Nachrichtenjournalismus Die Online-Katastrophe

Tageszeitungen: Keine Nachricht ist heute mehr bis zum Folgetag zu halten
Foto: Michael Kappeler/ picture alliance / dpa"Eeeeextrablatt!", krakeelten diese kleinen, ruppigen Jungen in alten amerikanischen Filmen. Sie trugen grobe dreiviertellange Hosen, Kappen auf dem Kopf und einen Zeitungsstapel auf dem Arm, der rapide dahinschmolz: In Zeiten heißer Nachrichten, lernten wir Fernsehzuschauer, reißt man dem Boten die Zeitung aus den Händen.
Drei Monate nachdem in Tunesien der arabische Aufstand begann, Wochen nach Erdbeben, Tsunami und dem Beginn des AKW-Notstands in Japan, zeichnet sich ab: Diese Zeiten sind vorbei. Außer der Zeitungsbote kommt in Echtzeit.
Es ist heute ziemlich unwahrscheinlich, dass jemand von einem wichtigen Ereignis aus der Zeitung erfährt. Und anders als früher scheint die gedruckte Presse selbst von den Krisen-Meldungslagen seit der Jahreswende nicht profitiert zu haben.
Für Christoph Herrnberger, Leiter des Medienvertriebs der Valora Retail Services, die als Dienstleister rund 380 Verkaufsstellen an Bahnhöfen, Flughäfen und Einkaufszentren mit Presseerzeugnissen versorgt, ist die Kalenderwoche 11 ("KW 11") ein Indikator für die Verschiebungen, die der Nachrichtenmarkt erlebt. Ende der KW 10, am Freitag, 11. März 2011, bebte in Japan die Erde. Bald darauf überrollte der Tsunami weite Teile der nordöstlichen Küste Japans.
Die Zeitung und Fukushima: Die verpasste Katastrophe
Das berichtete auch die Tagespresse am Folgetag. Nur Zeitungen mit relativ spätem Redaktionsschluss wussten sogar schon, dass Japans Regierung den atomaren Notstand erklärt hatte (bei SPIEGEL ONLINE am Freitag um 15.26 Uhr gemeldet - und damit für so manche kleine Zeitung zu spät).
Wie ernst die Lage aber in Wahrheit bereits war, erfuhr man am Samstagmorgen definitiv nicht aus der Zeitung: Nur Online-Medien, Radio und Fernsehen berichteten von der sich abzeichnenden Kernschmelze (Online gemeldet um 6.29 Uhr: Da lagen die Zeitungen bereits am Kiosk), vom Aufflammen der Atomdebatte in Deutschland, von den Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes, von der ersten massiven Explosion in Fukushima, ersten Demonstrationen in Deutschland, von den Massenevakuierungen (alles Ereignisse des Samstags).
Von all dem und auch den Ereignissen des Sonntags erfuhren reine Zeitungsleser erst am folgenden Montag. Rundfunk- und Online-Medien beschäftigten sich zu dieser Zeit längst mit Analyse, Hintergrund und Kommentierung. Aus Perspektive der gedruckten Presse war das Timing der Katastrophenserie von Japan somit eine Art Doppel-GAU: Deutlicher hatte man selten vor Augen geführt bekommen, in welchem Maße das gedruckte Werk der Echtzeit-Berichterstattung bei elektronischen Medien heutzutage hinterherhinkt.
Statistiken zeigen: News-Großlagen beeinflussen Verkauf kaum noch
Es ist naheliegend, darin einen Grund dafür zu sehen, warum Zeitungen inzwischen trotz Nachrichten-Großlagen am Kiosk liegen bleiben, zumindest aber nicht signifikant mehr verkaufen als an normalen Tagen. Denn so scheint es zu sein: Die Statistiken von Valora, mit 36,3 Prozent Branchen-Primus im deutschen Bahnhofsbuchhandel, zeigen klar, wie die Nachrichten-Großlagen in Bezug auf den Verkauf der Zeitungen regelrecht verpufften.
In der KW 11, der Woche mit der extremsten Nachrichtenlage seit dem 11. September 2001, verkauften die erfassten Zeitungstitel gerade einmal sieben Prozent mehr als in der Vorwoche. Seitdem brach die stete Flut schlimmster Nachrichten zwar nicht ab, dafür der Verkauf der Zeitungstitel aber wieder ein: In der KW 12 verbuchten die Händler ein Minus von neun Prozent.
Für den Vertriebsexperten Herrnberger sind all das aber noch nicht einmal relevante Zahlen: Sie liegen im Bereich der normalen Fluktuation, die von vielen Faktoren abhängig sei - vom Wetter bis zu Saison- und Ferienzeiten, dazu von Werbeaktionen wie Gutschein-Verteilungen, die Auflagenhöhen kurzfristig beeinflussen können. Seit 2001, sagt Herrnberger, sei der Einzelverkauf der Zeitungen klar rückläufig, und dieser Schwund gehe "weit schneller vonstatten, als man gedacht hat".
Herrnberger hält das für einen Beleg, dass Zeitungen das Aktualitätsrennen gegen andere Medien verloren haben. Das Informationsbedürfnis der Bürger sei nach wie vor vorhanden, "aber die haben heute Smartphones und lesen das online".
Wenn eine Zeitung heute noch als aktuelle Medienmarke glänzen will, gibt es dafür nur noch zwei Möglichkeiten. Die eine ist Hintergrund, Einordnung und Analyse, die man Druckwerken zu Recht nach wie vor zutraut. "Die Magazine", sagt Herrnberger, "konnten im Gegensatz zu den Zeitungen mehr verkaufen." So habe etwa die "Zeit" im Einzelverkauf des Bahnhofsbuchhandels in der KW 11 rund ein Drittel zulegen können, alle politischen Magazine hätten in der Woche gut dagestanden. Magazine haben im Reisebuchhandel allerdings auch ein Heimspiel: Zahlen aus dem Presse-Grosso des normalen Zeitschriftenhandels liegen noch nicht vor.
Die Zeitungen glänzten durchaus - nur nicht am Kiosk
Die andere Möglichkeit haben auch die Zeitungsmacher längst begriffen. Bei allen Bekenntnissen zum Druckwerk, mit dem nach wie vor das Gros des Umsatzes gemacht wird, ahnt man in den Verlagen längst, dass die Zeit der Zeitung als aktuelles Medium zu Ende geht. Aus Perspektive der Zeitungen ist das eine Art Übergang, ein Wechsel des primären Vertriebskanals für Nachrichten.
Die gedruckte Zeitung selbst aber wird sich verändern müssen, um weiter Käufer zu finden - das Beispiel der Magazine deutet an, in welche Richtung es gehen könnte. Auch das Konzept des "Magazins für jeden Tag" wird in Deutschland aber nicht über 130 Zeitungstitel tragen - die Titel werden sich inhaltlich stärker voneinander absetzen müssen, meist wohl über eine stärkere Betonung der regionalen Kompetenzen.
Dass Online-Medien irgendwann die gedruckte Zeitung beerben würden, zeichnete sich seit Ende der Neunziger ab. Dass es längst so weit ist, dokumentierten die Zeitungsverlage mit ihren Entscheidungen und Aktivitäten in den letzten zwei Wochen selbst.
Denn was sie an heißen Nachrichten zu bieten hatten, das hielten sie nicht mehr zurück. Über "online first", die Frage, ob nun Druck oder Internet Vorrang haben sollte, wurde gar nicht mehr diskutiert. Keine Nachricht von Wichtigkeit ist heute mehr bis zum Folgetag zu halten. So brachten die Titel von "Bild" bis zur "Süddeutschen Zeitung" alle ihre relevanten Nachrichten online, ihre Sonderberichte und Korrespondentenbeiträge, ihre Kommentare und Analysen.
Zurückhaltung, um noch Stoff für das "Hauptprodukt" zu halten, wie dies bisher üblich war: Fehlanzeige. Wozu auch?
Was die Verlage ihren Lesern im Web boten, war aktuell und teils sogar beeindruckend. Sie selbst demonstrierten dort, dass der elektronische Vertriebsweg nicht nur schneller ist, sondern auch Darstellungsformen und Vertiefungen erlaubt, die in gedruckter Form gar nicht möglich sind. Man braucht keine seherischen Fähigkeiten für die Prognose, dass alle relevanten News-Portale im nächsten Monat deutlich gesteigerte Abrufzahlen melden werden - unter 20 Prozent plus wird sich das bei kaum einem Titel bewegen, einige werden deutlich mehr zulegen.
Mit Katastrophen macht TV Quote - verliert am Ende aber auch

Zeitungsjunge (1947): Damals Bote heißer Nachrichten, heute bringt er die von gestern
Foto: Fox Photos/ Getty ImagesZumindest in den ersten Tagen nach der Katastrophe in Japan legten auch die informatorischen Formate im Fernsehen auf ein seit Jahren nicht mehr gesehenes Niveau zu. Das Interesse an den Katastrophen war groß, hielt auf diesem Niveau aber nicht lange an. Immerhin wurden für Informationssendungen Einschaltquoten von knapp über 20 Prozent verbucht.
Doch Information hat es schwer in einem Medium, das heute vor allem Unterhaltungsmedium ist. Die Quotenspitze 2011 hält auch nach Fukushima noch immer das Dschungelcamp, das im Januar bis zu 35 Prozent der Zuschauer locken konnte.
Aufgewacht, ARD und ZDF: Mit Information könnt ihr noch punkten
Immerhin: Zu Quotengewinnern machten die schlimmen Meldungslagen vor allem ARD, ZDF und die Nachrichtensender. In den ersten Tagen nach dem Beben waren die Bilder frisch, der weltweite Schock ebenso. Gleich sechs Nachrichten- und Informationsformate schafften es schon am Freitag, dem Tag der Katastrophe, in die Top-Notierungen der Quotenzähler, gleich fünf waren kräftiger als "Wer wird Millionär" - so etwas hat es lange nicht gegeben. Doch schon am Folgetag, dem 12. März, lag direkt hinter der "Tagesschau" wieder "Deutschland sucht den Superstar", am 13. März auf Platz drei hinter "Tagesschau" und "Brennpunkt" eine Wiederholung von - ausgerechnet - "Stirb langsam 4".
Bemerkenswert: Vom 11. bis 22. März schaffte es die ARD viermal und das ZDF zweimal, den höchsten Marktanteil des Tages zu verbuchen (die anderen sechs Mal siegte RTL). Information ist die Ware, die man den Öffentlich-Rechtlichen zutraut, die man von ihnen sehen will - noch.
Denn der nähere Blick auf die Quoten verrät auch, wer fernsah - und wer eben nicht: In der sogenannten werberelevanten Zielgruppe von 14 bis 49 Jahre hieß der Marktanteilssieger in zwölf Tagen Fukushima zwölfmal RTL. Nur an einem einzigen Tag schaffte es die ARD, in der auch von ihr so heftig umworbenen Zielgruppe nur acht Prozent Marktanteil zu erreichen - und das verdankte sie nicht etwa ihren Informationssendungen, sondern einem "Tatort".
Damit zeichnet sich ab, dass Online nicht nur die Papier-Zeitung als aktuelles Nachrichtenmedium beerben wird, sondern auch das Fernsehen. Als Informationsmedium sehen das Fernsehen vor allem die Älteren. Für jüngere Zielgruppen ist es ein Unterhaltungsmedium, sie suchen sich ihre Infos online.
Digitalisierung wird die Zeitung beschleunigen
Dieser Wachwechsel an der Nachrichtenfront begann sich bereits am 11. September 2001 abzuzeichnen: Online etablierte sich fast über Nacht als flexibles, hochaktuelles Informationsmassenmedium. Verhindert hat den Wachwechsel über Jahre vor allem die mangelnde Mobilität des Mediums.
Inzwischen ist das kein Argument mehr. Wer will, liest seine Online-Nachrichten im Bus oder im Bad - oder auf der Toilette. Geräte wie Apples iPad sind die ersten Vertreter einer kommenden Klasse mobiler Lesegeräte, die das Papier funktionell in fast jeder Hinsicht übertreffen und ersetzen können. Der Wechsel hin zu solchen Geräten birgt die Chance, die Zeitung mit all ihren Facetten und Stärken auf eine digitale, schnelle, wieder aktuelle Plattform zu heben.
Vor zehn Jahren hätten viele Zeitungsmacher das wohl als Gefahr gesehen, jetzt erkennen immer mehr darin ihre größte Chance: Die Virtualisierung des Produkts Zeitung lässt hoffen, in Sachen Aktualität und Relevanz wieder aufholen zu können.
Insofern ist es dann doch falsch zu sagen, die Nachrichten-Großlagen wären den Zeitungen nicht zugutegekommen. Es ist so, wie das ein Student bei einer Straßenumfrage 1998 ausdrückte: Jeden Tag lese er Zeitung, sagte er. "Nur eben online. Ist doch auch Zeitung, oder?"