rezensiert von Thomas Harbach
Mit „Die Ohnmächtigen“ legt die Hobbit Presse des Klett Cotta- Verlages den zweiten Soloroman Boris Strugatzki auf. In der alten UdSSR gehörte die zusammen mit seinem 1991 verstorbenen Bruder Arkadi geschriebenen phantastischen, oft ironischen Geschichten zu Bestsellern. Dabei haben sie sich bemüht, eine gewisse Gesellschaftskritik in ihre wissenschaftlich fundierten Geschichten zu integrieren. Mit dem Zusammenbruch des alten Regimes hat sich auch für Schriftsteller und Wissenschaftler – ihr Hauptberuf – die Welt komplett verändert. „Die Suche nach der Vorherbestimmung“ – ebenfalls von Erik Simon für die Klett Cotta Reihe übersetzt – ist seine erste lange Soloarbeit gewesen, mit dieser Parabel folgt eine Abrechnung mit der Ohnmacht der Intellektuellen in einem postkommunistischen Russland, wie der Klappentext suggeriert. Dabei lässt sich allerdings die eher traditionelle Sichtweise der Strugatzki sehr gut mit den neuen Wilden der russischen phantastischen Literatur vergleichen. Auch ein Sergej Lukianenko integriert kritische Ansätze insbesondere in seine Science Fiction Geschichten, in der „Wächter“ Tetralogie erschafft er ein fiktives Russland zwischen Amerikanismus und Tradition. Diese Welt wirkt in erster Linie durch ihre frische, verzerrte Puzzelstruktur so überzeugend. Wenn zwischen den riesigen Plattenbauten der Cola Automat stet, wirkt dieses Bild überzeugender als seitenlange Exkurse über die Bedeutung des geistiges Gutes in einer Diktatur. Auch wenn Lukianenko Wehmut für die Vergangenheit empfindet, hindert es ihn nicht, seine Bücher für eine ungewisse, aber aufregende Zukunft zu schreiben. Boris Strugatzki geht einen anderen Weg. Zu sehr teilt sich sein Roman in philosophische Exkurse und eine dünne Handlung, aus der man mehr hätte machen können. Es gibt eine Gruppe von Menschen mit ungewöhnlichen Fähigkeiten. Jeder dieser Menschen besitzt eine Gabe. Einer kann Lügen erkennen, ein anderer besitzt das unfehlbare Gedächtnis, es gibt in Sankt Petersburg das Gerücht über einen alten Mann, der fast mit Handauflagen den Lebensweg seiner Mitmenschen verändern kann. Neben der Beherrschung des Insektenreichs und des Tötens mittels Gedanken gibt es noch einen Menschen, der für die Politmafia eine Waffe im Kampf um die Macht vor und hinter den Kulissen des modernen Russlands darstellen kann: Der Meteorologe Wadim hat die Fähigkeit, Massenentscheidungen vorherzusagen. Wie durch ein Fernglas kann er die potentiellen Zukünfte sehen. Gleich zu Beginn des Romans versucht die Politmafia in mittels brachialer Gewalt einzuschüchtern und seine Fähigkeiten kennen zulernen. Anscheinend geht diese über den reinen Beobachterstatus hinaus, denn mit jeder Veränderung in der Gegenwart ändert sich auch seine politische Vorhersage. In Bezug auf Wadims Fähigkeiten macht Boris Strugatzki zu Beginn des Romans klar, dass es sich um eine passive Beobachterrolle handelt. Erst im Verlauf des Buches stellt sich heraus, dass zur Beobachtung auch die Manipulation kommt. Damit wird er zum größten Pfand in den Machtplänen eines gewissen Ajatollah, der ihn mit brachialer Gewalt unterdrückt und die anstehenden Gouverneurswahlen in Sankt Petersburg in eine bestimmte Richtung gelenkt haben möchte. Strugatzki ist als Autor zu erfahren, um diese interessante Prämisse sofort und gänzlich vor dem Leser auszubreiten. Nach einem geradlinigen Schlagabtausch zu Beginn des Buches fächert sich der Handlungsbogen auf. Boris Strugatzki versucht die Entstehung der besonderen Menschengruppen – natürlich aus der Stalinzeit und den Menschenexperimenten unter ihrem „Lehrer“ – genauso zu erläutern wie die Bedeutung dieser Außenseiter in einer Gesellschaft, deren Kontrolle durch die Verbrecherorganisationen sich dem Stand der Sowjetunion des Kommunismus nähert. Diese Ideen muss sich allerdings der Leser aus dem Text heraussagen, Strugatzki bleibt in seiner Kritik zum Teil zum ambivalent und vorsichtig. Im Gegensatz zu den grotesk überzeichneten und handlungstechnisch vor Ideen überfließenden „Wächter“- Romanen wirkt „Die Ohnmächtigen“ eher wie das Manifest eines Intellektuellen für seine Mitstreiter, fundiert geschrieben, aber ohne inneres Feuer. ZU sehr verliebt sich Strugatzki in seine vielen kleinen Ideen, welche die Handlung nicht vorantreiben und den Leser vom zugrunde liegenden roten Faden mehr und mehr ablenken. So möchte dieser die sich gleich zu Beginn zu spitzende Situation zwischen der brutalen Politmafia und Wadim weiterverfolgen, landet aber erst einmal in einem Exkurs über Briefmarken. Die einzige skurrile Idee an dieser Handlungsebene ist die vielleicht sogar historisch belegbare Idee, dass Stalin um Roosevelt ein Geschenk zu machen, Briefmarken russischer Sammler beschlagnahmt hat. Um dem Klassenfeind ein Set komplettes Russland übergeben zu können. Diese guten Ideen finden sich zu selten und zu weit verteilt in der oft ruhig dahinplätschernden Handlung. Nicht selten hat der Leser das Gefühl, als lausche er ungläubig einem guten Freund, der von der „guten“ und schlechten alten Zeit berichtet und eher ungläubig die Veränderungen bestaunt.
Boris Strugatzkis Russland bleibt dem Leser fremd. Das liegt aber nicht nur an seinem Unwillen, von der nicht unbedingt leserfreundlichen Form der Parabel zu meiner griffigeren Geschichte auszuweichen, sondern an dem Missstand, dass er zumindest in diesem Roman an politischer Schärfe und soziologischer Weitsicht verloren hat. Seine Intellektuellen versuchen zwar verzweifelt mit dem Strom zu schwimmen; dem Fluss des ehemaligen Kommunismus, der inzwischen in den breiteren und wilderen Strom des unkontrollierten Kapitalismus gemündet ist, ihnen fehlt aber der Wille, auf diese Änderungen zu reagieren. Dabei rückt auch ein Hauptproblem der Intellektuellen in den Mittelpunkt der Betrachtung. Nur selten haben sie mit ihren Ideen wirklich eine Gesellschaft verändert. Sie haben dazu beigetragen, die entstehenden Wellenbewegungen zu koordinieren und/ oder versucht, mit ihrer Kritik auf Missstände hinzuweisen, aber den Schritt zu einem reinen Pragmatismus haben oder wollten sie nie vollziehen. Nach der Änderung der Situation sind es nicht selten die Intellektuellen, welche die neuen Missstände beklagen, zu deren Entstehung in ihrer Urform sie mit beigetragen haben. Der gewaltige Unterschied zwischen einem theoretischen Elfenbeinturm und einer praktischen Umsetzung wird ihnen erst am eigenen Leibe bewusst. Und in diese Ecke hat sich Strugatzki zumindest phasenweise mit seinem hier vorliegenden Roman auch geschrieben. Es sind ja nicht nur die „Ohnmächtigen“ aus den intellektuellen Schichten, die unter dem wirtschaftlichen Zerfall und politischen Chaos des neuen Russlands leiden, es sind wieder die einfachen Menschen, die Arbeiter, die Alten und Kranken. War die Versorgung schon in den Zeiten der Planwirtschaft mehr Hohn und Spot, so ist sie inzwischen zum Teil auf das Niveau von Entwicklungsländern zurückgefallen. Diese Komponente findet in Strugatzkis Roman keinen Resonanzboden, das Buch wirkt über weite Strecken wie aus einer distanzierten Perspektive mit dem verzweifelten Willen, eine Botschaft zu übermitteln, geschrieben. Natürlich legt er viele Missstände in seinem Land offen, natürlich zeigt er mit den neuen Menschen für diese machtgierigen Subjekte einen verführerischen Weg, welchen sie mit brachialer Gewalt auch zu gehen bereit sind, es fehlt aber die Alternative auf beiden Seiten. Zu selten schlägt der Autor den Bogen von seiner interessanten Ausgangsidee zu einem gelungenen und vor allem ansprechend geschriebenen Roman. Zu sehr oft bleibt er auf einer intellektuellen Ebene hängen, scheut den einfachen Weg und versucht die insbesondere zu Beginn des Buches sehr gut ausgearbeitete Ausgangssituation zu extrapolieren und mit einfachen Elementen des Spannungsromans zu unterlegen. Insbesondere die frühen Romane der beiden Brüder überzeugten durch diese Ausgewogenheit aus intellektuellem Spiel und nachvollziehbarer Handlung, hier wird das elementare Fundament gänzlich und unnötig zu Gunsten eines zu konstruierten Gedankenmodells aufgegeben.
Eine weitere Schwäche des Romans sind die unsympathischen Charaktere. Schnell baut der Autor zwischen dem Leser und seinen Protagonisten eine unnötige Distanz auf. So sehr zu Beginn Wadims stoisches Verhalten beeindruckt, so schnell geht diese Ebene auch wieder verloren. Vielleicht ist es für einen Ausländer sehr schwer, wirklich in die russische Seele zu schauen, vielleicht ist „Die Ohnmächtigen“ auch eher ein Buch für die russischen Intellektuellen – Erik Simon versucht am Ende in seinen Anmerkungen auf die literarischen Querhinweise einzugehen -, wahrscheinlich soll es noch nicht einmal ein Unterhaltungsroman sein, aber als reines Gedankenexperiment wirkt es ebenso wenig überzeugend. Für Anhänger der Strugatzkis sicherlich eine Musslektüre, wer das Werk der beiden Brüder kennen lernen möchte, dem seien ihre bekannten Bücher „Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein“ oder „Picknick am Wegesrand“ als Einstieg empfohlen. Die „Ohnmächtigen“ hinterlässt in dieser Form unnötig zu viel Leere und zu wenig Gedankenschwere im Leser.
Boris Strugatzki: "Die Ohnmächtigen"
Roman, Hardcover, 339 Seiten
Klett Cotta 2007
ISBN 3-6089-3774-9
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