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HARTWIG, Ina (2003): Adorno
und die Frauen.
Zurück aus der Sommerfrische: Deutschland sehnt sich,
in: Frankfurter Rundschau v. 19.08.
HARTWIG wundert sich über die deutsche
Männerdämmerungsdebatte:
"Wer
dieser Tage nach einer urlaubsbedingten Abwesenheit nach
Deutschland zurückkehrt, traut seinen Augen nicht: Überall
in den Feuilletons ist von Frauen und von
Adorno die Rede. Nicht von Adornos Frauen wird parliert,
nicht genug jedenfalls, sondern von den heutigen Frauen und,
jawohl: von der Macht. Einer Macht, die die heutigen Frauen
angeblich haben, wie die einen jammern, oder angeblich nicht
haben, wie die anderen jammern. (...).
Wie kommt es
zum Beispiel, dass der Begriff »Frau«, dessen Verwendung
Katharina Rutschky vor einigen Jahren als
»fundamentalistisch« erkannt hat, ausgerechnet dort wieder
hervorgekramt wird, wo bis gestern noch das Heil in der
genetischen Forschung gesucht wurde? (...).
Genauso
rätselhaft ist, dass die antwortenden Damen, die bis eben
noch vornehm im Gender-Sorbet herumstocherten, plötzlich
wieder »Frau« sein wollen und sich als solche bekennen, wo
doch eben noch die Konstruiertheit alles Geschlechtlichen
die Gemüter in begeisterte Wallung brachte. Hier stimmt
etwas nicht. Beides war lange out - Frauen und Adorno -, und
plötzlich ist beides wieder da."
HARTWIG, Ina/MÄRZ,
Ursula/MICHALZIK, Peter/NUTT,
Harry/SCHLÜTER, Christian/THOMAS, Christian (2003):
Wozu Weihnachten?
Am Heiligen Abend erzählt sich die Familie eine
Geschichte der Familie. Christmas uncut - Ein
Feuilleton-Gespräch über Eltern, Kinder, Glaube und Schuld,
in: Frankfurter Rundschau v. 24.12.
Einsamkeit -
Single-Haushalte und die Fröste der Freiheit
HARTWIG, Ina (2005): Unter
der Maske des Narzissmus.
Andreas Maiers Roman "Kirillow" ist ein
Wahnsinnsbesäufnis mit Todesfolge,
in: Literaturbeilage der Frankfurter Rundschau v.
16.03.
Andreas Maier -
Kirillow
HARTWIG, Ina (2006): Wir haben
alles vermasselt.
Ein Hippie-Businessman zieht Bilanz: Bernd Cailloux
findet in seinem Roman "Das Geschäftsjahr 1968/69" einen
neuen Ton, über seine Zeit zu sprechen,
in: Frankfurter Rundschau v. 01.02.
Ina HARTWIG lobt den neuen Ton, den
Bernd CAILLOUX in seinem Roman
Das Geschäftsjahr 1968/1969
angeschlagen hat:
"der Ich-Erzähler lamentiert nicht - und darin liegt eines
der Geheimnisse dieses Buchs. Die Perspektive des
Szenejargons von früher wird gewissermaßen beibehalten;
keine Revision, kein Bedauern. Auch keine Illusionen, die
schon damals eher unterentwickelt waren. Statt dessen
Lakonie und jede Menge Situationskomik. Wenn hier ein
Zeitkolorit eingefangen wird, dann nicht das der
Polit-Slogans, nicht das der Revolte, sondern das der
Kulturrevolution, von der Hans Christoph Buch klug
bemerkte, sie sei der Revolte vorausgegangen, habe sie
begleitet und überdauert."
HARTWIG, Ina (2006): Ich und
der Dichter.
Achtung, Achtung: Die Ganzkörperliteraturkritik übernimmt,
in: Frankfurter Rundschau v. 04.04.
Ina HARTWIG macht unmissverständlich
deutlich, was sie von der Literaturgeschichte
Lichtjahre von Volker
WEIDERMANN hält:
"Ulrich
Greiner hat Weidermann in der Zeit »Biographismus«
vorgeworfen. Ist, was Weidermann über Celan schreibt,
nicht vielmehr biographische Suggestion? Oder wenn
Ingeborg Bachmanns Lebensende bedichtet wird mit den
Worten: »Der Tod kam nachts. Sie hatte Beruhigungsmittel
genommen. Legte sich ins Bett. Allein. Mit einer
brennenden Zigarette. Das Bett fing Feuer. Das Nachthemd
fing Feuer. Ingeborg Bachmann ist verbrannt.« Nein, das
ist nicht biographisch, auch nicht biographistisch,
sondern
schlicht
Tratsch. Man könnte auch sagen:
Schriftstellerlebensgeschichtskitsch, und zwar auf Kosten
von Lebenden, Toten und auf Kosten der seriösen
Literaturkritik."
Ina HARTWIG möchte dem
Literaturbetrieb weitere Peinlichkeiten ersparen:
"Kathrin
Passig hätte man (...) längst kennen können, man hätte
nur die taz-Wahrheit-Seite regelmäßig zu lesen
brauchen (...). Passig ist nicht identisch mit der taz,
aber die taz ist das Milieu, in dem man sie und die
ZIA versteht,
vielleicht sollte man von fließenden Übergängen sprechen.
Die Verblüffung in Klagenfurt war offenkundig so groß,
weil dieses Wahlberliner Milieu dort weitgehend unbekannt
ist. Es wäre sicherlich wünschenswert, wenn die Jury hier
mal nacharbeitete, dann blieben dem Wettbewerb einige
Peinlichkeiten erspart."
HARTWIG, Ina (2006):
Katholische Rêverien.
Ich glaube, also bin ich: Schriftsteller im
Bekenntnisrausch,
in: Frankfurter Rundschau v. 19.07.
In
der Feuilletoncommunity herrscht Einigkeit darüber, dass
Protestantismus als unhip, Katholizismus als heiß gilt,
erläutert Ina HARTWIG. Single-generation.de
hat bereits im April 2004 - also lange bevor die
Feuilletonkatholiken sich nach der Papstwahl outeten - die
Katholisierung der Berliner Republik
vorhergesagt. HARTWIG
stellt nun mit
Thomas MEINECKE
einen popkulturell versierten Neukatholiken vor (mehr
hier).
Ina HARTWIG zum Fall
Esra:
"Jetzt herrscht wieder große Einigkeit in der Empörung, wie die
opulente
Namensliste zeigt. Man darf dennoch Zweifel anmelden, ob allen 100
Unterzeichnenden der »Fall Esra«, der hier als Exempel bedrohter
Kunstfreiheit behandelt wird, tatsächlich bekannt ist, ob alle
Unterzeichnenden das - immerhin in mehreren tausend Exemplaren kursierende
- Buch gelesen haben. Daniel Kehlmann machte
in der gestrigen FAZ den
respektablen Versuch, sich als Schriftsteller gegen jegliche Einschränkung
seiner Kunstfreiheit zu verwahren. Aber er gab auch zu bedenken, und damit
kommen wir der Sache schon näher: »Autoren sind keine netten Leute(...).«
In diesem Zusammenhang wird stets erwähnt, dass sowohl
Die Leiden des
jungen Werthers als auch Die Buddenbrooks, sowohl Effi Briest als auch
Montauk nach heutiger Gerichtsbarkeit in ihrer Existenz bedroht wären.
(...).
Schon jetzt steht jedoch fest: Maxim Biller
ist alles andere als naiv. Wer seinen Roman kennt, weiß, dass er von einem
kalkulierten psychologischen Voyeurismus lebt, dass er das Fenster recht
brutal aufstößt, um den Blick freizugeben auf eine in Scherben gegangene
Liebesgeschichte. Hundert Unterschriften ändern daran nichts."
Ina HARTWIG fordert von den Schriftstellern
Abschied von der "nivellierten Mittelstandsgesellschaft" der Bonner
Republik zu nehmen und Romane über die neue Klassengesellschaft zu
verfassen. Während allerorten die Unterschicht-Debatte läuft, fehlt
es an Einblicken in die neue Oberschicht:
"Da
der Literatur unter anderem die Aufgabe zufällt, Seismograph und
ästhetischer Transformator zu sein, darf man die Frage stellen, wie
sie denn auf die kapitalbedingten Umwälzungen reagiert. Die bildende
Kunst ist den Boom bereits gewohnt, auch wenn einigen Künstlern und
Kritikern das Phänomen des überheizten Marktes bisweilen unheimlich
sein mag. Zumal ja auch nicht jeder Künstler ein Neo Rauch ist und
Millionensummen einsteckt, kaum ist die Farbe auf der Leinwand
getrocknet, sondern viele eben doch - wie es dem Künstlertum immer
schon eigen war - in kärglichen Lebensverhältnissen verharren. Aber
das große Geld lockt.
In der Literatur dagegen, der deutschsprachigen jedenfalls,
herrschen nach wie vor das Lebensgefühl und die Moral des
Mittelstands vor. Zu Reichtum gekommene Schriftsteller wie zuletzt
Daniel Kehlmann sind die große Ausnahme.
(...).
Sieht man einmal
von Martin Walser, dem Chronisten des deutschen Wirtschaftswunders,
ab, fällt - wie gesagt - auf, dass sich die Gegenwartsliteratur in
Deutschland nicht gern im Milieu der Superreichen aufhält."
Jörg Fauser - Am Strand
der Städte
Ina HARTWIG hat
Judith HERMANNs Dankrede zur Verleihung des Hölderlinpreises gelesen
und
Eva ILLOUZ. Herausgekommen
ist eine Belehrung über das gerne - nicht nur von
Küchenpsychologen 68er Provenienz, sondern auch von modernen
Sachbuchautoren - verwendete Wörtchen "Unterbewusstsein" und
den Begriff des Unbewussten bei Sigmund FREUD. Letzterer
kennzeichnet den Connaisseur, ersteres fällt auf den Anwender
selber zurück.
Bei der
taz dichten sich die
Schlagzeilentexter bisweilen sogar ein "kollektives
Unterbewusste" zusammen. Reichlich
historisch verspätet ist die Belehrung von HARTWIG schon, denn
spätestens seit Mitte der 1970er Jahre wird immer wieder die
Therapiegesellschaft beklagt. Sinnigerweise waren es die
Soziologen, die die Psychologisierung beklagten. Anfang der
1980er Jahre baute die Popsoziologie á la Ulrich BECK das
Bedrohungsszenario Therapiegesellschaft
in die Individualisierungsthese ein. BECK sieht sich ja gerne
in der Tradition der Frankfurter Schule, genauso wie Eva
ILLOUZ, womit sich der Kreis wieder geschlossen hätte.
MERKUR-Sonderheft:
Heldengedenken.
Über das heroische Phantasma |
HARTWIG, Ina (2009): Heldinnenkarusell,
in: Merkur Nr.724/725, September/Oktober
Rainald Goetz - Loslabern
HARTWIG, Ina
(2011): Junge Männer in Halbtrauer.
Uwe
Timms Novelle "Freitisch" erzählt von einer Wallfahrt
zweier Studenten zu dem Einsiedler Arno Schmidt und
vermisst die gefühlte und die politische Landschaft der
sechziger Jahre zwischen München, Bargfeld und Anklam,
in: Literaturbeilage der Süddeutschen Zeitung
v. 15.03.
Uwe Timm - Freitisch
HARTWIG, Ina
(2012): Der Schaumkronenkönig.
Reif
für den Durchbruch: In seinem Roman "Gutgeschriebene
Verluste" gelingt Bernd Cailloux die formidable
Selbstparodie eines Alt-68ers,
in:
Süddeutsche Zeitung
v. 09.03.
Bernd Cailloux - Gutgeschriebene Verluste
Neu:
HARTWIG, Ina
(2014): Krieg den Hornbrillen.
Ist die deutsche Gegenwartsliteratur nur noch brav statt bravourös,
wie behauptet wird? Was ist denn das für eine merkwürdige Debatte. Ein
Zwischenruf,
in: Süddeutsche Zeitung v. 27.01.
Ina HARTWIG bestätigt, dass
der deutsche Literaturbetrieb von der mittleren bis oberen
Mittelschicht geprägt ist:
"Dass die deutsche
Literatur aus den protestantischen Pastorenhäusern hervorging,
was heute dem Lehrerhaushalt entspräche, ist spätestens seit
Heinz Schlaffers »Kurzer Geschichte der deutschen Literatur«
(2002) keine Geheimnis mehr. Vieles spricht also für eine
Kontinuität".
HARTWIG findet das auch
ganz in Ordnung, denn wo kämen wir hin, wenn Literatur mit
Gesellschaftskritik verwechselt werden würde? Nichtsdestotrotz
gibt es auch die berühmten Karrieren à la vom Tellerwäscher
zum Millionär. Zu denen HARTWIG folgende Schriftsteller zählt:
Uwe TELLKAMP (laut Wikipedia ein Arztsohn aus einem
Dresdner Villenviertel!),
Clemens MEYER und Terézia MORA (wird von HARTWIG dem
Bauernmilieu zugeordnet, obwohl sie gemäß
Wikipedia zweisprachig aufwuchs).
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Beiträge des Sammelbands
FLAMM, Stefanie - Meine erste
Entlassung
MARTIN, Mirko - Coming Out -
(k)eine Ostgeschichte
SEZGIN, Hilal - Der
Unterschied zwischen 0 und 1. Hoffen, Bangen, Sehnen von
einer Email bis zur nächsten
SCHWERDTFEGER, Malin - Wir
Nutellakinder
RÜDENAUER, Ulrich - Ein
Klassentreffen
SCHLAK, Stephan - Die
Bedingten und die Unbedingten. Die Politik der
Dreißigjährigen
KALKA, Joachim - Am Ende.
Eine Betrachtung zu Balzacs "Die Frau von dreißig Jahren"
FALLER, Heike - Husband-Material. November
MANGOLD, Ijoma - Graue Mäuse
und abenteuerliche Herzen. Eine Selbstbefragung zur Politik
der Zukunft
SIEREN, Frank - Shanghai
Expreß. Wie China das Leben der europäischen
Milleniumsgeneration umkrempelt
BETANCUR, Karin Ceballos -
Havanna 30
KLUGKIST, Thomas - Die jungen
alten Wilden der New Economy. Vom bleibenden Wert der
Gründerromantik
WAGNER, David -
Dreißig Jahre Haß (vorbei)
BUHR, Elke - Dieser Zustand
ist nicht tanzbar
MELLER, Marius - Und wie
hältst du's mit der Religion? Ein absolut repräsentativer
Spezialfall
KUHLBRODT, Detlef - Helden
ohne Arbeit. Schadensprofilselbsterkennung
GRETHER, Kerstin - Meine
hysterische Musikfamilie und ich
FRIEBE, Holm - Stars 'r' us
AGUIGAH, René - Immer noch
postmodern? Einige Komplikationen
HAHN, Anna Katherina -
Kommune Kalk
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Berichte über eine Lesung
LEINKAUF, Maxi (2004): Humor ist, wenn man trotzdem lacht.
Im Roten Salon lasen
30-jährige Autoren Geschichten aus ihrem Leben vor: Es geht um
Entlassungen und Begegnungen mit Gott. Hauptsache komisch,
in: Tagesspiegel v. 16.02.
Im Roten Salon der Berliner Volksbühne hat
sich der Klüngel des Zeitgeistfeuilletons getroffen:
"Zur
Lesung des aktuellen Kursbuches (...) »Die Dreißigjährigen« heißt
die neueste Ausgabe. Moderator und Herausgeber
Tilman Spengler hatte
sechs Autoren eingeladen, ihre Texte zu diesem Thema zu lesen. »Denn
damit liegen wir gerade im Trend«, fand Spengler.
»In Berlin war die Neue Mitte und wir wollten da ankommen«, begann
Stefanie Flamm, die auch für den Tagesspiegel am Sonntag schreibt,
einen Text über ihre erste Entlassung bei den Berliner Seiten der
Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sie schildert, wie sie in dieser
großen Zeitung ankam – und wie das Verhältnis zu Ende ging. (...).
Als die Berliner Seiten dann eingestellt wurden, sagte man zu
Stefanie Flamm: »Sie sind jetzt ein Mythos.« Mehr nicht. Die Leute
im Saal beklatschen die Geschichte wild. Vielleicht, weil sie
ähnliche Situationen kennen. Auch Moderator Spengler ist hoch
erfreut über diese Resonanz. (...).
Das
Publikum nimmt das nicht leicht: Es weiß, Flamms Geschichte könnte
hier jedem passieren.
»Uns ist im Grunde doch alles egal«, beschreibt dagegen
Malin Schwerdtfeger ihren Jahrgang in
»Wir Nutellakinder«. Nur
eins hätten 30-Jährige gemeinsam: Sie wollen nicht erwachsen werden.
Was sie damit meint, das erklärt sie nicht",
bemängelt LEINKAUF
(schreibt offenbar nicht für den Tagesspiegel!).
"Der
Autor David Wagner ist Vater
geworden, er fährt jetzt »Kinderwagen, jeden Tag«. Marius Meller,
Redakteur beim Tagesspiegel, erzählt wie einer seiner Freunde mal
Gott begegnete. Es ist die Geschichte einer langen Psychose. Und
auch Kerstin Grether
lebt in einer Krise, seit sie 13 ist. Sie pendelt zwischen »uns
komischen Aliens« und Coverversionen von Nirvana-Songs.
Diese 30-Jährigen da im Roten Salon beobachten nicht andere, sie
bespiegeln sich vor allem selbst. Und das so witzig wie es geht. Als
ginge es nur darum, möglichst viele Lacher auf seine Seite zu ziehen".
Was denn sonst?
Darüber schweigt sich LEINKAUF pseudokritisch aus...
FÖRSTER, Jochen (2004): Sind wir noch relevant?
Die Generation Golf braucht Beschäftigung: In der Berliner
Volksbühne lesen "Die 30-Jährigen",
in: Welt v. 16.02.
In der taz und
gleichzeitig in der Welt schreiben,
das wäre vor 20 Jahren nicht möglich gewesen. Heute - im Zeitalter
des großen Mitte-Konsens - gelingt dies spielend. Vielleicht muss sich FÖRSTER deswegen so über
Wir-Konstruktionen echauffieren, weil ihm ein wirklicher Gegner
abhanden gekommen ist.
Überall nur Mitte! Keine Opposition weit und
breit! Langeweile en masse! Da bleiben nur solche biedermeierlichen
Sätze wie:
"Natürlich
muss es nicht sein, eine Generation auszurufen, bevor sie überhaupt
den Weg zur Macht beschritt, bevor sie mit dem Establishment
abgerechnet hat, bevor sie also zünftig Bilanz ziehen kann über den
Weg ihres Lebens. Und außerdem, wer soll das sein, wir? Aus der
Vielzahl der Ereignisse Linien zu skizzieren, vermag der Historiker,
nicht der, der mittenmang steckt. Einerseits. Andererseits ist der
Nicht-Kampf wider das Establishment nicht allein unsere Schuld,
zweitens kein Nachteil und drittens, mag sein, gar unser Kapital.
Unsere Eltern hatten Gegner, wir nicht wirklich. Womöglich blicken
wir so früh zurück, weil uns dämmert, dass nicht viel nachkommt an
Barrikaden. Dies als Phänomen erkannt zu haben, ist Florian Illies'
Verdienst."
Mit dieser
Einführung kann FÖRSTER dann mit dem Kursbuch
»Die Dreißigjährigen«
einen Papiertiger aufbauen, den er folgendermaßen beschreibt:
"Auf
Lesungen weit mehr als in Büchern, ist das gebotene Mittel die
Ironie, das 30plusX-Publikum will sich über sich amüsieren. Am
besten kamen deshalb Texte an, die typische Situationen nonchalant
beschrieben: Stefanie Flamm, deren Zeitung sie raus warf und
versuchte, Sie als »Medien-Mythos« zu stilisieren. Und
David Wagner, der herausgefunden
hatte, dass auch Väter heute leicht outsourcebar sind und das ganz
gut ist so. Die Analytischen hatten mehr Probleme:
Malin Schwerdtfegers Appell an die Neuerfindung der
Frühvergreisten klang zu kompliziert, Marius Meller hatte sich
dummerweise entschieden, seine Fabel von der Gottsuche eines
psychotischen Schulfreundes witzig vorzutragen.
Zwei der bemerkenswertesten Beiträge waren nicht vertreten. Karin
Ceballos Betancur hatte die Geschichte zweier Kubanerinnen vor der
Wahl zwischen Geld- oder Liebesheirat aufgeschrieben, auf jede
Analyse verzichtet und so angedeutet, wie erhebend konkret das »Wir«-Gefühl
sein kann.
Ijoma Mangold fiel zuletzt die unangenehme Aufgabe zu, zu
diskutieren. Er hatte Kluges geschrieben wie zu sagen - etwa dass
wir ruhig beginnen sollten, uns weiter zu wähnen als die
»Komplexitätsignoranten« von »68, statt ewig unserem
Wildheits-Defizit hinterher zu trauern. Und dass dabei mehr
Abenteuerlust vonnöten wäre, Lust auf Experimente auch ohne Rezepte.
Diese Generation braucht kein Wir-Gefühl. Sie braucht Beschäftigung.
Ein Döneken-Abend wie dieser kam da gar nicht so schlecht."
So
ganz nebenbei bemerkt: Jochen FÖRSTER ist einer von drei
Herausgebern der Vierteljahreszeitschrift
Dummy (heißt wirklich so!). Dort
schreibt - man wundert sich nicht! -
Malin SCHWERDTFEGER die
Filmkritiken. Es bleibt also alles in der Familie!
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