend an der Person Thoreaus ist und bleibt
die keine Konsequenz scheuende Beharrlichkeit, mit der er seinen Weg gegangen ist
und welche schon einen Mahatma Gandhi bewegt haben soll, Thoreaus Schrift über
den zivilen Ungehorsam bei seinen häufigen Gefängnisaufenthalten
als mentales Stärkungsmittel mit sich zu tragen.
(Harald Schulz)
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