Auf die Länge kommt es an
Was haben Arthur Schnitzler und HappySchnitzel gemeinsam? Arthur Schopenhauer und Agent_Dexter? Blaise Pascal und pantoffelpunk? Sie haben sich bewiesen als Meister eines altehrwürdigen Literaturgenres: des Aphorismus.
Der Beweis ist mal 100 Jahre alt, mal 200 Jahre, mal 350 Jahre. Und mal ist er wenige Monate jung. HappySchnitzel, Agent_Dexter und pantoffelpunk schreiben im Online-Kurznachrichtendienst Twitter, von manchen gerühmt als Aufklärungs- und Revolutionsmedium, von vielen gegeißelt als Scherz- und Tratschmaschine. Aber Twitter ist noch mehr als das. Es ist die anregendste Aphorismensammlung unserer Zeit.
Ein Aphorismus, so definiert ihn die Literaturwissenschaft, ist eine Prosaform zwischen Poesie und Philosophie, verwandt mit Essay, Sprichwort und Epigramm. Er ist kurz, konzise, rhetorisch markant, nichtfiktional und steht für sich allein, ist also nicht Teil eines längeren Textes, er arbeitet oft mit sprachlichen Mitteln wie Antithese, Neologismus und Paradoxon. Ein Genre der Gegensätze: knapp gefasst, aber weit gedacht, pointiert formuliert, aber metaphorisch offen, sehr subjektiv auf den Begriff gebracht, aber mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit.
Bis vor kurzem galt der Aphorismus als angestaubte Altherrengattung, zu finden vor allem in Hilfsbüchlein für bildungsfromme Festredner. Nun ist er wieder hip - und wird online massenhaft retweeted, gefaved, geliked. Gut möglich, dass Schnitzler, Schopenhauer und Pascal heute twittern würden.
Aber passt das wirklich zusammen? Der altehrwürdige Aphorismus und das Trivialmedium Twitter? In dem es nur Platz gibt für 140 Zeichen pro Nachricht, genannt Tweet? In dem einem im Sekundentakt neue Beiträge um die Ohren sausen? In dem sich Teenager, Technikredakteure und Werbetexter eitel selbstdarstellen?
Ja, es passt. Und zwar so gut, dass man den Eindruck gewinnen kann, das Genre habe erst heute sein ideales Medium gefunden, mehr als 300 Jahre nach Georg Christoph Lichtenberg, dem Begründer des deutschen Aphorismus.
Zum Beweis kann man die Tweets für sich sprechen lassen, kann bei assenassenov nachlesen ("Morgen ist auch noch ein Alltag"), bei DerEchte ("Beruf und Karriere trenne ich übrigens ganz konsequent") und bei haekelschwein ("Ich stehe mittlerweile so weit über den Dingen, dass ich schon gar nicht mehr weiß, um welche Dinge es sich handelt"), kann Wondergirl zitieren ("Treue? Ach das Zeug, das man bei Tengelmann gegen Messer eintauschen kann"), Propinja ("Auch heute habe ich wieder etwas für Bauch, Beine und Po gemacht: Pfannkuchen") und peterbreuer ("Die Griechen haben aus der Geschichte gelernt: Wenn Sie noch ein bisschen auf Zeit spielen, gehen diesmal die Römer zuerst unter").
Oder man kann die Aphoristiker der alten Schule sprechen lassen: "Es ist sehr gut alles was man denkt, rechnet und dergleichen in besondere Bücher zu schreiben, den Wachstum anzusehen unterhält den Fleiß, und gibt einen Neben-Bewegungsgrund ab aufmerksam zu sein", schrieb Lichtenberg, der Gedankensplitter in sogenannte Sudelbücher notierte. Eine ähnliche Motivation haben viele Twitterer: Sie nutzen das Medium als supermodernes Sudelbuch, mit dessen Hilfe sie die Welt aufmerksamer beobachten; schreibend denken sie über sie nach. Dass viele dabei auch von Eitelkeit getrieben werden, dass sie Besserwisser sind, das mag sein. Aber wer sagt denn, dass Aphoristiker der alten Schule das nicht auch waren? Der Schriftsteller Martin Kessel meinte: "Aphorismen in die Welt senden heißt nach einem Nicken des Einverständnisses fahnden." Nach Retweets, Favs, Likes. Der große Grantler Karl Kraus gar kommentierte die Kunst des Aphorismus, als habe er seinerzeit schon das Logo von Twitter vor Augen gehabt - den blauen Zwitschervogel: "Eine neue Erkenntnis muss so gesagt sein, dass man glaubt, die Spatzen auf dem Dach hätten nur durch Zufall versäumt, sie zu pfeifen."
Egal, wen man sprechen lässt, die Erkenntnis ist klar: Tweets sind nicht immer Blabla, oft sind sie große Ideen in kleinem Format. Beispielsweise wenn pantoffelpunk twittert: "ALDI war für sozial Schwache immer wichtiger als die SPD." Oder haekelschwein: "Um als Terrorist zu gelten, müssen Rechte 13 Jahre bomben und morden, Linke ein Auto demolieren und Muslime eine Casio-Uhr tragen." Oder mspro: "irgendwie haben mir der bnd und der verfassungsschutz diese ganzen agentenfilme kaputt gemacht. professionalität wirkt so unrealistisch."
Sehr wenige Worte können sehr viel bedeuten. Schon die SMS kürzten manche vor Jahren mit "Sinnieren, Modifizieren, Senden" ab. Und die boten damals immerhin 160 Zeichen Platz. Wie viel mehr muss man sinnieren und modifizieren, bevor man 140 gelehrte, gescheite, gewitzte Zeichen sendet? Es ist eine Kunst.
Den Marathon-Olympiasieger Stephen Kiprotich achten wir für seine Arbeit, den 100-Meter-Sieger Usain Bolt bewundern wir für sein Genie. Der Star ist der Kurzstreckler. In der Literatur ist es oft umgekehrt. Zu Unrecht, wie Karl Kraus fand: "Einer, der Aphorismen schreiben kann, sollte sich nicht in Aufsätzen zersplittern", urteilte er - und legte als Alphamännchen noch einen drauf: "Es gibt Schriftsteller, die schon in zwanzig Seiten ausdrücken können, wozu ich manchmal sogar zwei Zeilen brauche." Kurzum: Auf die Länge kommt es an.
Und so wird die sogenannte Twitteratur immer populärer, sie wird öffentlich vorgelesen, sie wird sogar rezensiert. Auf dem Kritikerportal twit krit.de, einer Fundgrube für gute Aphorismen, erklären die Macher die literarische Macht des Mediums: "Vieles ist so dicht und so intensiv, dass es zu kleinen poetischen Einheiten wird: Unter dem Druck der 140 Zeichen zu Diamanten gepresste Alltagskohle." In seinem Buch "Schreiben unter Strom" schwärmt auch der Literaturprofessor Stephan Porombka von den Möglichkeiten des Mediums: "Kulturkritiker mögen das eine Aneinanderreihung von Belanglosigkeiten nennen. Doch damit liegen sie falsch. Hier hat man es mit einem Notiz- und Skizzenblock zu tun, in dem nach neuen Möglichkeiten des Jetztzeiterzählens im Netzwerk geforscht wird." Begeistert zitiert er Bonmots der Bestsellerautorin Else Buschheuer, nicht aus ihren Büchern, sondern aus ihrem Twitter-Account: "die meisten leute, die behaupten, schönheit komme von innen, sehen aus, als hätte dieses prinzip ausgerechnet bei ihnen versagt."
Sogar die New Yorker Kulturzeitschrift "n+1", die intellektuelle Spielwiese mächtig gehypter Jungautoren wie Mark Greif, Keith Gessen und Chad Harbach, widmet sich in ihrer aktuellen Ausgabe dem Thema. Der Text ist nicht euphorisch, aber er ist sehr wohlwollend: "Ein Tweet ist so kurz, dass man unmittelbar auf den Punkt kommen kann, aber auch so kurz, dass er keinen haben muss", heißt es zunächst skeptisch. "Twitters formale Eigenheiten neigen gleichzeitig in entgegengesetzte Richtungen: zum Wesentlichen, aber auch zum Überflüssigen, zum Konzisen, aber auch zum Weitschweifigen." Letztlich aber scheinen für den Autor die Chancen zu überwiegen: "Ein Tweet ist ein enges Fenster, aber es spricht nichts dagegen, dass eines von ihnen den Blick auf ein weites Feld öffnen kann." Im besten Fall biete Twitter dies: "Irgendjemand, oft irgendjemand, von dem man es nicht erwartet hätte, verdichtet den Weltgeist in einem großartigen Scherz, Epigramm oder Aperçu. Etwas, was schon oft gedacht wurde, aber nie so gut ausgedrückt." Für den Leser scheint das Medium ebenfalls ideal zu sein: "Aphorismen konsumiert man am besten wie Nüsse oder Süßigkeiten, eine Handvoll jeweils." Nicht eine ganze Tüte auf einmal, so wie in Aphorismus-Büchern.
Mancher Twitter-Aphorismus schmeckt fad, manch anderer hat Pep, das zeigt ein Griff in die Tweets von katjaberlin: "ich trinke ja eigentlich fast nie alleine. meistens sind würdelosigkeit und tristesse mit von der partie." Gähn. "das einzig spannende heute ist mal wieder nur mein schlüppergummi." Ha, ha. "es ist aber auch schwierig, keine kinder und keine karriere unter einen hut zu bringen." Aha! Das ist gepfeffert scharf.
Im deutschen Sprachraum hat Sarah Curth, 23, den bislang wohl besten Beweis der These geliefert, dass Twitter das optimale Medium für Aphorismen ist. Curth bloggt unter Lot terliebe.de und twittert als Lotterliebe, sie ist freiberufliche Texterin und ehrenamtliche Redakteurin beim Online-Feuilleton "Berliner Gazette". In einer beachtlichen Bachelor-Arbeit schreibt sie: "Der Aphorismus scheint nur auf diese Chance gewartet zu haben." Wie keine andere Gattung sei er angewiesen auf das Weiterdenken des Lesers: "Bislang konnten Autor und Leser nicht in Verbindung treten, bei Twitter können sie sogar die Rollen tauschen", sagt Curth. Natürlich sei es schwer, sich auf 140 Zeichen zu begrenzen, "aber der Aphoristiker im 19. Jahrhundert hatte eine weiße Seite vor sich und musste seinen Schreibdrang selbst zügeln". Der Twitterer wisse immer genau, wie viel Platz er noch hat, um seine Gedanken auszudrücken. "Er kann gar nicht zu weitschweifig schreiben". Als Sonderfall führt das zu Ein-Begriff-Aphorismen: "kapierstau" (der Nickname einer Isabella B.), "To-Do-Lüste" (muserine), "Kreatiefphase" (Shawnnnee).
Auch auf Facebook lassen sich gewitzte Aphorismen finden, abhängig von der Gewitztheit der eigenen Freunde. Seitdem sich in dem sozialen Netzwerk immer mehr Medienunternehmen und andere Firmen tummeln, gehen sie aber im Strom der Postings unter. Zumal inzwischen mehr Bilder und Videos gepostet werden als reine Texte: "Facebook ist ein Bilderflutmedium geworden, in dem alle optisch um Aufmerksamkeit ringen", sagt Curth. "Die Texte dazwischen werden übersehen. Im reinen Text-und-Link-Medium Twitter kann das so leicht nicht passieren."
Im November wird Curth ihre Thesen beim Aphoristiker-Treffen des Deutschen Aphorismus-Archivs in Hattingen vortragen. Eingeladen hat sie Friedemann Spicker, 66, der führende Aphorismus-Experte hierzulande. "Aus der Online-Szene sind bislang nur sehr wenige an uns herangetreten. Das würde ich gern öffnen", sagt er. Natürlich geht es ihm auch um eine Verjüngungskur für seinen Verein: "Der Aphorismus ist keine Altherrengattung. Er kann durchaus flirrend sein." Vor allem aber geht es ihm um die Sache: "Ein Aphorismus braucht die Aktivierung des Lesers, und Twitter bietet Dialogizität. Daraus könnte sich eine Fortentwicklung des Genres ergeben, die hochinteressant ist."
Der Lieblings-Aphorismus des Aphorismus-Experten Spicker stammt dennoch nicht aus Twitter: "Erleben gibt Fülle, Verzicht Profil", geschrieben von Hans Kudszus. Das könne man nicht besser machen, schwärmt er minutenlang am Telefon, "da können Sie sehr lange drüber nachdenken, das ist philosophisch hochinteressant". Zum Schluss des gelehrten Geredes aber zitiert Spicker, der pensionierte Lehrer und promovierte Wissenschaftsautor, dann doch noch einen Lieblings-Tweet, getwittert von tochtervon: "langweilst du dich auch so wie mich?"
haekelschwein: Um als Terrorist zu gelten, müssen Rechte 13 Jahre bomben, Linke ein Auto demolieren und Muslime eine Casio-Uhr tragen.
katjaberlin: es ist aber auch schwierig, keine kinder und keine karriere unter einen hut zu bringen.