
Flutkatastrophe in Russland Gouverneur weist jede Schuld von sich
Als das Wasser die Straßen des 60.000 Einwohner zählenden Städtchens Krymsk wieder freigegeben hatte und mit ihnen die Leichen von mindestens 151 Ertrunkenen, wagte sich die Staatsmacht in Gestalt des Gouverneurs in das Katastrophengebiet. Die Provinzstadt Krymsk, 30 Kilometer entfernt von Russlands Schwarzmeerküste gelegen, war am Wochenende von einer Wasserwalze überrollt worden, ausgelöst durch Sturzregen in den umliegenden Gebirgen.
Mindestens 171 Menschen kamen durch die Überschwemmungen in der in Russland beliebten Urlaubsregion insgesamt ums Leben. Doch keine Stadt traf es so schwer wie Krymsk, das nachts von den Wassermassen überrascht wurde. Sieben Meter hoch soll die Flut gewesen sein, die vom Landesinneren Richtung Küste rollte. Angesichts dieser mörderischen Wucht bemühte Präsident Wladimir Putin einen Vergleich mit jenen tödlichen Wellen, die in Asien wie aus heiterem Himmel ganze Küstenstreifen verwüsten.
"Wie ein Tsunami" hätten sich die Wassermassen den Weg gebahnt, befand der Staatschef. Damit wollte Russlands starker Mann auch seiner Überzeugung Ausdruck geben, die Naturgewalt sei eben nicht aufzuhalten gewesen und folglich trage niemand Schuld am Tod der Opfer, schon gar nicht der Kreml oder die Behörden.
Im zerstörten Krymsk sind die Bewohner anderer Auffassung. Das musste auch Provinzgouverneuer Alexander Tkatschjow erfahren, als er sich den aufgebrachten Bürgern stellte. "Glaubt ihr etwa, die Katastrophe ist menschengemacht?" rief der Statthalter des Kremls. "Jaaaaaa" entgegneten ihm die wütenden Menschen. "Aber woher soll das Wasser gekommen sein?", fragte der Gouverneur. "Aus dem Stausee", schallte es aus der Menge zurück. Gemeint ist die 15 Kilometer von Krymsk entfernt gelegene Talsperre.
Schwindendes Vertrauen in Behörden und Regierung
Die Bürger glauben, die Schleusen des Damms seien mit Absicht geöffnet und ihre Stadt geopfert worden, um Noworossijsk zu schützen, ein russisches Urlaubsparadies. Dabei gibt es gar keinen Abfluss in Richtung Noworossijsk, und die Behörden versichern, niemand habe den Befehl zur Flutung von Krymsk gegeben, in Wahrheit sei der Stausee schlicht übergelaufen.
Doch die Beteuerungen fruchten wenig: 70 Jahre Sowjetpropaganda und nunmehr zwölf Jahre gelenkte Medien in Putins neuem Russland haben das Misstrauen der Bürger gegenüber öffentlichen Verlautbarungen geschürt. So legt die abfließende Flut einen Kollateralschaden offen: das erodierende Vertrauen der Russen in Behörden und Regierung.
"Nicht die Naturgewalten haben uns überschwemmt, sondern die Staatsmacht", verkündet am Montag die auflagenstarke Moskauer Boulevardzeitung "Moskowskij Komsomolez". Die Behörden hätten gewarnt sein müssen. Schon vor zehn Jahren, im August 2002, wurden weite Teile der Schwarzmeerregion nach heftigen Regenfällen überflutet, mindestens 60 Menschen starben damals.
Während nun Verschwörungstheorien blühen, mühen sich Umweltschützer, den Fokus auf die eigentlichen Ursachen der Flut zu lenken. Das Katastrophengebiet liegt zwischen der flachen Schwarzmeerküste und über 3000 Meter hohen Ausläufern des Kaukasusgebirges. Früher hätten Wälder bei heftigen Regenfällen das Abfließen des Wassers gebremst, nach umfassenden Rodungen "gibt es heute aber nichts mehr, um es aufzuhalten", so Igor Tschestin von der Naturschutzorganisation WWF.
Zweifel am Notfallmanagement
Ähnliche Überflutungen drohten in der 200 Kilometer entfernten Schwarzmeerstadt Sotschi, 2014 Austragungsort der Olympischen Winterspiele. Skipisten und andere Sportanlagen würden dort unter Verletzung von Sicherheitsstandards an "gefährlichen Orten" errichtet. Ein Unwetter wie in Krymsk würde sie "alle in den Fluss Msymta" spülen.
Die große Zahl von Todesopfern weckt zudem Zweifel am Notfallmanagement der Behörden, die bereits Fehler eingeräumt haben. Zwar wurden wohl am Freitag ab 22.45 Uhr Warnmeldungen im Fernsehen eingeblendet. Einige Viertel von Krymsk hatten da aber offenbar gar keinen Strom mehr.
Statt Sirenen oder die Martinshörner der Einsatzwagen von Polizei und Feuerwehr einzusetzen verschickten Russlands Katastrophenschützer offenbar lieber SMS. Laut der angesehenen Tageszeitung "Kommersant" waren die Nachrichten jedoch nutzlos: Mal erreichten sie die Empfänger erst am Tag nach der Katastrophe, mal fehlte ausgerechnet der entscheidende Textabschnitt mit der Warnung vor dem Hochwasser.
In Krymsk nährt Gouverneur Tkatschjow selbst Zweifel daran, dass die Behörden alles in ihrer Macht Stehende getan haben, um die Tragödie zu vermeiden. Ja, sagt der Provinzfürst, die Unwetterwarnung habe ihn erreicht, aber erst spät: um 22 Uhr. Zu dieser vorgerückten Stunde sei es eben nicht mehr möglich gewesen, die Bürger per TV, Radio und Fernsehen zu warnen: "Oder hätten wir etwa jedes Haus abklappern sollen?"
Am Montag schob Tkatschjow die Verantwortung weiter. Der Gouverneur setzte den Bürgermeister von Krymsk und den Chef des gleichnamigen Bezirks ab. Beide hätten von den Flutwarnungen gewusst, die Bevölkerung aber nicht rechtzeitig gewarnt.