rezensiert von Thomas Harbach
Mit seinen Comics insbesondere um „1602“ und „Sandman“ hat er Geschichte geschrieben. Mit seinen sehr unterschiedlichen Romanen erobert er die Bestsellerlisten. Sein erster Roman „Nevermore“ ist fürs britische Fernsehen unterschätzt verfilmt worden, „Stardust“ kommt dieser Tage ins Kino. Mit „American Gods“ hat er auf verblüffende Weise eine dem Leser vertraute Welt erschaffen, in welcher antike Götter unter den Normalmenschen leben. Auf dem Erfolg dieses Buches aufbauend ist nun „Anansi Boys“ erschienen, eine Geschichte, in der sich alles um den den ägyptischen Mythen entstammenden Spinnengott Anansi und seine Söhne geht. Aber nicht nur um Gottheiten, sondern in erster Linie auf ein fast profanes Thema wie Familie. Nicht zum ersten Mal, denn die besten Geschichten seiner „Sandman“ Comicserie drehte sich um die Unendlichen und ihre Familienbeziehungen. Natürlich st es nicht leicht, über eine perfekte Familie zu schreiben. Jede Familie ist anders. Wie eine komplizierte Maschine, nach einem Bauplan, der entweder perfekt funktioniert – mit kleinen Macken, die leicht repariert werden können – oder eine Montagsproduktion gebiert, die niemals wirklich zum Laufen kommt. Die Regeln sind entweder per Zufall ausgewählt oder unergründlich, eine goldene Mitte scheint es nicht zu geben. Das einzige auf den ersten Blick profane Gesetz einer funktionieren Familie ist Verständnis. Verständnis der Eltern für die Jugend, die oft ihr vergessenes Spiegelbild darstellt und Verständnis der Kinder – das muss allerdings reifen – für die behütenden Eltern. Zu diesen inneren Beziehungen kommt das äußere Wechselspiel. Jede Familie – egal ob perfekt oder schmuddelig – sieht von außen verrückt oder wie die Engländer sagen „weird“ aus. Die Addams Family im Westentaschenformat lässt grüßen. Trotz oder wegen aller möglichen Differenzen allerdings sind Romane, die sich um außergewöhnliche Familien drehen, immer von einem besonderen Flair durchzogen. In seinem neusten Buch untersucht Gaiman die komplexen Beziehungen einer Familie, dessen Vater ein Gott ist. Die innere Magie wird mehr und mehr zum Bestandteil ihres Familienlebens, erst im Verlaufe des Romans erkennt der Leser, dass Neil Gaiman zwar überzeichnet, aber mit viel Wärme das Bild einer jeden Familie zeichnen könnte. Sind die Unterschiede zwischen Göttern und ihren Kinder genauso klein oder groß wie zwischen Vätern und Söhnen, Müttern und Töchtern? Neil Gaiman gelingt es, diese Thematik mit einer leichten Hand – sehr geschickt variiert er verschiedene Erzählstile, ist sich auch nicht schade, auf das Klischee einer überdrehten und im Kern nicht logischen Krimihandlung zurückzugreifen, um ernsthaft und doch magisch verspielt ein Meisterwerkung der Illusion und überraschend emotionaler Tiefe zu erschaffen. Mutig verbindet er Elemente der Slapstickkomödie mit erstaunlich ergreifenden Szenen. Schon zu Beginn besucht der seit Jahren verschollene Ehemann mit einer Jazzkapelle seine krebskranke Ehefrau auf der Intensivstation des Krankenhaus, blamiert seinen Sohn, heitert seine Ehefrau auf, bricht alle Regeln und gibt ihr die Kraft, sich noch einen letzten Wunsch zu erfüllen. Der Leser kann den Schalk in Neil Gaimans Augen förmlich zu sehen, einen Augenblick später beendet er das Kapital auf einer traurigen und doch realistischen Note. Solchen Szenen fehlt der Pathos, der Kitsch der amerikanischen Unterhaltungsliteratur, hier nähert sich Gaiman Autoren wie Nick Hornby an, um wenige Seiten weiter wieder in seine phantastische Mythenwelt zu entfliehen und die Geschichten von Spinnengöttern zu erzählen.
Das Buch beginnt konservativ. Fat Charlie ist nicht dick. Dennoch nennt man ihn „Fat Charlie“, denn sein Vater hat ihm diesen Spitznamen gegeben und die Namen, die sich Mr. Nancy ausdenkt, bleiben an einem haften. Mit seiner Verlobten Rosie plant er die anstehende Hochzeit. Sie drängt ihn, auch seinen Vater einzuladen, obwohl er schon mehrere Jahre keinen Kontakt mehr zu ihm hatte und ihn eigentlich einfach nur peinlich findet. So gibt er nach, muss aber zu seinem Erstaunen erfahren, dass Mr. Nancy tot ist. Und selbst im Sterben ist es ihm noch gelungen, peinlich zu sein. In einer Karaoke-Bar ist er zusammengebrochen, als er gerade „I am what I am“ anstimmen wollte. Dabei ist er auf die blondeste Blondine unter den jungen Touristinnen gestürzt und hat ihr sogar das Oberteil vom Leib gerissen. Fat Charlie fährt zu der Beerdigung seines Vaters, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Nach der Zeremonie erfährt er von der etwas verschrobenen Nachbarin, dass sein Vater ein Gott war. Genau genommen war er der Spinnengott Anansi. Und das ist noch nicht alles, sie behauptet sogar, dass Fat Charlie einen Bruder hat. Und spätestens, als sie behauptet, dass er nur einer beliebigen Spinne sagen müsste, dass er seinen Bruder treffen will, damit dieser erscheint, glaubt er ihr kein Wort mehr. Trotzdem kann er sich einige Tage danach nicht zurückhalten und gibt der Spinne, die er für Rosie aus der Badewanne geholt hat, eine Nachricht mit auf den Weg. Es waren nur ein paar alberne Worte, die er selbst kaum ernst genommen hatte, aber zu seinem Erstaunen haben sie funktioniert. Sein Bruder steht in der Türe und stellt sich als Spider vor.
Spider ist völlig anders als Fat Charlie. Es stellt sich heraus, dass er alle göttlichen Eigenschaften von Anansi geerbt haben muss, denn er kann kleine und größere Wunder vollbringen. Was er den Menschen sagt, glauben sie ihm, egal, ob es stimmt oder nicht. Und so gelingt es ihm innerhalb kürzester Zeit, Fat Charlies Leben total auf den Kopf zu stellen. Er spannt ihm Rosie aus, nistet sich in seiner Wohnung ein und sorgt dafür, dass sein Bruder wegen Unterschlagung fälschlicherweise verfolgt wird. Fat Charlie will nur eins: ihn um jeden Preis wieder loswerden. Und so scheut er sich nicht, noch einmal die alte Nachbarin seines Vaters aufzusuchen und mit ihrer Hilfe göttliche Wege zu beschreiten, von denen er bisher noch nicht einmal ahnte, dass es sie gibt.
Neil Gaimans grundlegende Geschichte ist simpel, nicht unbedingt originell – Sohn hasst seinen Vater, lernt auf der Beerdigung seinen bislang unbekannten Bruder kennen, der alles hat, was ihm fehlt, Bruder nistet sich in seinem langweiligen Leben ein, über diese Schiene lernt der Sohn nicht nur seinen Vater zu verstehen, sondern das Leben zu leben – und insbesondere gegen Ende des Buches unnötig komplex bis unlogisch konzipiert. So wirkt die ganze Krimihandlung unrealistisch und an den Haaren herbeigezogen, aus dem unterschlagenen Chef wird plötzlich ein wahnsinniger Massenmörder, der sich nach den englischen Nebeln auf seiner Karibikinsel zurücksehnt. Insbesondere diese Nebenfiguren wirken wie mit einem Lineal konzipiert, ihnen fehlt die Dreidimensionalität, welche die Protagonisten so einzigartig in diesem Buch auszeichnet. Der Roman lebt in erster Linie von seinen kleinen Episoden, die Gaiman mit einem ernsthaften Gesicht erzählen lässt. Dabei sitzt ihm der Schalk im Nacken. Wie ein charmanter Aufschneider erkämpft er sich seinen Platz im Herzen der Leser, steht seiner Schöpfung – Anansi hat nicht umsonst in der ägyptischen Mythologie den Ruf, ein verschlagener Trickser zu sein – auf ihrem Weg durch ein graues England zur Seite und hinterlässt ihm Leser eine einfache Botschaft. Liebe das Leben und liebe Deinen nächsten.
Gaiman wechselt zwischen den einzelnen Genres sehr übergangslos hin und her. Von klassischer Crime Fiction bis zur karibischen Romanze ist alles vorhanden. Wie in seinen „Sandman“ Geschichten ist die Unvorhersehbarkeit sein bestechendes Merkmal. Dabei simplifiziert er seine komplexen Handlungsstrukturen – Rückblenden, Vorgriffe, fiktive Nebenhandlungen – auf das Notwendigste. Im Grunde will Charlie nur das Mädchen heiraten, das er aus seiner Sicht abgöttisch liebt. Dabei hat er wahre Liebe bislang noch nicht kennen gelernt. Nicht unbedingt aus Boshaftigkeit, sondern nur durch ihre Anwesenheit erschweren sein verstorbener, aber präsenter Vater, sein Bruder und schließlich die schrägen Freunde der Familie das Vorhaben. Gaiman lässt seinen Protagonisten schließlich selbst erkennen, auf welchem falschen Weg er gewandelt ist. Dieser innere Reifeprozess findet seinen Katalysator in den übernatürlichen Ereignissen, auf der emotionalen Ebene bleiben Gaimans Figuren allerdings Menschen – unabhängig davon, ob sie in früheren Leben einmal Spinnengötter, Hexen oder Magier gewesen sind. Darin liegt auch die Stärke dieses sehr unterhaltsam geschriebenen Buches.
Wie alle Romane von Neil Gaiman zeichnet sich auch sein neuestes Werk durch einen ausgesprochen eigenwilligen Humor aus. Schon nach den ersten Seiten ist man von seinem unverkennbaren Stil gefesselt. An vielen Stellen wird der Leser unbewusst lächeln, andere laden zum befreiten Lachen ein. Obwohl Neil Gaimans Markenzeichen der schwarze, typisch britische Humor ist, zeigt er im vorliegenden Buch das gesamte Spektrum. Gaiman liebt die skurrile Welt, die er geschaffen hat, hat ein besonderes Verhältnis zu diesen Charakteren und lässt es den Leser spüren. Manchmal konzentriert er sich zu sehr gut die einzelnen Figuren und weniger auf die Handlung, diese leidet – wie öfter in seinem Werk festzustellen – unter den unkontrollierbaren und unkontrollierten Ideen des Autoren, auf der anderen Seite zeigt er eine ungewöhnliche Disziplin im Mittelteil der Geschichte. Gaiman ist sich inzwischen bewusst, worauf es beim Schreiben von Romanen ankommt – „American Gods“ lässt sich rückblickend als Transferroman charakterisieren, in welchem die comicartige Erzählstruktur noch überwogen hat – und zeigt seine Stärken. Weiterhin arbeitet er an seinen Schwächen, in diesem Fall die fast kitschige Grundhandlung.
Für Gaiman ist „Anansi Boys“ sein „Horror-Thriller-Geister-Romantik-Comedy-Familien-Epos“. Mit dieser umfassenden Charakterisierung trifft er sehr genau alle Fassetten der Geschichte. Die fantastischen Erscheinungsbilder der Götter und ihrer Handlungen oft in Form kleiner Episoden hat er extrem plastisch dargestellt und der Humor in den Dialogen gehört schon seit vielen Jahren zu seinen herausragenden Stärken. Auch wenn sie manchmal Weisheiten am Fließband von sich geben, wirken die Gespräche natürlich und unaufdringlich. Selbst in der deutschen Übersetzung kann der Leser noch Gaimans Stimme vernehmen.
Die Charaktere sind detailreich ausgearbeitet, doch Fat Charlie wächst einem im Laufe der Handlung einfach am meisten ans Herz. Von einem etwas trotteligen, durchschnittlichen Büroangestellten entwickelt er sich immer weiter zu einem wahren Gottessohn. Doch hinter einer humorvollen Fassade verstecken sich auch ernst gemeinte Anspielungen auf unsere Gesellschaft und auf zwischenmenschliche Beziehungen. Oft sind sie übersteigert dargestellt, enthalten aber kleine wichtige Wahrheiten, die manchmal unangenehm sind, die manchmal wehtuen, die aber elementar sind. Inzwischen sind Neil Gaimans Werke mit dem fortgeschrittenen Alter des Autoren wie ein guter Wein gereift, seine Leserschaft ist auch älter geworden, vielleicht selbst Väter/ Mütter geworden und gemeinsam suchen Autor und Leser jetzt nach der versteckten Quelle für ein ewiges Familienglück. Fat Charlie hat sie für sich gefunden und das ist die einfache, aber ergreifende Botschaft dieses unterhaltsamen Romans.
Neil Gaiman: "Anansi Boys"
Roman, Softcover, 448 Seiten
Heyne Verlag 2007
ISBN 4-4834-5326-5300
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