SPIEGEL-Edition Proviant für die Zukunft
Was haben Heinrich Bölls Roman "Ansichten eines Clowns", die "Wallenstein"-Biografie von Golo Mann und Nelson Mandelas Lebenserinnerungen "Der lange Weg zur Freiheit" gemeinsam? Außer dass es deutschsprachig veröffentlichte Bücher sind: zunächst einmal nichts.
Aber alle drei Titel schafften etwas, was in den Jahren, als sie erschienen, viele tausend andere Titel nicht geschafft haben: Sie alle erzielten hohe Auflagen, wurden in großen Blättern (auch im SPIEGEL) besprochen und diskutiert, fanden und finden immer noch viele, viele Leser, und sie alle standen auf der SPIEGEL-Bestsellerliste, die seit 1961 Woche für Woche erscheint. Es sind gut erzählte Werke, egal ob Belletristik oder sogenannte Sachbücher; sie lassen den, der mit dem Lesen einmal angefangen hat, nicht mehr los; und sie bewegen durch innere Dramatik und große Themen wie Liebe (Böll), Krieg (Mann), Rassismus und Freiheit (Mandela).
Noch etwas haben diese drei Titel gemeinsam: Sie sind ausgewählt worden für eine neue Buchreihe, die der SPIEGEL-Verlag von jetzt an Woche für Woche, bis zum 14. Mai 2007, veröffentlicht.
Das Unternehmen heißt "SPIEGEL-Edition - Die Bestseller". Es präsentiert vierzig wichtige Bücher aus mehr als vierzig Jahren SPIEGEL-Bestsellerliste, ausgewählt aus mehreren tausend Titeln durch Kulturredakteure des Nachrichtenmagazins, jedes angereichert durch das Nachwort eines SPIEGEL-Mitarbeiters.
Es ist nicht die erste dieser Art von Unternehmungen. Ganz offensichtlich leben wir in Zeiten, in denen Kanons gefragt sind. Es sind Zeiten, in denen das Aussortieren der Überangebote zu den wesentlichen Kulturstrategien gehört. Zeiten des Sichtens. Auf dem Weg in die ungewisse Zukunft wird der eiserne Proviant angelegt, wird zurückgelegt, was Bestand hat.
Das gilt besonders für die Buchbranche. Bei einer jährlichen Produktion von rund 80.000 neuen Buchtiteln ist es schwierig geworden, das Buch zu finden, von dem man sich nicht mehr trennen möchte. Aber in einer sich beschleunigenden, ja heißlaufenden Info- und Entertainment-Gesellschaft wird ebendies immer wichtiger.
Deshalb gibt es kaum etwas Schöneres, etwas Befriedigenderes, als Bestenlisten zu erstellen. In Nick Hornbys "High Fidelity" gehören die Listen geradezu zum Weltverständnis seines Helden.
Die Auswahl des SPIEGEL unterscheidet sich dann doch von allen anderen. Sie ist gleichzeitig subjektiv und die objektivste, die es geben kann. Denn sie traf der Leser selbst: Alle vierzig Titel wurden als Bestseller vom Buchkäufer gewählt, verdanken ihre Wiederauferstehung also nicht dem bisweilen entlegenen Geschmack Einzelner.
Was die SPIEGEL-Edition noch auszeichnet: Zum ersten Mal werden sogenannte Sachbücher zu gleichen Teilen berücksichtigt wie Romane und Erzählungen. Ganz entsprechend der Zweiteilung der SPIEGEL-Bestsellerliste seit 1961, die zunächst vom Umfrage-Institut Allensbach
zugeliefert wurde, seit gut drei Jahrzehnten aber durch die Fachzeitschrift "Buchreport" im Dortmunder Harenberg-Verlag auf der Grundlage der aktuellen Buchverkäufe von mittlerweile rund 350 Buchhandlungen ermittelt wird.
Auf Basis dieser Vorauswahl konnten die beteiligten Kulturredakteure argumentieren, streiten, schwärmen. Oft genug wurde gemeinsam geschwärmt. Denn mit Büchern verbinden sich Lebensmomente, Reminiszenzen, Zeitgeschichte.
Das Zusammenspiel von Kulturredaktion und SPIEGEL-Verlag bei der Auswahl der Titel war erschreckend harmonisch - erschreckend für jeden, der sich noch erinnern kann, wie misstrauisch der kulturkritisch gerüstete Literaturrezensent lange das Wort "Bestseller" buchstabierte.
Bestseller waren das, was die Strategen der Großverleger von Konsalik, Knef & Co. auf den Markt brachten. Bestseller galten als das fatale Resultat des wunderbaren Einvernehmens von hohem Werbeetat und denkfaulem Publikum, dessen Unterhaltungsbedürfnis nach erprobten Rezepten klischeebehafteter Spannungserzeugung mit Happy End befriedigt wird.
Dabei werde, meinte dieses Denken, das Buch zur Ware und die Literatur zur unterhaltsamen "Austreibung des widerständigen Geistes" (so der Literaturhistoriker Ralf Schnell) degradiert. Dagegen gelte ewig das berühmte Wort des Sozialphilosophen Theodor W. Adorno: "Wahr ist nur, was nicht in diese Welt passt." Über alldem wurde vergessen, dass die Masse der Leser Qualität durchaus zu schätzen weiß: Goethes "Werther" war der Bestseller seiner Zeit.
Doch das Verdikt gegen den Bestseller hielt sich hartnäckig. Wer sich bis weit in die achtziger Jahre hinein als Kritiker mit der vermeintlichen Kulturkatastrophe namens "Bestseller" so gutmütig, ja begeistert befasst hätte, wie es bis ins Frühjahr hinein jene SPIEGEL-Redakteure getan haben, den hätte seinerzeit die avancierte Szene abgestraft - als verblendet oder gekauft, jedenfalls als verloren an das schlechte Bestehende.
Das skandalös gute Gewissen der SPIEGEL-Redakteure bei ihrer Bestseller-Auswahl setzt einen Gesinnungs- und Stimmungswandel in dieser Sache voraus, der viele Komponenten hat. Der asketische Kultur-Utopist mit sperriger Ware ist nicht mehr unbedingt als Alleinvertreter der Wahrheit geadelt. Wahrheit findet sich auch in dem, was amüsiert, was gemocht wird, was die Lebensstile, Gedankenflüge und Träume der vielen beflügelt.
Zunehmend dürfen auch in den Feuilletons Bestseller von John Updike, Thomas Brussig, Salman Rushdie oder Zeruya Shalev die Grundüberzeugung des Bestsellerautors Marcel Reich-Ranicki ("Mein Leben") bestätigen, dass formal ehrgeizige, intelligente Literatur sehr wohl unterhaltsam sein kann.
Was die SPIEGEL-Edition aus fast einem halben Jahrhundert Bestselleritis herausgefiltert hat, kann sich gerade unter diesem Gesichtspunkt sehen lassen: Der Buchmarkt, so zeigt sich, gab reihenweise Titeln die Ehre, die tief ins Zeitgeschehen griffen, in die Abgründe der Geschichte und der Gefühle. Das gilt für Joachim Fests geistesgeschichtlich anspruchsvolle Auseinandersetzung mit dem Monstrum Hitler ebenso wie für Barbara Tuchmans farbig erzählte Exkursion ins 14. Jahrhundert, für Christoph Ransmayrs verrückt genaue Suche nach dem Dichter Ovid oder Peter Handkes Liebesleidensreise im "Kurzen Brief zum langen Abschied".
Die Kategorie Bestseller beginnt bei mindestens 30 000 auf Anhieb verkauften Exemplaren und reicht bis zu Best-Bestsellern mit 100.000 und mehr. Es ist beileibe nicht so, dass Käufer die Einzigen sind, die auf die Platzierungen schauen. Bestsellerautor Ilija Trojanow: "Ich kann mir gut vorstellen, dass ein Günter Grass da auch schon nachgeschaut hat. Insofern glaube ich nicht, dass das eine Generationsfrage ist. Ich spüre natürlich, dass es eine unglaubliche Wirkung hat, auf dieser Liste zu stehen. Die Leute sprechen mich eher darauf an als auf einen Preis oder eine Rezension."
Die SPIEGEL-Bestsellerliste als Adelsprädikat. Das kann so bleiben.