rezensiert von Thomas Harbach
Nach „Der Krieg der Zukunft vor 100 Jahren“ veröffentlicht der Herausgeber Detlef Münch in seinem Synergen Verlag mit „Die Liebe der Zukunft vor 100 Jahren“ eine Sammlung von Liebesgeschichten mit romantischem Hintergrund – es ist erstaunlich, wie viel sich die von Armors Pfeil getroffenen Männer einfallen lassen, um nicht unbedingt die Frauen, sondern vor allem die potentiellen Schwiegerväter von den Qualitäten zu überzeugen – und utopisch – technischen Ansätzen. Der Herausgeber stellt in seinem ausführlichen Vorwort deutlich heraus, dass erstens die Sexualität insbesondere in Anthologien mit deutschen Autoren genauso wenig eine Rolle spielt mit Emotionalität. Das auch vor dem Ersten Weltkrieg nicht alles kaiserlich gesittet vonstatten gegangen ist, dürfte außer Frage stehen. Die folgenden Geschichten sind keine romantischen Schnulzen voller falscher Emotionen oder gar frühe Zeugnisse von außerirdischen Begegnungen der vierten Art. Die Texte zeigen die Intelligenz der Menschen, die Technik sich Untertan zu machen und für die eigenen Zwecke – dabei beschränkt sich das Spektrum nicht nur auf die Gefühle, sondern auch auf die eigene Brieftasche – auszunutzen. Knappe einhundert Jahren nach ihren Veröffentlichungen mag mancher Dialog schwülstig und unnatürlich erscheinen, manche gesellschaftliche Marotte aus heutiger Sicht Unsinn sein, aber im historischen Kontext lassen sie sich alle noch sehr gut lesen und unterhalten auf einem gehobenen Niveau. Vielleicht lernt sogar mancher Freier etwas aus diesen mustergültigen Beispielen.
„Die elektrische Ehe“ von Johannes Cotta macht den Auftakt der insgesamt acht Geschichte. Dabei ist A. Ulrich mit seiner „Luftdroschke 5599“ als zweiter Autor nur mit einem Text vertreten. Sowohl Friedrich Streißler, Friedrich Thieme und auch Carl Grunert steuern jeweils zwei Geschichten zu der Thematik bei. Im Folgenden werden die Storys eines Autoren zusammen besprochen, obwohl diese Vorgehensweise nicht der chronologischen Reihenfolge in der Anthologie entspricht. Dabei lohnt es sich, mit den doppelten Autoren zu beginnen. In Cottas „Eine elektrische Ehe“ geht es um das gemeinsame Glück eines reichen, exzentrischen Barons und seiner jungen Frau. Die Mußestunden finden nur statt, wenn beide gleichzeitig auf einen Knopf drücken. Dann trifft man sich im gemeinsamen Spielzimmer von opulenter, exotischer Ausstattung. Es ist erstaunlich, dass zumindest in dieser Utopie der Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts inzwischen ein Mitbestimmungsrecht was die ehelichen Pflichten und Vorzüge angeht eingeräumt worden ist. A. Ulrichs „Luftdroschke 5599“ ist eine sehr kurze Geschichte, die vom Konzept her dem längeren vorangestellten Text „Radium als Ehestifter“ ähnelt. Der unwillige Schwiegervater muss handgreiflich durch eine Reise in der modernen Luftdroschke von den Qualitäten des potentiellen, aber mittellosen Schwiegersohns zum Wohle der Tochter überzeugt werden. Ulrich arbeitet sehr direkt auf die aufgesetzte Pointe zu und veralbert den neureichen Fleischfabrikanten. Im Vergleich zu den anderen längeren Texten erreicht die vorliegende Story gehobenes Boulevardzeitschriftenniveau.
Der Auftakt von „Die Fern-Ehe“ könnte sich nahtlos in den Reigen von Grunerts Geschichten um drahtlose Datenübertragung wie „Das Untereseetelephon-Amt“ und „Auf den Schwingen des Weltäthers“ einreihen. Ein junger Beamter in einer drahtlosen Übertragungsstation träumt von seiner Angebeteten. Plötzlich läuft ein umfangreiches Telegramm über seinen Ticker. In ihm werden noch einmal die wichtigsten Elemente des Fern-Ehe- Gesetzes zusammengefasst. Liebende dürfen nur noch geistig verbunden sein und oberste Prämisse ist kein körperlicher Kontakt. Schockiert wendet er sich an seinen Kollegen, der ihm gutmütig erläutert, welche Vorteile diese Regeln im Jahr 2403 haben und er nicht mehr an der klassischen Ehe und der Vergangenheit kleben möge. In seiner kritischen Betrachtung zu Carl Grunerts Werk hat der Herausgeber Detlef Münch als kleine Sensation die Kurzgeschichte von „Der Ätherseelenmensch“ als spätes Fundstück herausgestellt. Während viele Texte Ideen von H.G. Wells und Jules Verne übernommen und nur teilweise extrapoliert haben, steht hier ein Blumenwesen im Mittelpunkt der Handlung, das unwillkürlich an Kurd Lasswitzs esoterischen Roman „Sternentauch“ erinnert. Im Gegensatz zu anderen Texten Grunerts verlässt hier die Seele den menschlichen Körper nicht dank technischer Hilfsmittel, die er Mittel zum Zweck als überzeugend geschildert worden sind, sondern aufgrund eines Unfalls. Das traumhaft – surrealistisch Element steht in einem starken Kontrast zu anderen seiner bodenständigeren und deswegen auf den ersten Blick befriedigenderen Geschichten. Auf der anderen Seite gelingt es Carl Grunert sehr gut, eine fiktive Welt und eine romantisch verklärte idealisierte Liebe zu beschrieben und sich von dem frühen Vor- Dominik Stils seines Werkes zu lösen. Wie bei vielen Texten aus seiner Feder ist das Format der Kurzgeschichte nicht glücklich gewählt, das Szenario wird zu konzentriert erzählt. Es fehlt der Raum für eine elementare Entwicklung der Protagonisten. Mit abgerundeten Charakteren hätte die allerdings stilistisch sehr schön erzählte Geschichte mehr Emotionen im Leser geweckt.
Die wahrscheinlich einzigen beiden Ausflüge Friedrich Streißlers ins phantastische Genre finden sich ebenfalls in dieser Sammlung. Beide Texte stammen aus den Jahren 1908 und 1912. Streißler ist sehr früh nach Frankreich ausgewandert. Insbesondere „Das Radium als Ehestifter“ ist nicht nur die längere der beiden Novellen, sie ist vor allem von Jules Vernes Werken inspiriert. Mit sehr viel zum Teil ins satirische übergreifendem Humor nimmt der Autor in Person des ambitionierten, egoistischen und verliebten Ingenieurs das klassische Bürgertum, den selbst verliebten Mittelstand auf den Arm. Als der Chef einer elektrischen Straßenbahngesellschaft erkennt, dass sein wichtigster Mitarbeiter seine Tochter liebt, nötigt er diesen, das Werk zu verlassen. Schließlich ist seine Tochter standesgemäß schon dem Sohn des Bürgermeisters versprochen worden. Der Entlassene beginnt sich nicht nur mit Hilfe des Radiums an seinem Chef zu rächen, sondern setzt in seinem Bestreben die Hand der Tochter doch noch zu gewinnen, nicht nur seinen Verstand, sondern bei Spekulationen am Aktienmarkt auch die Geldbörse des Freundes ein. Streißlers sehr geradlinige, aus heutiger Sicht ein wenig zu steif und vorhersehbar komponierte Humoreske zeichnet sich durch eine detaillierte Charakterisierung der einzelnen Protagonisten aus. Dabei beschreibt er seine Figuren durchaus zwiespältig, der junge Verehrer handelt nicht nur uneigennützig für seine eigene Liebe, sondern auch für die eigene Tasche. Der Bankier beteiligt sich als Trittbrettfahrer an den Aktionen und der Bürgermeister sieht in dem aufstrebenden Industriellen eine gute Ergänzung zu seiner gefestigten politischen Macht im wirtschaftlichen Lager. Alleine die Tochter mit ihrer ehrlichen, aufrechten Haltung wirkt in diesem zum Teil hinterhältigen Spiel wie ein Fremdkörper. Der Ingenieur nutzt das Radium auf seinen „Geschenken“ an das Werk als Energiefresser. Aus den elektrischen Maschinen wandert die Energie direkt in die geheimnisvolle Quelle. Dabei macht es sich der Autor aus naturwissenschaftlicher Sicht zu leicht, aber die Idee wirkt auch eher wie eine Metapher, die Großspurigkeit bestimmter Kreise gegenüber den ehrlichen, aber gebildeten „Arbeitern“ zu entlarven. In Bezug auf ihren zugrunde liegenden Plot ist die Geschichte stellenweise ein wenig zu geschwätzig. Der Autor legt zu viel Wert auf die Reaktionen, denn die eigentliche Action. Auch die Beschreibung der Börsenaktionen und am Ende des milde Urteil des Geprellten wirken zu aufgesetzt im letzteren Fall und erscheinen zu glatt in Bezug auf die Callstrategie. Sie zeigen aber auch, dass die Ideen von Luft und Liebe inzwischen im Zuge der industriellen Revolution überholt worden sind. Auch wenn die Liebe immer noch eine magische Anziehungskraft hat, die im sozialistischen Sinne dieser Geschichte die Räder still stehen lassen kann, wird sie inzwischen von der Aussicht auf ein sorgenfreies Leben in angemessenem Reichtum begleitet. Trotz oder gerade wegen dieser Schwächen liest sich der Text sehr unterhaltsam. Er ist in einem angenehmen, aber ein wenig zu blümeranten Stil geschrieben worden. „Odorigen und Odorinal“ ist eine komplexere Liebesgeschichte. Wie die beiden Titel gebenden Erfindungen stehen sich zwei Familien gegenüber, deren Kinder sich natürlich gegenseitig lieben. Die beiden Familienoberhäupter stehen sich als berufliche Rivalen gegenüber. Beide Firmen machen zeitgleich bedeutende Erfindungen. Eine Folie, die auf die Haut gelegt, die Emotionen des Trägers sichtbar macht. Dazu zwei Elixiere, die jede Seelenstimmung hervorrufen kann und die Stimmungen beeinflusst. Der Autor selbst hat seine Geschichte als phantastische Humoreske bezeichnet und nach den Gesetzen der Komödie entwickelt sich die Handlung bis zum Happyend. Streißler lässt wichtige Teile der Handlung in Briefform erzählen, im Gegensatz zu den einzelnen Charakteren ist der Leser über alle Entwicklungen in beiden Familien genauestens informiert. So wirkt die sehr unterhaltsam geschriebene Geschichte weniger spannend als humorig. Dabei nimmt der Autor die neue Generation der industriellen Egomanen genauso auf die Schulter wie die strengen Sitten und Gebräuche, die mehr oder minder bewusst von der Jugend unterlaufen werden. Der Höhepunkt der Geschichte – die Verbindung der beiden Familien sowohl emotional als auch wirtschaftlich – wird eher sachlich, fast distanziert abgehalten. Hier wäre es sinnvoller gewesen, noch typische Elemente der Humoreske – vielleicht eine Verwechselung oder Nebenwirkungen der chemischen Erfindungen – zu integrieren. Streißler erweist sich insbesondere zu Anfang des Textes, wenn der Leser noch mit den einzelnen Charakteren unvertraut ist, als geschickter Autor, in dem er den außen stehenden Betrachter mehr als einmal hinters Licht führt. Stellvertretend dafür dient der eine Vorstand des Unternehmens, während die Sekrete nur indirekt in Briefform in die Handlung integriert werden und deshalb unnötigerweise weniger effektiv wirken.
1909 veröffentlichte Friedrich Thieme seine Humoreske „Das Warenhaus der Zukunft“. Die Geschichte trägt sowohl latente rassistische als auch ausgesprochen nationale Züge. Ein Neger, dessen Vater eine reiche Goldmiene besitzt, betritt im futuristischen Jahr 1940 ein modernes Kaufhaus in der Reichshauptstadt, um sich in einen perfekten deutschen Gentleman zu verwandeln. Zu erst wird er hauttechnisch gebleicht, dann eingekleidet, lernt die deutsche Sprache und die Kultur, erhält ein reiches Anwesen und schließlich eine blonde Frau. Die kurze Humoreske liest sich leicht, aber die Deutschtümelei inklusiv des aufgesetzten deutschen Wesens, an dem zumindest die kapitalistische Wirtschaft genesen soll, ist sehr stark aufgetragen und wirkt arrogant. Die futuristischen Ideen wie ein Sprachcomputer; ein Lernprogramm und schließlich die Möglichkeit, in einer Simulation von Deutschland ausgehend die Kulturgüter der Welt zu bereisen, werden später Grundfeste der utopischen Literatur bilden. Sehr viel interessanter ist sein modernes Märchen „Das lebende Bild“, in dem er von der fast magischen Begegnung eines reichen englischen Lords mit dem Bildnis einer wunderschönen exotischen Frau berichtet. Der Lord kauft das Bild und beginnt auf der Welt nach dem Original zu suchen. Als er von einem Professor liest, der tote Materie in lebende verwandeln kann, fordert er ihn mit einer Millionen Franken auf, die Frau auf dem Bild lebendig zu machen. Das gelingt ihm. Es stellt sich heraus, dass der Künstler eine Nymphe gemalt hat, das Abbild eines mystischen Wesens. Trotzdem beginnen die beiden miteinander in einem paradiesischen Haus offensichtlich platonisch zu leben. Obwohl der Lord die junge Frau als sein Eigentum betrachtet, trägt er sie auch auf Händen. Die ambivalente Einstellung führt zu einer Reihe von unentschlossenen Passagen. Als schließlich der Lord dem Original begegnet – die Nymphe ist nach einer jungen hübschen Frau gestaltet worden – steht er plötzlich zwischen zwei Frauen. Nicht unbedingt geschickt, aber folgerichtig löst Thieme diesen Konflikt auf. Insbesondere die erste Hälfte der Geschichte ist sehr stimmungsvoll mit der richtigen Mischung aus Mystik und Spannung geschrieben worden. Die zweite Hälfte ein wenig zu verspielt, fast schon kitschig. Im Gegensatz zu den eher technisch orientierten Geschichten der Sammlung greift der angestellte Professor fast auf die Alchemisten zurück, um Materie Leben zu schenken. Diese Idee wird in den folgenden Jahren unterschiedliche Texte – vom „Golem“ bis „Metropolis“ – beflügeln, aber als Liebesgeschichte nimmt „Das lebende Bild“ sicherlich eine Sonderstellung ein.
In seinem Nachwort geht Detlef Münch neben biographischen Informationen zu den Autoren auch auf die einzelnen Texte ein. Wie er richtig feststellt, geht es weniger um die körperliche Liebe im Zeitalter der Maschinen, sondern die geschickte Nutzung der Technik als Mittel zum Zweck. Er spannt den Bogen über verschiedene andere Utopien zu potentiellen Vorbildern der hier versammelten Geschichten – in erster Linie verweist er auf Kurd Lasswitz, dessen Texte bei mehr als einer Geschichte Vorbild gestanden haben, aber von den Autoren dann in andere Richtungen extrapoliert worden sind – bis zu einigen Anmerkungen in Richtung einer kinderfeindlichen Politik. Da scheint Detlef Münch weniger die Eigenverantwortung der heutigen Gesellschaft herauszustellen als an eine Vollkaskomentalität des Staates für die zum Teil unverantwortliche Familienpolitik von grundsätzlich mündigen Menschen zu appellieren. Ansonsten ist die zweite Sammlung aus dem Synergen- Verlag gerade wegen der guten Auswahl der Geschichten aus einem sehr beschränkten Fundus – wie auch der Herausgeber zugibt – eine interessante und empfehlenswerte Anschaffung. Sie erweitern das bislang allerhöchstens fragmentarische Wissen über die deutsche Phantastik vor dem Ersten Weltkrieg um eine Handvoll guter Beispiele – bezeichnenderweise haben fast alle Autoren nur wenige Geschichte im utopischen Bereich geschrieben, aber ansonsten in anderen Genres Bücher veröffentlicht. Die Geschichten werden jeweils von einer passenden Zeichnung eingeführt, die sekundärliterarischen Informationen und Hinweise runden die Sammlung gut ab. Wie schon der Volksmund sagt: „Die Liebe ist ein seltsames Spiel“.
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Detlef Münch: "Die Liebe der Zukunft vor 100 Jahren"
Anthologie, Softcover, 216 Seiten
Synergen Verlag 2006
ISBN 3-9356-3467-6
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