
Selbstverbrennung in Tunesien Was vor Mohammeds Martyrium geschah
Der Familie ist vor allem eines wichtig: Dass es sich beim Tod Mohammed Buazizis auf keinen Fall um Selbstmord gehandelt hat. "Un accident, a-c-c-i-d-e-n-t!", beteuern sein Bruder und seine Schwester immer wieder auf Französisch, damit die Ausländer auch ja verstehen. Mohammed sei Opfer eines Unfalls geworden, versichern sie ihren Besuchern.
Und davon gibt es an diesem Tag viele im ärmlichen Haus der Buazizis: Jetzt, wo in Tunesien ein wenig Ruhe eingekehrt ist, scheint sich gut die Hälfte der dort versammelten Reporter aus aller Welt nach Sidi Bouzid aufgemacht zu haben. Hier wollen sie nach den Ursprüngen der tunesischen forschen. Dutzende Reporter, Kameraleute, Tonmänner drängen sich im engen Innenhof der Buazizis.
Mutter, Geschwister, selbst entfernte Verwandte werden umlagert. Jeder Journalist will rekonstruieren, wie die Selbstverbrennung des 26-jährigen Ernährers der Familie am 17. Dezember einen Volksaufstand auslösen konnte, der den tunesischen Despoten aus dem Amt trieb.
Sidi Bouzid ist ein trostloses Kaff. Es liegt mitten im landwirtschaftlich geprägten Herzen Tunesiens. Dass man sich nach langer Fahrt durch Olivenhaine dem 40.000-Einwohner-Örtchen nähert, verraten nur die Müllhalden, die sich wie ein Gürtel um die Stadt legen. Hier soll sich vor einem Monat das Drama abgespielt haben, das inzwischen zur Geburtsstunde der Jasminrevolution verklärt wird: Ein Akademiker ohne Stelle, der sich und seine Familie mit dem Verkauf von Obst über Wasser hält, zündet sich aus Protest gegen die Jugendarbeitslosigkeit in Tunesien an. So die Version der Ereignisse, auf die sich Nachrichtenagenturen schon Tage nach der Selbstverbrennung geeinigt hatten.
Die Wahrheit wird sich nie feststellen lassen
Doch beim Ortstermin entpuppt sich so manches als haltlos, was über den Fall im Umlauf ist: "Mein Bruder hatte zwar Abitur, aber studiert hat er nicht", sagt Salem Buazizi. "Wir sind alle völlig unpolitisch."
Mohammed hat sich mit Benzin übergossen, so viel ist klar - aber seine Schwester Leila wartet mit einer überraschenden Erklärung auf, warum er dies tat: "Er konnte die Schande nicht ertragen, von einer Frau geohrfeigt worden zu sein", sagt sie. Umbringen wollen habe sich ihr Bruder jedoch keinesfalls. Mohammed sei zur Tankstelle gegangen, habe den Sprit über sich ausgeschüttet - und sei dann zeternd und fluchend herumgesprungen. Dabei habe er offenbar aus Versehen mit seinem Feuerzeug einen Funken geschlagen, der ihn in Brand steckte.
Ob das die Wahrheit ist oder sich die Familie mit dieser Geschichte die - im Islam besonders schlimme - Schmach des Selbstmords ersparen will, bleibt unklar. Sicher ist, dass der Feuerlöscher, mit dem umstehende Freunde und Verwandte die Flammen löschen wollten, nicht funktionierte. Buazizi erlitt schwerste Brandverletzungen und lag bis zu seinem Tod am 4. Januar im Koma.
Was Mohammed Buazizi an jenem Freitag vor fünf Wochen tatsächlich durch den Kopf gegangen ist, wird sich nie feststellen lassen. Klar ist, dass seine Selbstverbrennung das Zeichen war, auf das Tunesien gewartet hatte. Innerhalb von Tagen protestierten Tausende in Buazizis Namen gegen das Regime Ben Alis. Gegen die Jugendarbeitslosigekeit, gegen die Polizeiwillkür, für mehr Freiheiten: Buazizis Name wurde dabei von vielen Gruppen und für viele Zwecke instrumentalisiert.
Zur Armut gesellt sich die Angst
Auch das Fernsehen entdeckte die besondere Bedeutung in der Geschichte des Märtyrers. Der Sender al-Dschasira stieg schon früh auf die Story ein, bald sprach die ganze arabische Welt über den jungen Mann und seine Verzweiflungstat. Der Name seiner Heimatstadt wurde zum Schlagwort, Zigtausende Internet-User markierten ihre Facebook-Seiten und Twitterbeiträge mit "Sidibouzid".
Schließlich kam auch das Regime nicht mehr an Buazizi vorbei: Elf Tage, nachdem dessen "Unfall" landesweite Proteste ausgelöst hatte, besuchte Präsident Ben Ali den jungen Mann auf der Intensivstation und machte der Familie des Schwerverletzten ein Geldgeschenk von umgerechnet 10.000 Euro. Doch da war es längst zu spät. Der Aufstand gegen das Regime war nicht mehr aufzuhalten. Am 14. Januar floh Ben Ali außer Landes.
Hätte Mohammed all dies gewollt?
"Ich weiß nicht", sagt seine Schwester Leila. Sie erzählt von einem jungen Mann, der sicher nicht zum Helden geboren wurde. Umgerechnet zwischen drei und fünf Euro brachte Mohammed abends vom Obstverkauf heim, davon lebten die Mutter und fünf Geschwister. Der Vater ist vor langer Zeit gestorben. An die Gründung einer eigenen Familie konnte Mohammed nicht denken. Er hatte nicht das Geld, eine Hochzeit und die nötige Aussteuer zu bezahlen.
Zur Armut gesellte sich die Angst: Da er sich die Lizenz als Obstverkäufer nicht leisten konnte, arbeitete Mohammed schwarz. Er lebte in ständiger Furcht vor den Behörden, gegen deren Willkür er sich im Polizeistaat Tunesien nicht zur Wehr setzen konnte. "Sie haben ihn behandelt wie einen Hund, immer geschlagen und beschimpft", sagt Leila Buazizi.
Haben ihn nicht möglicherweise doch solche Demütigungen zu seiner Verzweiflungstat getrieben?
"Wer muckte, wanderte in den Knast"
Ausgenommen seinen Tod ist Mohammeds Geschichte eine, die man wahrscheinlich über jeden zweiten jungen Mann hier auf dem platten Land erzählen kann. Der Segen des überdurchschnittlich hohen tunesischen Wirtschaftswachstums kommt in dieser Region nicht an, es gibt kaum Arbeit. Sidi Bouzids Stadtbild wird von herumlungernden jungen Arbeitslosen geprägt. Die einzige Fabrik im Ort beschäftigt nur Frauen. Für umgerechnet 40 Euro im Monat nähen sie Kleidung für europäische Firmen.
Der gesetzlich vorgeschriebene Mindestlohn liegt in Tunesien bei 120 Euro im Monat, doch wenn die Ausländer Druck machen, gibt der Staat nach. Die Arbeiterinnen hätten bislang keine Handhabe gehabt, den Mindestlohn einzufordern, sagt Omar Walia, ein seit zehn Jahren arbeitsloser Anwalt in Sidi Bouzid. "Wer aufmuckte, wanderte in den Knast". Nun hofft Walia auf bessere Zeiten. "Ich vertraue darauf, dass die neue Regierung uns gestatten wird, unser Recht zu verlangen." Das Recht auf Arbeit stehe dabei an erster Stelle.
Irgendwann an diesem Nachmittag schleppen drei junge Männer große in Geschenkpapier eingeschlagene Pakete durch den Innenhof ins Haus der Buazizis. Der tunesische Internetanbieter Hexabyte hat beschlossen, Kapital aus der Märtyrerlegende zu schlagen. Die Marketingstrategen der Firma haben einen Computer als Geschenk vorbeigeschickt, den drei Techniker nun im Schlafzimmer installieren. Ein Gratis-Internet-Zugang auf Lebenszeit rundet die milde Gabe ab, ebenso wie ein Jobangebot an Leila. Die Schwester könne jederzeit in der Werbeabteilung der Firma in Tunis anfangen. Die 24-Jährige ist sichtlich überfordert. "Das kann ich jetzt nicht entscheiden", wehrt sie ab.
Die mediale Ausschlachtung der Tragödie geht weiter.