
Kaiser Akihito Japans letzte Hoffnung in Krisenzeiten
Es ist still geworden am Kaiserpalast in Tokio. Gespenstische Leere umgibt das grünbewachsene Areal, aus dem die grünen Kupferdächer der Palastanlage flach emporragen. Der Fotograf, der hier sonst die Reisegruppen knipst, baut seine Kamera nur noch aus Gewohnheit auf. "Die Katastrophe von Fukushima hat die Touristen vertrieben", sagt er, "nichts ist mehr, wie es bis vor zwei Wochen war."
Und doch dringt Kaiser Akihito, 77, dieser Tage plötzlich wieder so tief in das kollektive Bewusstsein des Inselvolkes wie seit langem nicht. Vergessen sind die schrillen Schlagzeilen, die unlängst noch Japans Klatschblätter schmückten: das ewige psychische Leiden von Prinzessin Masako, der Zwist zwischen Kronprinz Naruhito und dem Rest der Familie.
Denn je weniger die Regierung und die Bosse von Tepco, der Tokyo Electric Power Company, die Unglücksreaktoren in Fukushima unter Kontrolle bekommen, und je heftiger sich die Japaner vor der radioaktiven Strahlung ängstigen, die der Wind aus Fukushima je nach Wetterlage bis in ihre Hauptstadt trägt - desto verzweifelter suchen sie inneren Halt beim Tenno, ihrem Monarchen.
Das "Unerträgliche" ertragen
Der Vergleich ist zwar gewagt, aber ein wenig erinnert Tokio derzeit an die letzten Kriegstage im August 1945. Über Wochen konnten sich damals die Spitzen von Heer und Marine und die zivilen Berater des Kaisers nicht darauf einigen, Nippons unausweichliche Niederlage einzugestehen und zu kapitulieren. Wie gelähmt saßen sie sich auf endlosen Sitzungen gegenüber, keiner wollte die Verantwortung für das nationale Desaster übernehmen.
Doch dann beendete Kaiser Hirohito das lähmende Patt. Über Radio forderte er die Untertanen auf, das "Unerträgliche zu ertragen" - zum ersten Mal hörten die Japaner damals die Stimme ihres göttlichen Monarchen. Anschließend legten die Militärs die Waffen nieder.
Und nun, im Schatten von Fukushima, suchen die Japaner wieder nach Orientierung. Denn die hilflosen Beschwichtigungen ihrer Regierung bewirken das Gegenteil: Am Donnerstag trank Tokios Gouverneur Shintaro Ishihara, 78, vor laufenden Fernsehkameras demonstrativ ein Glas Leitungswasser. Doch in Tokio hamstern seine Bürger nun erst recht kistenweise Mineralwasser, jeder für sich.
Und zugleich vertrauen sie eben auf den Kaiser, Nippons letzte Hoffnung in Krisenzeiten.
Toshihiko Tadahira, 64, ist mit seinem Sohn Hayato, 29, zum Palast gepilgert. Die aufmunternden Worte, die der Tenno neulich in einer Videobotschaft an sein Volk richtete, hätten ihn zutiefst gerührt, sagt er, gerade in diesen Tagen, in denen doch auf kaum etwas noch Verlass sei.
"Der Tenno ist immer für uns da"
Tadahira verkauft Lkw der Marke Fuso, der japanischen Daimler-Tochter. Derzeit hätten sie in der Firma nichts zu tun, sagt er, weil viele Zulieferer keine Teile mehr liefern. Dann dreht sich Tadahira zum Kaiserpalast um: "Der Tenno ist alt und gebrechlich" sagt er, "aber er ist immer für uns da."
Es sind keine großen Worte, mit denen der Tenno seine Landsleute derzeit rührt, sondern leise, bescheidene Gesten der Solidarität: Um Strom zu sparen, lässt er verlauten, benutze er seinen Palast derzeit nur, wenn unbedingt nötig, zum Beispiel für die Ernennung von Beamten. Ansonsten halte er sich in seiner privaten Residenz auf, die auf demselben Areal liegt, versteckt zwischen hohen Bäumen.
Auf seinem Sommersitz nördlich von Tokio ließ Akihito überdies das Wohnheim für sein Personal öffnen. Dort dürfen obdachlose Opfer von Beben und Tsunami jetzt heiße Bäder nehmen. Und sein Palast-Krankenhaus in Tokio soll je nach Lage auch Katastrophenopfer behandeln.
Viel mehr könnte der Kaiser für sein Volk auch kaum tun, selbst wenn er wollte. Schon sein Vater Hirohito, der nach dem Krieg auf amerikanischen Druck seiner Göttlichkeit entsagte, musste sich laut der demokratischen Verfassung von 1946 mit der Rolle als "Symbol des Staates" begnügen. Und Gesten, Rituale zählen in der japanischen Kultur ohnehin mehr als Worte.
Einigen japanischen Nationalisten gehen allerdings selbst die seltenen Reden des Tenno schon zu weit: Wenn es nach ihnen ginge, sollte sich der Kaiser völlig auf seine Rolle als ranghöchster Shinto-Priester beschränken und in der Abgeschiedenheit seines Palastes für das Wohl der Nation beten.
"Gemeinsam mit dem Volk"
So war es in Japan einst üblich. Jahrhundertelang lebte der Tenno zurückgezogen in der früheren Kaiserstadt Kyoto. Erst im Zuge der Meiji-Restauration von 1868 brachten ihn die neuen Machthaber nach Tokio, das politische Zentrum. Dort installierten sie den Kaiser als göttlichen Souverän.
In diesen Tagen der wachsenden Verunsicherung geistert das Gerücht durch das japanische Internet, der Tenno sei aus Tokio nach Kyoto geflohen - vor der nuklearen Gefahr aus Fukushima. Um seinen Palast in Kyoto seien die Sicherheitsmaßnahmen auffällig verstärkt worden. Japans Medien seien zum Stillschweigen über die Flucht des Monarchen verpflichtet worden.
Es wäre bereits das zweite Mal, dass Akihito aus der Hauptstadt in Sicherheit gebracht würde: Gegen Kriegsende musste der damalige Kronprinz mit seinem jüngeren Bruder, Prinz Masahito, die Stadt verlassen und aufs Land ziehen, um der Gefahr durch amerikanische Feuerbomben zu entgehen.
Indes dementiert das Kaiserliche Hofamt in Tokio die Internet-Gerüchte auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE. Der Tenno halte sich nach wie vor in der Hauptstadt auf, sagt ein Sprecher. Und Kenner der japanischen Monarchie halten eine Flucht des Kaisers zum jetzigen Zeitpunkt tatsächlich für schwer denkbar.
"Kokumin to tomo ni" - "gemeinsam mit dem Volk" - unter dieser Devise haben Akihito und seine bürgerliche Frau, Kaiserin Michiko, 76, seit der Thronbesteigung 1989 so viel Volksnähe gewagt wie nie zuvor in der japanischen Geschichte. Mit einer hastigen Evakuierung, die sich kaum verheimlichen ließe, würde das Kaiserhaus alle Glaubwürdigkeit verlieren.
Und Tokio, diese derzeit so verängstige Metropole, verlöre die letzte Hoffnung.
Korrektur: In diesem Text hieß es zunächst, der deutsche Japan-Chef von Fuso habe das Land verlassen. Das ist so nicht korrekt. Wir haben den Text an der entsprechenden Stelle geändert und bitten, den Fehler zu entschuldigen.