S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Wie Facebook arabische Online-Spitzel besiegte
Mit dem Buch "Sternstunden der Menschheit" von 1927 hat Stefan Zweig ein epochales Werk geschaffen und ein Konzept für das heraufziehende Medienzeitalter. Gleich die erste Überschrift lautet "Die Weltminute von Waterloo", es geht um den Moment, in dem Napoleon sein Waterloo erlebte. Weltminute - was für ein Wort, was für ein Versprechen. Die braucht diese Momente, die zum Symbol werden, weil sie in ihrer Verdichtung scheinbar alles erklären, ob sie der Realität entsprechen oder verdichtet und verklärt sind wie bei Zweig.
Im gegenwärtigen Ereignistaumel in Nordafrika hat eine digitale Weltminute - zuerst aufgeschrieben im Magazin "The Atlantic" - zu wenig Beachtung gefunden. Die Rede ist nicht von der Abschaltung des Internets in Ägypten, bei der die beteiligten Kommunikationskonzerne eine wenig ruhmreiche Rolle gespielt haben, um nichts Justiziables zu sagen. Gemeint ist eine Sternstunde, deren Vorspiel 10.000 Kilometer von Nordafrika entfernt in einem kalifornischen Büro beginnt.
Joe Sullivan trägt den Titel des Chief Security Officer bei , auf seinem Profilfoto scheitert er nur knapp am Versuch zu lächeln. Er hat Jura studiert und als Staatsanwalt gearbeitet. Vor seiner Beschäftigung bei dem sozialen Netzwerk baute er im US-Justizministerium für den heutigen FBI-Direktor Robert Mueller eine Spezialabteilung mit den Schwerpunkten Hacking und Urheberrechtsverletzungen auf. Sullivan ist ein technopolitisch versierter Mann, das wird zum Beispiel bei einer Anhörung vor dem Repräsentantenhaus im Sommer 2010 deutlich. Geschickt inszeniert er Facebook als Impulsgeber für die digitale Sicherheit der Jugend. Nur die mangelnde Hilfe der Administration hindere das Unternehmen daran, noch sicherer zu werden. Eine durchaus innovative Sichtweise.
Jeden Monat über 30 Milliarden Fotos, Filme, Postings
Zu Weihnachten 2010 erreichen sein Team Berichte aus . Dort seien Facebook-Seiten gehackt und gelöscht worden, insbesondere solche, die mit den aufkommenden Protesten zu tun hätten. Das korrupte Regime von Zine el-Abidine Ben Ali hat das Land heruntergewirtschaftet. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt seit langer Zeit über 30 Prozent, und die Wut darüber kanalisiert sich auf Facebook. Die Regierung kontrolliert das Netz ebenso rigide wie technisch versiert, viele Seiten sind gesperrt. YouTube ist in Tunesien seit Ende 2007 nicht mehr zu erreichen, aber auf Facebook lassen sich Filme und Fotos noch besser hochladen und verteilen.
Zwischen den Jahren häufen sich die internen Meldungen über "technische Unregelmäßigkeiten" in Tunesien. Sullivans Team beginnt, Nachforschungen anzustellen, doch die ersten Untersuchungen ergeben kaum Auffälligkeiten. Insbesondere die Daten zu den IP-Adressen, an denen sich Manipulationen oft erkennen lassen, scheinen normal. Die Recherchen dauern an. Facebook mit seinen schätzungsweise 100.000 Servern ist ein digitales Monster, das jeden Monat über 30 Milliarden Fotos, Filme, Postings seiner Nutzer bewältigt. In Tunesien wird das Social Network Ende 2010 endgültig zur Kommunikationsplattform der Proteste. Innerhalb von zwei Monaten melden sich über 300.000 Tunesier neu auf Facebook an - bei vier Millionen Menschen mit Netzzugang.
Das Regime stiehlt die Passwörter des gesamten Landes
Nach fast zwei Wochen intensiver Untersuchungen, am 5. Januar 2011, erkennt Sullivan, was für ein unfassbarer Vorgang in diesem Moment in Tunesien stattfindet: Das Regime stiehlt die Passwörter des gesamten Landes. Direkt auf den Servern der Internet-Provider ist eine Software installiert, die Passwörter ausliest und weiterleitet. Ein sogenannter Man-in-the-middle-Angriff dieser Größenordnung und Brisanz war bis dato nicht bekannt.
Sullivan findet sich in einer Situation wieder, in der sein Handeln über das politische Geschick eines Landes entscheiden kann. Der Begriff "Facebook-Revolution" erscheint anmaßend und übertrieben, aber zweifellos kann der Zugang des tunesischen Unterdrückungsapparats zu den privaten Daten weitreichende Folgen haben. Gefährdet sind vor allem Accounts, die sich oft ein- und ausloggen, weil dann das Passwort übertragen wird und ausgelesen werden kann. In Tunesien geht ein Viertel der Nutzer aus Internetcafés online, unter den revoltierenden Jugendlichen sind es wahrscheinlich wesentlich mehr.
Im Maschinenraum von Facebook lautet die erste Frage, ob man überhaupt auf diesen einmaligen Vorgang reagieren soll. Der Jurist Sullivan entscheidet sich für eine technische Antwort: Ein nach den Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Facebook unbefugter Dritter attackiert Facebooks Sicherheitssysteme, das erfordert unbedingt eine Reaktion.
Aber welche? Und wie schnell ist ein adäquates Vorgehen realisierbar?
Zu diesem Zeitpunkt lassen die Nachrichten aus Tunesien erahnen, dass jede Stunde zählt und Menschenleben auf dem Spiel stehen. Sullivan weist sein Team an, aus Tunesien nur noch verschlüsselte Verbindungen zuzulassen. Aber diese Maßnahme ist überwindbar, wenn man physischen Zugang zu den Rechnern der Provider hat.
Sullivans Weltminute - eine letztlich politische Entscheidung
Vielleicht erinnert sich Sullivan in diesem Moment an seinen Chef. Im Oktober 2010 sagte , dass alle Industrien "in a social way" neu gedacht werden müssten. Er meint damit, dass soziale Beziehungen alle Branchen und Technologien verändern werden. Die Lösung des tunesischen Problems, für die sich Sullivan entscheidet, atmet diesen Geist.
Fünf Tage nach der Entdeckung des Angriffs implementiert Facebook eine simple, aber geniale Abfrage. Bevor sich ein Nutzer in Tunesien einloggen kann, muss er eine Handvoll Freunde anhand von Fotos identifizieren. Damit wird es selbst mit dem gestohlenen Passwort für das Regime fast unmöglich, einen Account zu übernehmen. Die Gefahr, dass die privaten Daten von Hunderttausenden gegen sie verwendet werden können, ist abgewendet. Es handelt sich um den Sieg der sozialen Technologie über die nicht-soziale und um die Weltminute des Joe Sullivan.
Vier Tage später flieht Diktator Ben Ali aus Tunesien. Die sozialen Netzwerke haben wahrscheinlich eher eine katalytische Rolle beim Erfolg der Revolution gespielt, intensive Recherchen ergeben ernstzunehmende Hinweise darauf, dass es bereits vor Facebook und Twitter Revolutionen gab. Durch ein ausspioniertes Kommunikationssystem hätte die Revolte aber durchaus scheitern können.
Genau an dieser Stelle beginnen die Fragen, welche Konsequenzen die Vorgänge in Tunesien haben sollen. Was bedeutet in repressiven Staaten Facebooks Zwang zum Klarnamen? Hat seinerseits Facebook die Verpflichtung, Nutzer vor ihren Staaten zu schützen? Ist das Social Network inzwischen mehr als ein Unternehmen, nämlich die Infrastruktur einer digitalen Öffentlichkeit? Und schließlich, auch als Konsequenz der Vorgänge in Ägypten - ist nicht der unzensierte, unkompromittierte Zugang zum Internet und seinen Plattformen ein Menschenrecht geworden, das in der Uno-Menschenrechtscharta verankert werden sollte?
Diese Fragen müssen beantwortet werden - und zumindest die letzte mit Ja.
Mit Material und Inspiration von Alexis Madrigal, The Atlantic