Mediengewalt Coole Cop-Girls und blutige Gesichter
Die erste Überraschung: Abends und nachts geht es geradezu gesittet zu. In der "Kommissarin" sieht man ab 20.15 Uhr in der ARD eine ermordete Frau, die sympathische Ermittlerin Hannelore Elsner und jede Menge gediegene Langeweile.

8.50 RTL II: "X-Factor"

9.59 Uhr Phoenix: Attentat auf Pim Fortuyn

12.15 Uhr RTL II: "New Spiderman"

17.15 Uhr ARD: Amateurvideo von einem Mexikaner, der Kinder überfährt

20.15 Uhr 3sat: "Muttertag"

20.15 Uhr ARD: "Die Kommissarin"

20.15 Uhr Vox: "Dark Angel"

20.15 Uhr RTL II: "Conan der Barbar"

21.15 Uhr RTL "Highspeed"
8.50 Uhr RTL II |
9.59 Uhr Phoenix |
12.15 Uhr RTL II |
17.15 Uhr ARD |
20.15 Uhr 3sat |
20.15 Uhr ARD |
20.15 Uhr Vox |
20.15 Uhr RTL II |
21.15 Uhr RTL |
Klicken Sie auf ein Bild, um zur Großansicht zu gelangen.
In "Dark Angel. Der Todeskuss" zur selben Zeit auf Vox gibt es coole Cop-Girls zu bestaunen, deren Kampfszenen wie Balletteinlagen wirken eine wüste Attacke sind nur die Dialoge, die Geist und Nervensystem veröden.
Die österreichische Satire "Muttertag" auf 3sat bietet mehr: Bilder eines Totschlags und das öffentliche Pinkeln gegen eine Hauswand mit dem Graffito "Tod den Architekten". Allerdings ist das Werk schon wegen des exzessiv dargebotenen Dialekts der Darsteller kaum zu entschlüsseln: Satire darf schließlich alles auch unverständlich sein.
Ist die neue Angst vor Mediengewalt eine Chimäre oder der Zufall dieses Abends? Alarmisten können aufatmen: RTL II stört die abendliche Friedlichkeit und sendet um 20.15 Uhr "Conan der Barbar". Der Film, der Arnold Schwarzenegger 1981 zum Durchbruch verhalf, ist reinstes Gewalt-Kino, ein keltisches Mythengebräu, in dem alles serviert wird, was Bange macht, zum Beispiel eine grüne Menschen-Bouillon, in der Hände oder ein Kopf herumschwimmen. Gewaltfreie TV-Abende auf allen Kanälen sind unwahrscheinlich.
Wirklich Drastisches aber präsentiert Phoenix morgens um 9.59 Uhr: Bilder vom Attentat auf den niederländischen Politiker Pim Fortuyn, das sich tags zuvor ereignet hat. Aus der Nähe ist zu sehen, dass Fortuyns Augen seltsam starr aufgerissen sind. Dann zeigt eine Großaufnahme seinen bleichen Brustkorb. Ärzte versuchen eine Herzmassage. Im Textlaufband am Bildschirmrand ist ausgerechnet in diesem Moment zu lesen: "Die tägliche Konfrontation mit Gewalt in den Medien habe Auswirkungen auf die Seelen von Kindern und Jugendlichen, sagt Schily in der ARD."
Was, um Himmels willen, ist eigentlich schädliche und unbedingt zu unterdrückende Gewalt im Fernsehen? Die Leichen im Tatort? Die blutigen Bilder der Nachrichten? Die Schauergeschichten der Boulevardmagazine, das Gebrülle der Talkshows oder die wilden Actionfilme?
Nach dem Schrecken von Erfurt schien ein Gefühl alle Bürger zu beseelen: weg mit der Gewalt aus den Medien, auch aus dem Fernsehen. Nach dem runden Tisch bei Kanzler Schröder zum Thema wich das Gefühl allerdings der Einsicht: Es fehlen die Begriffe und plausiblen Analysen.
Helfen die Definitionen der Juristen von der (unter Strafe stehenden) Gewaltverherrlichung wirklich weiter? "Verherrlichen der grausamen usw. Gewalttätigkeiten", heißt es im führenden Kommentar von Schönke / Schröder, "ist ihre positive Wertung in dem Sinn, dass sie als in besonderer Weise nachahmenswert erscheinen, z. B. dadurch, dass sie als Großartiges, besonders Männliches oder Heldenhaftes, als billigenswerte Möglichkeit zur Erreichung von Ruhm, Ansehen usw., als die richtige Form der Lösung von Konflikten usw. dargestellt werden." Puh.
Dass mit solchen Wortungetümen kein Damm gegen Mediengewalt errichtet wurde und werden wird, ist allen klar. Wo die Begriffe fehlen, stellt sich nun schnell wieder das Dauerpalaver über Medien ein: Der Kulturbeauftragte der Bundesregierung, Julian Nida-Rümelin, redet nebulös vom "kulturellen Gesamtklima in Deutschland", das es "positiv zu beeinflussen" gelte.
Der Münsteraner Medienwissenschaftler Friedrich Krotz fordert ein "institutionalisiertes Gespräch über Medienqualität",
"Bild" zitiert den Vorsitzenden der Landesmedienanstalten, Norbert Schneider, mit der Aussage, in den letzten 35 Jahren habe sich bei der Gewalt im TV "nichts Erhebliches geändert". 70 Morde pro Tag und stündlich 5 Gewaltszenen haben schon die Weizsäcker-Kommission 1994 beschäftigt. Grund zur Beunruhigung?
Der ganz gewöhnliche Fernsehdienstag, den sich der SPIEGEL zur Programmbeobachtung ausgewählt hat, förderte so viel vorweg nur wenig fiktionale Gewaltexzesse zu Tage. Mag der Verdacht berechtigt sein, dass die Sender wegen der Morde von Erfurt ihre Programme vorsorglich gesäubert hatten, Tatsache bleibt: Den härtesten Stoff boten die Nachrichten. Doch soll es deshalb Rücksicht auf jugendliche Seelen ausgerechnet in den TV-News geben? Müssen die die Welt nicht zeigen, wie sie ist auch weil ihre Bilder im hektischen Wettbewerb mit anderen Sendern stehen? Andererseits: Welche Informationen liefert ein bleicher Brustkorb, außer der Erregung von Schreckensgefühlen? Niemand, bestimmt kein Gesetz, könnte dieses Problem lösen.
Unsicher bei der Beantwortung solcher Fragen sind nicht nur die Medienfachleute, sondern auch die Berufsbedingt-Wenigfernseher aus der Politik: Die SPD-Familienministerin Christine Bergmann hat "nachmittags zu viel Gewalt im Fernsehen" entdeckt, der rechtspolitische Sprecher der Grünen, Volker Beck, fürchtet schon jetzt die Folgen einer moralischen Selbstzensur der Anstalten: Es könne nicht angehen, "dass künftig im deutschen Fernsehen nur noch Heimat- und Tierfilme zu sehen sind".
Bevor im TV nur noch die Heide blüht und sich das Nashorn paart, gilt es vielleicht erst mal zu protokollieren, wie viel gefährlichen Stoff das Fernsehen tatsächlich bietet.
Zwischen den Nachrichten geht es nicht immer wie in der seelenschonenden Märchenstunde zu. Um 7.20 Uhr etwa ist auf RTL II zu sehen, wie Pokémons auf Befehl zweier böser Zauberer mit Feuer- und Wasserwerfern zusammengetrieben werden.
Der Nachrichtensender Phoenix zeigt um diese Zeit eine BBC-Doku über die Varus-Schlacht. Eine Off-Stimme schildert ohne Scheu, wie toll es Hermanns Mannen trieben: "Auf Altären hatten die Cherusker die vornehmsten Gefangenen geschlachtet." Die Köpfe wurden "an die Bäume genagelt" und "den Pferden das Fell abgezogen". Schönen guten Morgen, Deutschland.
Wer noch nicht ins Büro oder in die Schule gegangen ist, kann auf der Spur des Schreckens bleiben. Um 8.50 Uhr auf RTL II hütet in "X-Factor" eine junge Frau in einer einsamen Villa ein. Doch das Haus erweist sich als Geisterheimstätte. Erst spielt der Fernseher verrückt, dann hört die junge Frau gruselige Klopfgeräusche. Sie scheinen aus dem Keller zu kommen. Mit einem Messer in der Hand schleicht die Frau die Treppe hinab, die Klinge wirft einen langen Schatten auf die Wand. Die Klopfgeräusche werden lauter. Mit Entsetzen im Gesicht öffnet die Frau eine Klappe in der Mauer. Großaufnahme eines verdreckten blutigen Gesichts. Es ist die Frau des Villenbesitzers ihr Mann hatte sie eingemauert.
Um 9.00 Uhr auf Kabel 1 ist "Superman" mit einer ermordeten Frau in Bluse und rosa Küchenschürze zu sehen. Die Untote ist aus einer Zwischenwelt in die echte zurückgekehrt, um ihren Killer zu finden.
Um 9.10 Uhr lädt ProSieben zur "Blutspur in die Karibik". Schreiend liegt ein junger Mann im Krankenhaus, das Gesicht ist blutig, sein Hals wird von einer Plastikmanschette gestützt. Nach dem Motorradunfall ist seine Freundin Lissy verschollen. Dann schießt ein Scharfschütze aus dem Hubschrauber auf einen Mann in einem Schnellboot. Dem Opfer läuft Blut aus dem Mund, die Bootswände sind blutverschmiert.
Später ist auf Vox in der Soap "Unter uns" der Bombenalarm in einer Schule mitzuerleben. Ein schwarz Maskierter hält eine Fernzündung in der Hand. Er wird von einem jungen Mann überrascht, der mit einer Pistole auf ihn zielt.
Der Ex-Boss von RTL, Helmut Thoma, entschuldigte sich unlängst im Namen des kommerziellen Fernsehens für solche peinlichen Produktionen. Gewalt, so sagte er in einer Talkshow, sei ein im Grunde absterbendes Genre. Aus ökonomischen Gründen seien die privaten Anstalten aber gezwungen, gewaltgeneigtere US-Ware aus alten Beständen auf quotenschwachen Sendeplätzen zu denen der Vormittag gehört zu versenden. Erst kommt das Geld, dann die Moral.
Der Mittag naht, die Talkmeister öffnen ihre Palaverstuben. Sechs Talkshows insgesamt greifen nach den jüngeren Zuschauern und erreichen an diesem Dienstag bei den unter 49-Jährigen einen Marktanteil von 18 Prozent.
Es wird nicht geschlagen, gekratzt oder getreten. Das historische Verdienst des seit mehr als einem Jahrzehnt durch die Privatsender etablierten Genres ist unbestritten: Sie lassen solche Jugendlichen zu Wort kommen, die das bildungsbürgerliche öffentlich-rechtliche System in der Regel auszusperren pflegte: genitivunsichere Menschen ohne Abitur, die sich scheuen, von dünkelhaften älteren Moderatoren gegängelt zu werden.
Die Öffnung aber hatte ihren Preis. Statt um Begriffe geht es beim heutigen Talk um die Darstellung von Positionen. Es zählt nicht das Florett, sondern der Säbel. Es fallen Späne, ohne dass zuvor sonderlich viel an den Themen gehobelt wurde. Kleidung und Frisur werden zum Argument erhoben, die Achtung des anderen ist so unwichtig wie die Einhaltung von Minimalregeln der Höflichkeit.
Junge, eigentlich lernfähige Menschen bestärkt die Talkinszenierung, in der eigenen Meinung wie in einer Festung zu leben. Der andere hat immer Unrecht. Die gefährliche Eigenbrötlerei und die damit einhergehende Unfähigkeit, der sozialen Isolation zu entrinnen, wird so bestärkt.
Auch die soziale Passivität: Nicht die Gäste, sondern die Planer hinter den Kulissen vergeben die Rollen für das Stück, das gerade aufgeführt werden soll. An diesem Dienstag werden Spiele inszeniert, die oft auf dem Talkspielplan stehen. Franklin (Sat.1) und Oliver Geissen (RTL) bitten zum bitter-süßen Schwank: Ich bin gern asozial, na und? Die junge Mutter Ronja sie lebt nur von der Sozialhilfe will sich ausschließlich um ihr Kind kümmern. Sie findet keine Gnade. Was habe das Kind davon, wenn sich die Mutter "verloddern" lasse, wird sie angeklagt. Schnell ist Ronja platt.
Bei Geissen kriegen die Sozialverweigerer noch härter aufs Dach. 500 Euro bekommt Meike, 17, von ihren Eltern und gibt sie fröhlich aus, ohne sich selbst um Arbeit zu bemühen. Eine Vertreterin der Moral mit thüringischem Akzent würzt ihre Anklage durch einen verächtlichen Blick auf das rundliche Glückskind: "Wurstpelle krieg ich beim Fleischer billiger." Zwei andere Sozialverweigerer müssen sich als "faule Sau" und hirnlose Schönlinge beschimpfen lassen.
Trotzdem gibt es doch noch so etwas wie eine Reaktion auf Erfurt. Die amtsmüde RTL-Moderatorin Bärbel Schäfer im Herbst will sie in seriösere Gefilde wechseln spielt an diesem Dienstag die Versöhnerin. Schäfer führt getrennte Verwandtschaft zusammen, mustert den verlorenen Sohn auf ihre Art und freut sich: "Jetzt sind die Tränen da."
Von 14.00 Uhr an stellen sich die wahrscheinlichen Nachfolger der TalkshowDompteure vor: Die Psychologin Angelika Kallwass und Fernsehrichterinnen und -richter wie Barbara Salesch, Ruth Herz und Alexander Hold. Das ist kaum mehr als ein Hoffnungszeichen für die Kommunikationskultur.
17.15 Uhr ist die Zeit des Boulevardmagazins der ARD "Brisant". Der erste Filmbericht: Ein offenbar durchgeknallter Mexikaner fährt mit seinem Pick-up absichtlich in eine Gruppe kleiner Kinder, die auf einer Wohnstraße gerade eine Parade proben. Ein Amateurvideo dokumentiert die Szene. Nur der direkte Aufprall ist nicht zu sehen, aber dann schreiende und blutige Kinder auf dem Asphalt. Zwei von ihnen sterben. Es sind die grauenhaftesten Bilder dieses Fernsehtags, auch sie aus dem realen Leben. Der Fahrer, den die aufgebrachten Mütter lynchen wollen, kommt ins Gefängnis. Dort sagt er ungerührt ins Mikrofon, die Kinder hätten die Straße blockiert. Er habe so handeln müssen. Vorhang zu und alle Fragen offen.
Zeit, mit den Gräuelbildern fertig zu werden, bleibt dem Zuschauer nicht. Der News-Flash in "Brisant" zeigt Bilder vom Amoklauf eines 61-jährigen Sportschützen im Kreis Bad Segeberg, bei dem ein Polizist verletzt wurde.
Was aber lehrt die Wanderung durchs Programm eines ganz normalen Fernsehtags? Es ist das Medium an sich, das junge wie ältere Zuschauer rund um die Uhr mit zweifelhaften Vorbildern und Gewalt konfrontiert; eine Kontrolle der TV-Bilderwelt, wie sie Politiker derzeit gern fordern, ist kaum zu bewerkstelligen; auch die Appelle an die Selbstverantwortung der Fernsehmacher sind wohl bald wieder vergessen.
Wirksam bannen jedoch lässt sich die Bilderwelt des Fernsehens ebenso wenig: Totale Fernsehabstinenz für Kinder und Jugendliche wäre in den meisten deutschen Familien nicht nur schwer durchzusetzen, letztlich würde sie angesichts anderer Zugangswege zu Gewaltdarstellungen etwa per Internet auch wenig nützen, vermuten Experten wie der Münchner Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer: "Gewalt ist faszinierend, erregend, letztlich für jeden Menschen."
Die Verantwortung der Erwachsenen bestehe vor allem darin, "Kontakt zu halten", also mit den jungen Zuschauern über das zu reden, was sie in der Glotze sehen, so Schmidbauer: "Von Verboten halte ich nichts."
NIKOLAUS VON FESTENBERG, REINHARD MOHR, MARIANNE WELLERSHOFF