Krimi "Die toten Frauen von Juarez" Ein Bulle kriegt das Wracksausen

Krimiautor Sam Hawken: Die Feminicidios ins Blickfeld rücken
Foto: PrivatSchon immer war Mexiko Auffangbecken für all die US-Amerikaner, die es in ihrer Heimat nicht geschafft haben. Für die Gesetzlosen, für die Junkies, für die Perversen. Für Menschen, die sich vor anderen verstecken müssen, oder vor sich selbst.
Einer aus dieser Armee der Verlorenen ist Kelly Courter. Früher, in Texas, galt er als talentierter Boxer. Doch dann kamen der Alkohol, die Drogen, die Niederlagen. Und das Kind, das er im Rausch zu Tode fuhr.
Danach blieb nur noch Mexiko. Der Traum von einem anderen, einem besseren Leben. Den er sich ausgerechnet in Ciudad Juárez erfüllen will. Einer Stadt direkt an der Grenze zu den USA, auf der anderen Seite liegt El Paso. Ciudad Juárez ist eine Boomtown. Hier betreiben US-Unternehmen, weil die Löhne niedrig sind und Arbeiternehmerrechte ein Witz, sogenannte Maquiladoras, riesige Fabriken. Ciudad Juárez ist aber auch eine Totenstadt. In den vergangenen 20 Jahren wurden Hunderte Frauen missbraucht und ermordet aufgefunden. Unzählige weitere werden vermisst.
Kelly Courter träumt von einer zweiten Karriere als Boxer. Doch wer ihn engagiert, bezahlt nicht dafür, dass er boxt. Sondern dafür, dass er blutet. Fallobst. Und so dealt er nebenbei mit Drogen. Und lässt sich treiben, so lange bis er nichts mehr merkt. Nicht einmal, dass seine mexikanische Freundin verschwunden ist. Als ihre misshandelte Leiche gefunden wird, braucht die Polizei einen Sündenbock. Courter wird verhaftet, ins Koma geprügelt. Nach 150 Seiten ist sein Martyrium beendet. Und eine neue Geschichte beginnt.
Lukratives und unmenschliches Gewerbe
Während Courters Reise ins Vergessen führt, erwachen bei einem eigentlich längst Vergessenen alte Instinkte wieder. Rafael Téodulo Sevilla Adáns ist ein Polizist auf dem Abstellgleis, lebt in der Erinnerung an seine verschwundene Tochter, trinkt, bis die Geister der Vergangenheit ihn in Ruhe lassen, wartet auf den Tod. Aber irgendwie hat Sevilla einen Narren gefressen an dem amerikanischen Boxer. Er tut das, was er schon Ewigkeiten nicht mehr getan hatte: ermitteln. Und er hat eine Chance. Weil niemand mit ihm rechnet. Weder die korrupten Polizisten, noch die kleinen Dealer und schon gar nicht die großen Immobilienhaie, die alle zusammen ein ebenso lukratives wie unmenschliches Gewerbe betreiben.
"Die toten Frauen von Juárez" ist ein Erstlingsroman, und man merkt ihm an, dass er geschrieben werden musste. In seinen besten Momenten besitzt er Dringlichkeit, Wärme, Wut, Schmerz. Er wolle mit seinem Roman "die feminicidios wieder ein wenig ins Blickfeld der Öffentlichkeit" rücken, schreibt Sam Hawken, Historiker aus Texas, in seinem Nachwort und benutzt dabei den spanischen Neologismus für den Mord an Frauen. Und ruft dazu auf, sich über Amnesty International zu engagieren.
Das alles ist sehr ehrenhaft, und Hawken hat sicherlich ein großes Herz, sein Talent aber vermag da nicht mitzuhalten. Als habe er sich vom Phlegma seiner Helden anstecken lassen, erzählt er seine Geschichte über weite Strecken dann doch mit einer unerklärlichen Kraftlosigkeit, wechselt kaum einmal das Tempo, findet erst gegen Ende seinen eigenen Sound. So schafft Hawken ungewollt Distanz zu seinen Figuren, die das Potential für ein großes Drama besäßen, und zu seinem Thema, das so viele Möglichkeiten böte.
Wie man das Rätsel um die toten und verschwundenen Frauen von Ciudad Juárez literarisch brillant umsetzen kann, das hat ein anderer Schriftsteller bereits vor Jahren bewiesen: Deshalb sei an dieser Stelle noch einmal Roberto Bolaños überbordendes Mammutwerk "2666" empfohlen. Kein Krimi, aber allemal spannender als "Die toten Frauen von Juárez".
Bislang fanden Sie an dieser Stelle die Krimis des Monats. Ab jetzt werden Kriminalromane auf SPIEGEL ONLINE einzeln rezensiert. Zuletzt: Fred Vargas' "Die Nacht des Zorns"