Heinrich August Winkler über Buchpreisträger Menasse Europas falsche Freunde

Pro-spanische Demonstranten in Barcelona
Foto: Etienne De Malglaive/ Getty ImagesIst Walter Hallstein, der erste Präsident der Kommission der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in den Jahren 1958 bis 1967, wirklich der Vordenker der europäischen Sezessionisten, als der er neuerdings von einigen Autoren porträtiert wird? Drei mehr oder weniger gleichlautende Äußerungen werden ihm zugeschrieben. Erstens: "Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee." Zweitens: "Das Ziel des europäischen Einigungsprozesses ist die Überwindung der Nationalstaaten." Drittens: "Ziel ist und bleibt die Überwindung der Nation und die Organisation eines nachnationalen Europa."
In den Reden und Schriften Walter Hallsteins sind diese Aussagen nicht zu finden. Dennoch behaupten der österreichische Schriftsteller Robert Menasse, auf der Frankfurter Buchmesse soeben für seinen Brüssel-Roman "Die Hauptstadt" mit dem Deutschen Buchpreis geehrt, seine deutsche Mitstreiterin, die Politologin Ulrike Guérot, und nun auch Jakob Augstein (SPIEGEL 42/2017), dass Hallstein sich so geäußert habe. Augstein, der das dritte Zitat offenbar von Menasse übernimmt, mit der Einschränkung, der Kommissionspräsident "solle" dies gesagt haben.
Leider sagen Menasse und Guérot nicht, wo sie die angeblich wörtlichen Zitate von Hallstein gefunden haben, und wir erfahren von ihnen auch nicht, wann, wo und in welchem Zusammenhang er sich so geäußert haben soll. Menasse erwähnt wohl zwei wichtige Reden des Europapolitikers, aber was Hallstein dort sagt, widerspricht dem, was sein Interpret ihm unterstellt.
In seiner ersten Rede vor dem Europäischen Parlament beschrieb der Kommissionspräsident am 19. März 1958 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als eine "Staatengemeinschaft mit starken föderativen Zügen". Vor dem Europäischen Gemeindetag in Rom erteilte er zwar am 15. Oktober 1964 der Idee der nationalstaatlichen Souveränität alten Stils "und der heutigen politischen Form der Nationen" eine Absage, ebenso aber auch der Folgerung, "dass die bestehende politische Ordnung ausgelöscht, durch einen europäischen Supranationalstaat ersetzt wird". Es gehe vielmehr darum, die "Kraftquellen der Nationen zu erhalten, ja sie zu noch lebendigerer Wirkung zu bringen".
Falls Guérot und Menasse sich auf Quellen stützen können, die der bisherigen Forschung nicht bekannt waren, sollten sie diese nennen. Solange es keine belastbaren Belege für die Hallstein zugeschriebenen Zitate gibt, müssen diese als apokryph, das heißt als unecht, gelten. Die Lesart vom post-, ja antinationalen EU-Vorkämpfer Hallstein dürfte eine Legende oder, anders gewendet, Ausfluss einer postfaktischen Geschichtsbetrachtung sein.
Doch Hallstein hin oder her, auch ohne die problematische Berufung auf ihn gibt es genug Gründe, sich kritisch mit den Thesen von Menasse, Guérot und Augstein auseinanderzusetzen. "Nationen haben sich bekriegt, Regionen haben gelitten, immer wieder ihre Eigenheiten bewahrt, Regionen sind die Herzwurzel der Identität", heißt es in einem Text von Robert Menasse. Glaubt der Autor wirklich, dass regionale Sezessionsbewegungen von Natur aus friedlich sind? Hat er den jahrzehntelangen Terror der baskischen ETA, der nordirischen IRA und der Südtiroler Separatisten vergessen?
Menasse übersieht zudem, dass Regionalismus und Nationalismus keine Gegensätze sein müssen. Die Schotten betrachten sich ebenso wie die Katalanen als Nation, und dafür gibt es gute historische Gründe. Beim aktuellen Konflikt um die Unabhängigkeit Kataloniens prallen zwei Nationalismen aufeinander, der spanische und der katalanische. Die Gegenüberstellung von friedlicher Region und kriegerischer Nation ist ein Produkt ahistorischen Wunschdenkens.
Augstein plädiert dafür, ganz im Sinne von Menasse und Guérot, die Landkarten neu zu sortieren, und begründet das so: "Das Europa der Regionen wäre das gerechtere Europa." Wenn er sich da mal nicht irrt. Der Separatismus der Katalanen, Flamen und der Norditaliener von der Lega Nord ist von Wohlstandschauvinismus geprägt. Die dortigen Sezessionsbewegungen wehren sich gegen die Zumutung, Solidarität gegenüber den sozial schwächeren Regionen des jeweiligen Landes üben zu müssen. Einen militanten Regionalismus treffen wir nur in wohlhabenden, nicht in strukturell benachteiligten Gegenden an. Die Letzteren wären die Opfer, nicht die Nutznießer jener "Dekonstruktion der Nationalstaaten", für die Ulrike Guérot bereits einen festen Zeitplan vorgesehen hat: Im Jahr 2045, wenn sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum 100. Mal jährt, soll dieser Prozess abgeschlossen sein und die Europäische Republik errichtet werden.
Für die Freunde der Europäischen Republik spielt es offenbar keine Rolle, ob die Völker Europas die Auflösung der Nationalstaaten und deren Ersetzung durch Regionen überhaupt wollen. In den meisten Staaten der Europäischen Union gibt es zurzeit nicht die geringsten Anzeichen für einen erstarkenden Sezessionismus. Ihre Bürger empfinden unbeschadet aller regionalen Besonderheiten die Zugehörigkeit zu ihrer Nation als selbstverständlich, und im Nationalstaat sehen sie den einzig verlässlichen Hüter von Rechtsstaat, Sozialstaat und Demokratie.
Das ficht Menasse aber nicht im Geringsten an. Er sieht die nationalstaatliche Demokratie ohnehin nur als Relikt der Vergangenheit, das zu erhalten sich nicht lohnt. In seinem 2012 erschienenen Buch "Der Europäische Landbote" schreibt er, man müsse sich mit dem Gedanken anfreunden, "die Demokratie erst einmal zu vergessen, ihre Institutionen abzuschaffen, soweit sie nationale Institutionen sind, und dieses Modell einer Demokratie, das uns so heilig und wertvoll erscheint, weil es uns vertraut ist, dem Untergang zu weihen. Wir müssen stoßen, was ohnehin fallen wird, wenn das europäische Projekt gelingt. Wir müssen dieses letzte Tabu der aufgeklärten Gesellschaften brechen, dass unsere Demokratie ein heiliges Gut ist".
Die Konturen der neuen nachnationalen Demokratie, die es Menasse zufolge zu erfinden gilt, bleiben im Dunkeln. Er selbst wisse nicht, wie sie aussehen werde, räumt er ein. Vermutlich setzt er aber auch hier auf die überlegene Einsicht der von ihm verklärten Brüsseler Beamten, in denen er den Geist des aufgeklärten Absolutismus habsburgischer Prägung fortleben sieht. Sie sollen, so scheint es, den Kern jener sich allmählich herausformenden "wirklich universalen Klasse" bilden, "deren Engagement zu einem System eines universalen Rechtszustands in Freiheit für alle, in Nachhaltigkeit führen wird". Dass eine derart aufgeklärte Elite keines demokratischen Mandats bedarf, ergibt sich daraus mit zwingender Logik. Denn dieses Mandat würde ja noch die Spuren der nationalen Demokratie in sich tragen und damit nicht "wirklich universal" sein.
Die Pioniere der westeuropäischen Einigung haben aus den Erfahrungen der beiden Weltkriege den Schluss gezogen, dass es den Nationalismus zu überwinden galt, der Europa an den Rand der Selbstzerstörung getrieben hatte. Der klassische, isolierte, uneingeschränkt souveräne Nationalstaat hatte aus ihrer wohlbegründeten Sicht zumindest in Europa keine Zukunft mehr. Die Mitglieder des Staatenverbunds, den sie schufen, sind denn auch postklassische Nationalstaaten, die Teile ihrer Hoheitsrechte gemeinsam ausüben und andere Teile auf supranationale Einrichtungen übertragen haben.
Die Abschaffung der Nationen und Nationalstaaten aber lag nicht in der Absicht der Wegbereiter der Europäischen Union und auch nicht in der von Walter Hallstein, dem Verfechter eines bundesstaatlich verfassten Europas. Sie waren sich bewusst, dass die Wurzeln der meisten europäischen Nationen bis tief ins Mittelalter zurückreichen und die der älteren Nationalstaaten ebenfalls. Sie hatten recht: Zu den Besonderheiten Europas gehört seine historisch gewachsene nationale Vielfalt. Wer die Nationen und die Nationalstaaten abschaffen will, zerstört Europa und fördert den Nationalismus. Menasse und seine Mitstreiter befinden sich auf einem Holzweg.
Gerade ist von Heinrich August Winkler das neue Buch "Zerbricht der Westen? Über die gegenwärtige Krise in Europa und Amerika" erschienen.