St. Pauli nach G20 "Gewalt hinterlässt Narben"

Nach den Ausschreitungen zum G20-Gipfel in Hamburg wurde über viel gesprochen - außer darüber, wie es den Anwohnern geht, die unmittelbar von der Gewalt betroffen waren. Die Schriftstellerin Simone Buchholz lebt seit 20 Jahren auf St. Pauli, wo auch ihre Kriminalromane spielen.
Auch unser Autor Marcus Müntefering lebt dort. Er und Buchholz kennen sich seit zwei Jahren, seit einem Jahr moderieren sie gemeinsam den Literatur-Talk "Trio mit 4 Fäusten" in der Bar "439".

Simone Buchholz, 45, ist Schriftstellerin und lebt in Hamburg St. Pauli. Sie absolvierte die Henri-Nannen-Journalistenschule und arbeitete als Kellnerin, Kolumnistin und Redakteurin. Heute schreibt sie Regionalkrimis aus Hamburg.
SPIEGEL ONLINE: Am G20-Wochenende warst Du nicht in Hamburg. Bereust Du diese Entscheidung?
Buchholz: Ich habe schon das Gefühl, St. Pauli im Stich gelassen zu haben. Als ich in meinem Exil an der Ostsee saß und es anfing zu knallen, dachte ich, dass ich jetzt gern zu Hause wäre. Nicht um mitzumischen, sondern um da zu sein, Haltung zu zeigen. Und man hört in den Straßen immer wieder diesen Satz: Wäre der Stadtteil in der normalen Besetzung gewesen und nicht halb leer, hätte man dem Chaos vielleicht etwas mehr entgegensetzen können. Aber für mich gab es keine Alternative. Ich habe einen neunjährigen Sohn, den ich nicht in Gefahr bringen wollte.
SPIEGEL ONLINE: Wann bist Du zurückgekommen?
Buchholz: Am Sonntag, und ich musste abends sofort raus an den Tresen, an dem meine Freunde sitzen. Ich wollte bei ihnen zu sein, mit ihnen reden. Viele von ihnen hatten sich im Vorfeld für friedlichen Protest engagiert. Die waren nach den Gipfeltagen ziemlich angeschlagen, aber nicht entmutigt.

SPIEGEL ONLINE: Viele waren vor allem sehr wütend.
Buchholz: Es ist, als würdest du vor jemandem stehen, dem Gewalt angetan wurde, und du würdest ihn gern trösten. Aber von überall kommen permanent diese Stimmen, die sagen: Alles wird gut, wird schon alles wieder gut. Damit der, der den Schmerz hat, aufhört sich zu beschweren. Seine Schrammen und Wunden sollen einfach weggewischt werden. Ich habe den Eindruck, die meisten Hamburger hätten gern, dass das alles ganz schnell wieder gut wird. Aber so einfach ist das nicht. Gewalt hinterlässt Narben.
SPIEGEL ONLINE: Warst Du überrascht, wie heftig die Auseinandersetzungen waren?
Buchholz: Nein, mir war wie vielen anderen vorher klar, was passieren würde. Aber keiner hat im Vorfeld mit uns geredet, keiner wollte unsere Bedenken hören. Stattdessen waren wir wochenlang einer massiven Polizeipräsenz ausgesetzt. In der Woche vor dem Gipfel war es ja fast so, als hätte Einsatzleiter Dudde die Regierungsgeschäfte übernommen. Man hatte das Gefühl, permanent von der Polizei misstrauisch beäugt zu werden, nur weil man wohnt, wo man eben wohnt.
SPIEGEL ONLINE: Olaf Scholz wird teilweise heftig kritisiert für seine mangelnde Bereitschaft, eigene Fehler zuzugeben. Wie ordnest Du in die Rhetorik der vergangenen Wochen ein? Es fallen ja immer wieder Begriffe wie Mordbrenner und...
Buchholz: ... Denunzianten. Dieses Phrasengedresche finde ich sehr unangenehm. Wenn ich den Begriff "bürgerkriegsähnliche Zustände" höre, kriege ich einen Rappel. Oder wenn Scholz Polizeigewalt als linken Kampfbegriff bezeichnet. Da geht es doch nur darum, die Macht über die Sprache, die Deutungshoheit zu erobern. Und damit zementiert man die Verhältnisse - was übrigens für beide Seiten gilt. Als ich mich bei mir in der Straße mit Polizisten unterhalten habe, bei denen ja auch gewaltiger Redebedarf besteht, fuhr jemand mit dem Fahrrad an uns vorbei und rief mir über die Schulter "Verräterin" zu. Was für ein Schwachsinn. Als wäre es verwerflich, miteinander zu reden.

SPIEGEL ONLINE: Davon, haben viele Hamburger das Gefühl, ist man ganz weit entfernt, gerade bei der SPD. Warum hört man keine anderen Stimmen aus der Fraktion?
Buchholz: Ich glaube, dass Olaf Scholz wie ein König regiert, und dass es schon verdammt viel Mut braucht, um den Mund aufzumachen. Ich finde das befremdlich. Und wenn ich höre, dass sich die SPD-Bürgerschaftsabgeordnete, die seit Jahren auf St. Pauli gute Arbeit leistet, im Supermarkt anspucken lassen muss und sich im Viertel eigentlich kaum noch blicken lassen kann, finde ich es umso seltsamer, dass alle strammstehen.
SPIEGEL ONLINE: Viele Kreative haben allerdings keine Lust mehr auf den Stadtteil und ziehen weg. Kannst du das verstehen?
Buchholz: Klar, denn es ist ja wirklich, wie Rocko Schamoni einmal gesagt hat: "Alles, was scheiße ist und Geld bringt, wird hier gemacht." Und dass hier Menschen leben, ist denen, die dann Autos anzünden oder uns vor die Tür kotzen, völlig egal. Aber das hat vor allem viel mit einem Senat zu tun, der den Stadtteil mit Großveranstaltungen pflastert und die Bedingungen schafft, dass es immer mehr Massenbesäufnisse gibt.
SPIEGEL ONLINE: Aber liegt nicht ein Teil der Faszination St. Paulis darin, dass hier der Exzess erlaubt ist?
Buchholz: Natürlich, ich male ja auch gern mal über den Rand. Was aber bei vielen verloren geht, die hierherkommen, um es krachen zu lassen, ist der Respekt. Das Bewusstsein dafür, dass St. Pauli schon immer auch ein Wohnviertel der bunten Menschen und Freigeister war. Stattdessen herrscht eine Scheiß-egal-Haltung, sowohl bei den Besuchern als auch bei der Politik oder der bürgerlich-konservativen Presse. Das erlebe ich selbst, und das höre ich, wenn ich mit Freunden, Polizisten oder Türstehern auf dem Kiez rede.