Phänomen der Zimmerreisen Entdeckung von Balkonien

Urlaub in Balkonien: Fremdheit in der eigenen Kultur entdecken
Foto: Bernd Weiflbrod/ picture-alliance/ dpaSPIEGEL ONLINE: Sie haben einen historischen Führer über "Zimmerreisen" verfasst. Was ist damit gemeint?
Stiegler: Es geht darum, unsere gewohnte Umgebung durch Reisen in den Alltag neu wahrzunehmen.
SPIEGEL ONLINE: Wer ist auf die Idee der Zimmerreisen gekommen?
Stiegler: Der Urvater der Zimmerreise ist der französische Schriftsteller Xavier de Maistre. Durch einen Hausarrest war er 1790 zum Zuhausebleiben gezwungen - und nutzte die Zeit für eine 42-tägige Rundreise durch sein Zimmer. Wie er auf diese Idee kam, weiß keiner. Sein Werk "Voyage autour de ma chambre", die "Reise um mein Zimmer", wurde seinerzeit zum Bestseller und wirkt wie ein Bericht über eine Reise in ein nahes und zugleich fernes Land.
SPIEGEL ONLINE: Was hat er erlebt?
Stiegler: Alles Bekannte und doch nichts, womit er gerechnet hätte! De Maistre war sehr spartanisch eingerichtet: ein Stuhl, ein Tisch, Bilder, nichts Besonderes. Doch die Geschichten dieser alltäglichen Dinge wurden ihm plötzlich bewusst, sie begannen auf einmal zu "sprechen".
SPIEGEL ONLINE: Und was haben sie erzählt?
Stiegler: Wir kennen dieses Phänomen selbst. Jedes Mal vor und nach einem Umzug erleben wir es: Wenn wir Bilder einpacken, Briefe auspacken, die Bibliothek neu sortieren, denken wir darüber nach, woher die Dinge stammen. Dabei werfen wir auch einen verfremdeten Blick auf uns selbst. Die größte Entdeckung von de Maistre war wohl tatsächlich er selbst.
SPIEGEL ONLINE: Sie stellen in Ihrem Buch weitere Zimmerreisende vor. Wovon berichten sie?
Stiegler: Einige der alten Zimmerreise-Texte ähneln regelrechten Reiseführern. Da wird die Flora und Fauna beschrieben: die Spinne, die in der Wohnung lebt, der Efeu, der am Fensterrahmen hochwächst. Und die Dielenritzen werden zu Breitengraden. Einige der Geschichten transportierten naturwissenschaftliches Wissen, etwa aus welchem Holz der Schreibtisch gemacht ist oder woher die eingelegte Schlange kommt, die der Reisende besitzt. Und schon folgt eine detaillierte Beschreibung des fernen Urwalds. Es sind die reinsten Bildungsreisen.
SPIEGEL ONLINE: Als das Phänomen der Zimmerreisen aufkam, waren reale Reisen noch sehr teuer und aufwendig. Wurden sie deshalb so populär?
Stiegler: Das spielte sicher eine Rolle. Ein anderer Grund war, dass de Maistre so erfolgreich war und viele inspirierte: Ein Autor schrieb über die Reise durch seine Tasche, ein anderer über die Tour durch den eigenen Garten. Diese Texte setzten sich kategorisch ab von allen anderen jener Zeit.
SPIEGEL ONLINE: Inwiefern?
Stiegler: Damals waren Berichte über Entdeckungsreisen sehr in Mode. Der Zimmerreisende versuchte, diese Expeditionen zu parodieren - und zu überbieten. Er war überzeugt, dass er mehr und Bedeutenderes erlebt als derjenige, der einen neuen Kontinent entdeckt. Der französische Schriftsteller Raymond Roussel ließ sich 1925 sogar einen Reisewagen bauen. Mit dieser "Villa Nomade" hat er die Welt bereist, quasi ohne sein Zimmer zu verlassen - nach dem Prinzip des heutigen Wohnmobils. Das Reisen in die Nähe wurde so zu einer neuen Form des Reisens ...
SPIEGEL ONLINE: ... die die Deutschen heute wieder zu schätzen wissen. Könnten denn Zimmer- die Auslandsreisen ersetzen?
Stiegler: Ja, in der Tat. Denn die Erfahrung von Fremde kann man genauso gut daheim machen. Genau so, wie man reisen kann, ohne wirklich Neues zu erleben: Wer nach Mexiko fliegt und dort drei Wochen lang nur in der Hotelanlage verbringt, kann am Ende nur etwas über die mehr oder weniger gute Qualität des Buffets sagen. Fremdheitserlebnisse sammelt man so nicht.
SPIEGEL ONLINE: Was bräuchte ich für eine Zimmerreise?
Stiegler: Koffer packen muss man nicht. Ein paar Hilfsmittel reichen, ein Stift, ein Fotoapparat, vielleicht eine Videokamera, um die Reise zu dokumentieren.
SPIEGEL ONLINE: Was mache ich dann?
Stiegler: Sie könnten erst einmal zu Hause anfangen und alles auflisten, was sich beim Gang durch die Räume findet, Gegenstand für Gegenstand. Diese "Listenpoesie" war bei Zimmerreisenden um 1800 und 1900 sehr populär. In den Geschichten steht dann etwa: "Ich bereise den Tisch von Ost nach West". De Maistres Text sieht man an, dass er im Zickzack durch den Raum ging, wie ein Tier im Käfig.
SPIEGEL ONLINE: Gibt es auch Zimmerreisen außerhalb eines Zimmers?
Stiegler: Ja. Der Straßburger Journalist Joël Henry und seine "Werkstatt für experimentelles Reisen" etwa haben moderne Formen des Zimmerreisens entwickelt. Sie schlagen vor, das Planquadrat K2 des örtlichen Stadtplans zu erkunden oder einfach einen Tag am Flughafen zu verbringen. Oder auch die Straßen zu Hause von A bis Z zu bereisen. So hat man seine Stadt bestimmt noch nie gesehen!
SPIEGEL ONLINE: Man wird also Flaneur?
Stiegler: Absolut. Es ist eine Wiederentdeckung des Flanierens, wie es Ende des 19. Jahrhunderts aufkam: wissentlich und willentlich entschleunigtes Gehen. So wie in Walter Benjamins "Passagen"-Werk - da berichtet er sogar von Leuten, die mit Schildkröten unterwegs sind. Sie zwingen sich so, langsam zu laufen. Da hört man das Knirschen der Wahrnehmung förmlich.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie auch was für ungeduldigere Reisende?
Stiegler: Ja, sie können sich von dem Schriftsteller Julio Cortázar und seiner Lebensgefährtin Carol Dunlop inspirieren lassen, die von Paris nach Marseille fuhren. Sie hielten an jedem Autobahnparkplatz, übernachteten auf jedem zweiten und waren insgesamt 32 Tage unterwegs. Sie überführten einfach einen starren Algorithmus in den Alltag - und alles wurde fremd.
SPIEGEL ONLINE: Die Autobahn als Reiseziel?
Stiegler: Da kann man das Paradies entdecken! Gerade weil man es hier nie suchen würde. Mit Erholungsurlaub hat das allerdings nichts zu tun. Wer die Seele baumeln lassen möchte, ist auf Zimmerreisen immer falsch.
SPIEGEL ONLINE: Was lernen heutige Zimmerreisende?
Stiegler: Wir leben in einem extrem beschleunigten sozialen Raum, und die Zimmerreise steht für Entschleunigung. Für uns heute ist wichtig, was Michel Foucault den "Blick des Ethnologen" nannte: Distanz zur eigenen Wirklichkeit einzunehmen. Das ist eine Kulturtechnik, die lange in Form von Reisen ausgeübt wurde. Aber im Massentourismus ist das kaum mehr möglich.
SPIEGEL ONLINE: Also Urlaub in Balkonien als ethnologische Entdeckungstour?
Stiegler: Es geht darum, die Fremdheit der eigenen Kultur zu entdecken, Gewohnheiten zu durchbrechen, indem man sie in den Blick nimmt. Zur Not auch beim Blick vom Balkon.