Sensationeller Krimi "In die finstere Nacht" Wo jeder Axthieb sitzt

Jim Thompson: Romanzyklus "Savage Night" nach 60 Jahren endlich ins Deutsche übersetzt
Foto: Sharon Thompson Reed/ HeyneDie Hölle, das ist "der Ort, an dem vergängliche Wünsche unsterbliche Bedürfnisse bergen und die Nacht mit dem Stöhnen der einen und den ekstatischen Schreien der anderen abscheuliche Abgründe offenbart", heißt es in Jim Thompsons "In die finstere Nacht". Worte, die der Autor seinem Wiedergänger im Roman in den Mund legt, einem erfolglosen Schriftsteller, der sich selbst "Bockmistverzapfer" nennt. "Ja, es gibt eine Hölle, mein Sohn, und man muss nicht danach graben", beendet er seine Rede - und predigt zu einem Bekehrten: Charlie "Little" Bigger, der Killer im Körper eines Kindes, trägt seine eigene Hölle, erschaffen aus Selbsthass, Grausamkeit und grotesker Realitätsverkennung, stets mit sich herum.
Bigger ist einer dieser monströsen Antihelden, die Jim Thompson Anfang der fünfziger Jahre, in der kreativsten und produktivsten Phase seines Lebens, im Zwei-Monats-Takt auf seine Leser losließ. "Savage Night", das jetzt unter dem Titel "In die finstere Nacht" zum ersten Mal in einer - ganz ausgezeichneten - deutschen Übersetzung vorliegt, gehört zu einem Zyklus von fünf Romanen, allesamt veröffentlicht zwischen 1952 und 1955 als 25-Cents-Paperbacks.
Hinter schreiend bunten Umschlagmotiven (halbentkleidete Frauen waren Pflicht) und reißerischen Titeln wie "A Hell Of A Woman" und "The Killer Inside Me" verbargen sich verstörende Geschichten, erzählt aus der Ich-Perspektive von Killern, Sadisten und Wahnsinnigen. Soziopathen, die im Alltag lange Zeit funktionieren, die eine perfekte Fassade aufbauen, hinter der sie ihre wahre Natur verbergen. Die ihr Versteckspiel dann aber so weit treiben, dass sie selbst nicht mehr unterscheiden können, was die Wahrheit ist und was die Lüge. Das ist der Punkt, an dem Wachsamkeit und Misstrauen in Paranoia umschlagen. Und es wahrhaft mörderisch wird.
Vom Kammerspiel zur fiebrigen Drogenphantasie
Lange braucht "In die finstere Nacht" nicht, um diesen Punkt zu erreichen. Was wie eine klassische Noir-Geschichte beginnt - Killer kommt in Kleinstadt, um einen Job zu erledigen -, entwickelt sich sehr bald zu einem Psycho-Thriller. Bigger mietet sich im Haus seines künftigen Opfers ein und wartet dort auf eine günstige Gelegenheit, seinen Auftrag zu vollenden: Er soll für einen New Yorker Gangsterboss einen unliebsamen Zeugen so beseitigen, dass es nach einem Unfall aussieht. Bigger wartet - und verfällt zunehmend, körperlich und geistig.
Bigger ist jemand, der sich selbst und seiner Umwelt zutiefst entfremdet ist, der unter seiner geringen Körpergröße von 1,55 Metern leidet und gezwungen ist, seine wahre Identität hinter einem Pseudonym, falschen Zähnen und Kontaktlinsen zu verbergen. Ein Mann, der anderen prinzipiell, aber zusehends auch sich selbst misstraut: "Der einzige Mensch, dem ich trauen konnte, war Charlie Bigger. Und dieser abgesägte Hurensohn bereitete mir allmählich auch Kopfzerbrechen."
Je länger sich der Job hinzieht, desto erratischer wird Biggers Verhalten. Er beginnt eine Affäre mit der Ehefrau seines potentiellen Opfers, schläft aber auch mit der verkrüppelten Haushaltshilfe Ruthie. Er trinkt zu viel, halluziniert, verdächtigt jeden, ihn zu überwachen, und wird zunehmend gewalttätig - vor allem gegen Frauen. Am Ende, wenn seine Fassade endgültig in Trümmern liegt, muss Bigger fliehen. Und das klaustrophobische Kammerspiel verwandelt sich in eine Fieber-Phantasie, die an die (erst Jahre später entstandenen) drogengetriebenen Visionen eines William S. Burroughs und den Body-Horror David Cronenbergs erinnert.
Es geht um eine Farm, auf der Vaginas angebaut werden, eine Herde sehr seltsamer Ziegen, eine zerstörte Schreibmaschine, eine Axt. Und mit der zerhackt Jim Thompson schließlich sämtliche Genre-Konventionen. Bis, und das ist wörtlich gemeint, nichts mehr übrig bleibt. Ein Signal zum Aufbruch hätten diese Axthiebe sein können. Doch auch 60 Jahre später kommen auf jeden Jim Thompson, David Peace oder Don Winslow geschätzte 666 Stieg Larssons. Höllisch schade.