
Katastrophen Auffällig unauffällig
In Tokio schreiben sie Tag 18 nach dem Fukushima-Desaster, und Yoichi Nishimura lässt den Blick durch den gewaltigen Redaktionssaal von "Asahi Shimbun" schweifen. Es ist die zweitgrößte Tageszeitung Japans, mit einer verkauften Auflage von acht Millionen täglich fast dreimal so groß wie die deutsche "Bild". Und Nishimura leitet dort das Tagesgeschäft. Aber mächtig wirkt er nicht. Nur müde. Und enttäuscht. Und verwirrt von dem, was um ihn herum geschieht.
Beim Tepco-Konzern, dem Betreiber der Unglücksreaktoren, herrsche ein "unvorstellbares Durcheinander". Er sagt es nicht empört oder gar angriffslustig, sondern eher peinlich berührt wie ein Musterschüler, dessen Mathelehrer sich gerade an der Tafel verrechnet hat. Wie die Tepco-Manager versteht sich der Journalist durchaus als Teil der Elite seines Landes. Er hat an der Todai studiert, der Universität Tokio, die auch Japans Spitzenbeamte absolvieren und natürlich auch viele Tepco-Manager.
Mit Kernkraft kennt Nishimura sich aus, das betont er gern und oft. Er sei Korrespondent in Moskau gewesen, wo er einst auch die Folgen des Reaktorunglücks von Tschernobyl beschrieben habe. Später berichtete er dann aus Washington - und nahm damit den entscheidenden Karriereschritt, der auch bei Nippons Medien den Weg in die Chefetage ebnet. Nishimura zweifelt nicht an sich oder dem Auftrag seines Blattes. Ratlos macht ihn das Chaos von Fukushima aber doch.
Am Vortag musste Tepco zugeben, dass es falsche Messwerte aus dem Kraftwerk übermittelt hatte. Aber hier geht es nicht um einen Politiker, der mal brutto mit netto verwechselt. Es ist nicht lustig. Es ist tödlicher Ernst. Was den Redaktionsleiter offenbar entsetzt, ist nicht das Unvermögen der Konzernmanager, sondern eher die Tatsache, dass er selbst anfängt, an den Zahlen seiner Regierung und des Unternehmens zweifeln zu müssen. Das ist neu in Nippon.

Während Journalisten in westlichen Ländern gern überall Verrat oder Verbrechen wittern, verließen sich Japans Journalisten bislang oft und weitgehend auf offizielle Statements. Ein Reporter in New York oder Berlin begreift sich vielleicht als Kämpfer oder Wühlmaus, sein japanischer Kollege versteht sich schon traditionell eher als Chronist.
So ist es kein Wunder, dass Japans große Zeitungen und TV-Sender überhaupt nichts daran finden, dass ihre Reporter die Büros direkt in den Institutionen haben, über die sie berichten - von der Polizei über die Staatsanwaltschaft bis zum Amtssitz des Premiers. Auf den Fluren dort warten sie dann in harmonischer Eintracht. Konkurrenz ist verpönt. Sie harren der Nachrichtenhappen, die Politiker, Beamte oder Industriebosse ihnen gönnen. Zu den Regeln gehört auch, dass man vieles erfährt, aber nicht alles schreibt. Warum auch?
Investigativen Journalismus gibt es zwar, doch spielt er in Japan allenfalls eine Außenseiterrolle jenseits der großen Zeitungen und Fernsehstationen. In dem Monatsmagazin "Bungei Shunju" beispielsweise hatte der noch immer aktive Journalist Takashi Tachibana schon 1974 die korrupten Machenschaften des damaligen Premiers Kakuei Tanaka enthüllt - und damit dessen Sturz eingeleitet. Auch manche Wochenmagazine gefallen sich mit der einen oder anderen Enthüllung. Aber das sind Randerscheinungen in einem ansonsten auffällig unauffälligen und zurückhaltenden Journalismus.
Verantwortungsbewusster Teil des japanischen Establishments
Nippons vier größte Tageszeitungen, die öffentlich-rechtliche TV-Anstalt NHK sowie mehrere kommerzielle Fernsehsender - sie alle sehen sich vor allem als verantwortungsbewussten Teil des japanischen Establishments. Dass das auch mit der Mentalität des Inselvolks zu tun hat, kann man daran ablesen, dass die Japaner diesen Leitmedien auch in der Ära neuer Kommunikationskonkurrenten wie Google, Facebook oder Twitter am meisten vertrauen.
Zwischen den Mächtigen und den Medien existiert kaum Distanz. Und wenn ein Prominenter mal nichts sagen möchte, dann hängen sich die Reporter zwar nervig, aber artig an ihn wie eine Horde Klammeraffen, bis er sich vielleicht doch zu einer nachrichtenträchtigen Aussage herablässt. "Burasagari" heißt diese journalistische Turnübung deshalb - "herabbaumeln". Doch seit Fukushima bekommt "Burasagari" eine andere, verzweifelte Bedeutung. Japans Reporter hängen hilflos in der Luft, weil die Atomstrom-Bosse und erst recht die Regierungsverantwortlichen selbst die Kontrolle verloren haben.
In den täglichen Pressekonferenzen der Tokioter Tepco-Zentrale wird der Ton der Reporter nun gereizter. Sie sind sauer, wenn auch weniger über das Reaktordesaster an sich als darüber, dass Tepco ihnen kaum noch verlässliche Pressemitteilungen aushändigt, nichts mehr, woraus sie glaubwürdige Artikel machen könnten.
Neulich erst verbreitete Tepco falsche Messwerte über die Radioaktivität in dem zerstörten Meiler. "Asahi"-Mann Nishimura war heilfroh, dass das Malheur an einem Sonntag passierte, einem Tag also, an dem sein Blatt nicht auch mit einer Abendausgabe herauskommt. Sonst hätten sie mit den falschen, kurze Zeit später revidierten Zahlen aufgemacht.
Medien sind immer auch ein Spiegel ihrer jeweiligen Gesellschaft
Natürlich könnten Japans Journalisten jetzt beginnen, grundsätzliche Fragen zu stellen über das Atomprogramm ihres Landes. Sie könnten eine Debatte anzetteln über die Frage, ob und wie Japan überhaupt auf einen möglichen GAU vorbereitet war. Doch für wen? In Deutschland gingen jüngst 250.000 Menschen gegen Atomkraft auf die Straße. In Tokio waren es zur gleichen Zeit keine tausend. Medien sind immer auch ein Spiegel ihrer jeweiligen Gesellschaft.
Nishimura und viele seiner Kollegen klammern sich an die wenigen Informationen, auf die in diesen Tagen noch Verlass ist: Der "Asahi"-Mann tippt mit dem Finger rechts oben auf die Titelseite, dort aktualisiert er täglich die Zahl der Toten und Vermissten von Beben und Tsunami, akribisch den Polizeibericht wiedergebend.
Zwar dürfte die Naturkatastrophe weitaus mehr seiner Landsleute das Leben gekostet haben, das weiß auch er. Aber Japans Medien erklären jemanden erst dann für tot, wenn dessen Überreste gefunden wurden. Auch das ist ein ehernes Gesetz japanischer Medien.
Ihre Sprache besteht ohnehin großteils aus Worten, die unerträgliche Wahrheiten abmildern, direkte Konfrontationen vermeiden. Im Alltag kann das angenehm sein, aber es prägt eben auch das Denken jener, die mit dieser Sprache ihr Geld verdienen: "Wir Journalisten tragen hohe gesellschaftliche Verantwortung", sagt Zeitungsmann Nishimura. "Wir dürfen gerade in der aktuellen Krise keine Panik erzeugen."
So denkt auch das Fernsehen. Längst haben die Sender aufgehört, ständig die schockierenden Aufnahmen des Tsunami zu wiederholen, die Japan am 11. März in alle Welt übertrug. Indes ist es auch noch zu früh, wieder ganz auf TV-Blödelei umzuschalten, mit der die Japaner sich sonst so gern und ausgiebig von ihrer eigenen Steifheit erholen wie kaum ein anderes Volk.
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Sendungen wie "Bakusho Monomane", in der Komiker über ihre eigenen Witze am meisten lachen, wenn sie Prominenz aus Politik oder Pop veräppeln, laufen nur noch zu später Stunde. Den Japanern ist das Lachen vergangen.
Und die Sender? Versuchen sich in Optimismus. Fast alle Kanäle spulen immer wieder die gleichen Szenen ab, in denen Überlebende der Katastrophe nach Tagen der Suche ihre Angehörigen umarmen. Es sind rührende Momente, in denen Nippons Fernsehmacher routiniert zur Hochform auflaufen: Sie richten ihre Kameras so lange auf die Gesichter der Opfer, bis die Tränen kommen.
"Unser Fernsehen verzerrt Fukushima zu einer einzigen Seifenoper", schimpft Mamoru Sakamoto. Der TV-Kritiker streicht seine langen Haare aus der Stirn, tupft sich mit einem Tuch den Schweiß ab. Sein kariertes Hemd fällt ihm lose über den fülligen Leib. Mit dem smarten "Asahi"-Redakteur Nishimura verbindet ihn höchstens das Alter. Beide sind 52.
Sakamoto ist ein journalistischer Außenseiter, der wie besessen gräbt und wühlt. Er kritisiert das harmonische Miteinander von Atomindustrie, Wissenschaft und Medien. Und er lebt davon, dass er schreibt, was große Medien nicht zu schreiben wagen, in Magazinen, Boulevardblättern oder seinem Internet-Blog.
"Der japanische Journalismus musste an Fukushima scheitern", sagt er. Das sei auch ein kulturelles Problem, denn die Japaner würden von klein auf dazu erzogen, nicht aufzufallen. Das verkündet er so genüsslich laut, dass sie an den Nachbartischen des Tokioter Restaurants, in dem er sich verabredet hat, schon die Köpfe drehen.
Fukushima aber lässt sich nicht kleinreden oder verstecken. Im Gegenteil: Es wird jeden Tag größer. Japans Medien können den Alptraum zwar nicht vergessen machen, aber sie wetteifern darum, ein bisschen Hoffnung zu wecken, auch bei "Hodo Station", dem täglichen Abendmagazin von TV Asahi. Während bereits klar ist, dass an den Unglücksmeilern nun auch noch unkontrolliert Plutonium austritt, beginnt der Moderator mit einer guten Nachricht: "Konkrete Rettungsmaßnahmen" würden jetzt erwogen, berichtet er. Dann interviewt er einen Professor über die Möglichkeit, einen Tanker nach Fukushima zu schicken, der verstrahltes Wasser aufsaugen könne.
Der Moderator nickt am Ende dankbar. Dann sagt er, jetzt komme es darauf an, Panikmache zu vermeiden. Hoffentlich könnten sich seine Landsleute bald "wenigstens ein bisschen sicherer" fühlen. Ein gutes Gefühl ist schon viel in diesen Tagen.