Feministische Ermittlerin
V.I. Warshawski ist noch nicht "zu alt für diesen Scheiß"
Eine Privatdetektivin untersucht Morde in der Gegenwart - und deckt dabei ein dunkles Kapitel der US-Historie im Zweiten Weltkrieg auf: Elegant erzählt Sara Paretsky die Geschichte im Krimi "Kritische Masse".
Kathleen Turner als V.I. Warshawski im gleichnamigen Film von 1991
Foto: ddp/ interTOPICS/ mptv
Ein enorm hohes Risiko geht ein, wer heute noch Krimis schreibt, in denen Mordermittlungen in der Gegenwart zur Aufdeckung generationenalten Unrechts führen. Dieses Territorium hat Ross Macdonald vor rund 70 Jahren abgesteckt und dann Roman für Roman, über fast drei Jahrzehnte, vermessen, kartografiert und mit Zäunen gesichert. Wer sich also in dieses Gefahrengebiet begibt, muss damit rechnen, als Epigone angeklagt oder ganz einfach ignoriert zu werden.
Sara Paretsky hat sich mit "Kritische Masse", in den USA bereits 2013 erschienen und jetzt in einer makellosen deutschen Übersetzung vorliegend, mitten ins Macdonald-Land gewagt. Vielleicht, weil es der 71-Jährigen nach inzwischen 18 Romanen um die Privatdetektivin V.I. Warshawski herzlich egal ist, was die Kritiker sagen, vielleicht weil die Feministin schon seit ihrem ersten Krimi "Schadenersatz" von 1982 zeigt, dass sie (meist männlich gesetzte) Genreregeln sowieso für ziemlich putzig hält. Spielmaterial allenfalls.
Sara Paretsky
Foto: Steven E Gross
Bestimmt aber, das verrät Paretsky in ihrem Nachwort, weil sie die Geschichte der österreichischen Physikerin Marietta Blau nicht losgelassen hat. Blau leistete in den Dreißigerjahren am Institut für Radiumforschung in Wien grundlegende Forschungsarbeit, musste aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln vor den Nazis nach Mexiko fliehen und starb unbekannt. Den Nobelpreis, für den Erwin Schrödinger sie mehrfach vorgeschlagen hatte, bekam sie nie.
Aus Marietta Blau wird im Roman Martina Saginor, und Paretsky lädt ihre Geschichte mit einer Extraportion Tragik auf. Saginor wird 1943 ins Todeslager geschickt, ihre Arbeiten werden zuvor gestohlen.
Paretsky streut in die stringente Ermittlergeschichte der Gegenwart immer wieder kurze Schlaglichter aus der Vergangenheit ein und enthüllt so nach und nach ein dramatisches Panorama von ungeheurer emotionaler und politischer Wucht. Sie erinnert an ein besonders dunkles und gern verschwiegenes Kapitel der US-amerikanischen Geschichte: die Zeit kurz vor und in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als man in den USA mit dem Kommunismus eine neue Bedrohung heraufziehen sah und Hundertschaften deutscher Wissenschaftler und Waffenexperten rekrutierte, egal welche Gräueltaten sie gerade noch im Namen von Volk, Reich und Führer begangen hatten.
Physikerin Marietta Blau (1894-1970)
Foto: akg-images/ Science Photo Library
Warshawski ist witzig, aber nicht gewollt witzig
Dabei fängt alles einigermaßen alltäglich und vor allem absolut heutig an. V.I. Warshawski, inzwischen auch schon in ihren Fünfzigern, trifft sich mit Freundinnen zu veganen Barbecues, ist aber ansonsten kein Jota weniger stur als in den früheren Romanen.
Ihr aktueller Auftrag: sich um das Verschwinden einer drogensüchtigen Frau (und Mutter) zu kümmern. Ein kleiner Gefallen für eine gute Freundin, mehr nicht, so scheint es anfangs. Die Spur führt in ein Drogenhaus ein paar Stunden außerhalb Chicagos, und schon bald findet Warshawski die erste Leiche. Dann die nächste, und wenig später sieht es so aus, als würde sie auch bald dran glauben müssen.
Auf den nächsten rund 500 Seiten wird es ob der Vielzahl an Personen und der wechselnden Zeitebenen gelegentlich etwas unübersichtlich, allerdings nie langweilig. Letzteres garantiert Paretsky auch dadurch, dass sie ihrer Heldin reichlich Gelegenheit gibt, sich in Actionszenen zu beweisen, dass sie noch nicht "zu alt für diesen Scheiß" ist - nicht dass Warshawski einen solch abgeschmackten Machospruch jemals benutzen würde, sie ist gewitzt, aber nicht gewollt witzig.
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Unter anderem prügelt sie sich mit korrupten Cops, wird lebendig begraben und liefert sich eine Schießerei in einem Crackhouse sowie mehrere handfeste Auseinandersetzungen mit Agenten der Homeland Security, die mit der uneingeschränkten Macht, mit der sie ausgestattet wurden, nicht so ganz klarkommen.
Doch der eigentliche Reiz des Romans besteht nicht in der Action, sondern darin, zu beobachten, mit welcher erzählerischen Eleganz Paretsky ihre Geschichte ganz langsam, aber ungeheuer stringent auffaltet. Wie sie Hinweise einstreut, gelegentlich falsche Fährten legt, dabei den Leser immer ernst nimmt und nie mit faulen Tricks arbeitet.
"Kritische Masse" ist auch ein klassischer Ermittlerkrimi, bei dem sich Leser und Leserin, Detektivin und Autorin jederzeit auf Augenhöhe befinden. Paretsky beherrscht das amerikanische Erzählprinzip des show, don't tell, zeigt meisterlich und ohne jemals zu belehren, wie vieles, das heute in den USA schiefläuft, seine Ursachen in den Verfehlungen der Vergangenheit hat. Würde Ross Macdonald noch leben, er wäre sicherlich stolz auf Sara Paretsky.