Kinokünstler Roy Andersson Einzigartig eigenartig

Kinokünstler Roy Andersson: Einzigartig eigenartig
Foto: Neue VisionenEine Firma ist in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten. Ein Opfer, beschließt man, könnte helfen. Also versammelt sich die Belegschaft, zahlreiche Herren in Anzügen, am Rande eines Abgrundes. Ein kleines Mädchen wird mit verbundenen Augen auf eine hölzerne Planke geführt und stürzt hinab in den Tod. Hinterher sitzen ein Geschäftsmann und ein Bischof in einer Kneipe am Tresen, der eine heult, der andere kotzt.
Ein Mann stellt uns seinen Sohn vor, der Junge ist ein talentierter Tennisspieler, gerade hat er einen Sponsorenvertrag bekommen, und daher wird ihm jetzt "Volvo" quer über die Stirn tätowiert.
Dietrich Brüggemann, geboren 1976 in München, arbeitet als Regisseur und Drehbuchautor in Berlin. Mit der Tragikomödie "Renn, wenn du kannst" gelang ihm 2010 der Durchbruch. Für das Religionsdrama "Kreuzweg" gewann er zusammen mit seiner Schwester Anna auf der Berlinale 2014 den Silbernen Bären für das beste Drehbuch. Zurzeit arbeitet er an einer Komödie, die Aspekte der NSU-Affäre verarbeitet.
Ein Arbeiter ist zu Gast bei einer feinen Tischgesellschaft, möchte zur Unterhaltung einen Trick vorführen und das Tischtuch unter dem Geschirr wegziehen, aber der Trick geht schief, unter dem Tischtuch kommen zwei prachtvolle Hakenkreuze aus Intarsien zum Vorschein, und ein 200teiliges Porzellanservice geht zu Bruch. Der Mann wird daraufhin zu Tode verurteilt, sein Anwalt weint bitterlich, und die Richter trinken Bier aus großen Maßkrügen.
Diese Alptraumszenarien und noch zahlreiche weitere findet man in den Filmen des schwedischen Regisseurs Roy Andersson. Andersson, der seit 1970 gerade mal fünf Spielfilme gemacht hat, ist der große Unbekannte des Weltkinos: Eine kleine Schar von Fans verehrt ihn fast schon religiös, während sogar die Mehrheit der filminteressierten Minderheit ihn im Zweifelsfall mit seinen gefeierten Namensvettern Paul Thomas beziehungsweise Wes verwechselt.
Das ist irgendwo verständlich, denn Anderssons Filme haben keine nacherzählbare Handlung, lassen sich nicht auf einen plakativen Künstler-Gestus reduzieren, sind aber auch kein niedliches Wohlfühlkino. Andererseits erstaunt es, denn sie sind von einer Einzigartigkeit, die einem förmlich ins Gesicht springt, und außerdem meistens saukomisch.
Bilder wie ein Museumsrundgang
Die Filme entstehen jeweils in jahrelanger Kleinarbeit. Andersson hat sich in Stockholm sein eigenes kleines Universum samt Studio und Fundus und Tonabteilung aufgebaut (wer das Haus auf Google Street View sucht, der sieht eine Gruppe von jungen Roy-Andersson-Mitarbeitern aus allerhand Ländern, die mit Lampenschirmen auf den Köpfen am Straßenrand postiert sind). Jede Szene, auch die aufwendigsten Landschaftsbilder, wird hier über Wochen im Studio aufgebaut und dann in einer einzigen, fast immer unbewegten Kameraeinstellung gedreht.
Die Bilder sind wie ein Museumsrundgang, Abteilung Neue Sachlichkeit, wunderschön in ihrer akribischen Nüchternheit, und anders als in anderen Filmen kann man den Blick tatsächlich schweifen lassen und selbst entscheiden, wo man hinschauen möchte, während die Figuren des Films stoisch am Dasein verzweifeln.

Dahinter steckt eine schrankenlose Fantasie, die sich hinter den schönsten, surrealsten Filmen der Sechzigerjahre nicht verstecken muss, zugleich aber ein fürchterlich illusionsloser Blick auf den Menschen. Man sollte es nicht denken, aber diesen Stil und Tonfall hat Andersson ausgerechnet in über 400 Werbespots entwickelt, die jedoch mit Werbung, wie wir sie kennen, wenig zu tun haben. Nichts glänzt und glitzert, niemand ist auch nur im Entferntesten gut drauf, stattdessen schwedische Alltagstristesse, von einer unbeweglichen Weitwinkelkamera wie unter einem Vergrößerungsglas präsentiert.
Roy Andersson, der sich bis heute als Sozialist bezeichnet, gibt sich dabei erkennbar wenig Mühe, seine antikapitalistische Grundhaltung irgendwie zu verstecken - viele der Spots funktionieren nach dem Prinzip: Wir schauen zu, wie etwas in die Hose geht, und präsentieren dann das beworbene Produkt als die deutlich bessere Alternative, wobei man nie das Gefühl loswird, dass Andersson sich im Grunde über seine Auftraggeber lustig macht. Allerdings auf ausgesprochen sanfte, mitfühlende, menschenfreundliche Art.
Mitgefühl ohne Ranschmeiße
Und dieser Gegensatz, dieser doppelte Blick ist es vielleicht, der Anderssons Filme so faszinierend macht: Er betrachtet uns aus größtmöglicher Distanz, er guckt auf die Menschheit wie auf einen Ameisenhaufen (was ja die Haltung ist, die am Festival- und Kunst- und Arthousekino oft gelobt oder auch kritisiert wird). Zugleich ist er aber ganz nah bei seinen Gestalten und fühlt innig mit ihnen (was ja für einen publikumswirksamen Film angeblich unabdingbar ist). Aber er schmeißt sich eben nicht ran (was ja dem Kommerzkino von den Vertretern des anderen Lagers gern vorgeworfen wird - "jedes Bild geht anschaffen", soll Christian Petzold mal gesagt haben).
In diesen Tagen startet also Roy Anderssons neuer Film mit dem ausladenden Titel "Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach". Alle Welt hatte ihn in Cannes erwartet, Cannes hat ihn offenbar abgelehnt, dafür gewann er dann in Venedig den Goldenen Löwen. Man kann separat gar nicht viel über den Film sagen, es ist ein weiterer Rundgang durchs Andersson-Universum, diesmal fast schon altersmilde - es gibt diverse Momente, in denen Menschen tatsächlich einfach nur nett zueinander sind.
Zunächst aber einige tragikomische Begegnungen mit dem Tod: Jemand kauft sich ein Bier und ein Krabbensandwich, fällt dann aber tot um, woraufhin die Kellnerin die übrigen Gäste fragt, ob jemand das Bier und das Sandwich vielleicht haben möchte, denn der Mann hat es ja schon bezahlt. Eine alte Frau möchte ihre Handtasche mit Schmuck und Wertsachen gern ins Jenseits mitnehmen und schreit und klagt, als ihre ebenfalls schon recht bejahrten Kinder ihr die Tasche wegnehmen wollen. Später taucht noch der schwedische König Karl XII. mit seinem Tausend-Mann-Heer in einer Vorstadtkneipe auf, hätte gern ein Glas Wasser und findet den Jüngling hinterm Tresen attraktiv. Zwischendurch erscheinen immer wieder zwei Handelsvertreter, die Vampirgebisse und Gummimasken verkaufen und ständig ungefragt bekanntgeben, sie wollten den Leuten helfen, ein wenig Spaß zu haben.
Man kann natürlich, muss aber gar nicht anfangen, hier irgendwelche metaphorischen Brücken zum Showbusiness, zum Selbstbild des Filmemachers oder überhaupt zu jedweder menschlichen Betätigung zu ziehen.
Dieser direkte Sarkasmus scheint immer durch, aber darüber hinaus ist der Film ein komplexes Kunstwerk, in dem man sich verlieren kann wie in einem Labyrinth. Er ist bitterböse, aber ohne Demagogie. Er ist liebevoll, aber ohne falsche Zuckrigkeit. Man sitzt und staunt, und dann wünscht man sich, dass sich auch hierzulande ein paar Menschen finden, die bereit sind, sich den Geist von so einem Film durchlüften zu lassen, anstatt immer nur das zu gucken, was man eigentlich sowieso schon kennt.
Originaltitel: En duva satt på en gren och funderade på tillvaron
Schweden, Deutschland, Norwegen, Frankreich 2014Buch und Regie: Roy Andersson
Darsteller: Holger Andersson, Nils Westblom, Charlotta Larsson, Lotti Törnros, Viktor Gyllenberg, Jonas Gerholm, Ola Stensson, Oscar Salomonsson
Produktion: Roy Andersson Filmproduktion AB
Verleih: Neue Visionen
Länge: 101 Minuten
Start: 1. Januar 2015
"Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach": Offizielle Website zum Film