Rosa Blondine
EINE PFERDESCHWANZTRÄGERIN, eine rosa Blondine, so betrachtet Walter Nowak die Frau, die sein Ende bedeuten wird. Wie jeden Morgen besucht er das Schwimmbad, Tag für Tag tausend Meter, das stärkt die Kondition und gibt dem langen, leeren Tag des Rentners eine Struktur. Doch etwas ist anders an diesem Sommermorgen. Nowaks Frau Yvonne ist morgens zu einem Kongress aufgebrochen, drei Tage wird sie weg sein, "Ach, Walter, statt Kuss, statt Tschüss, ich komme doch wieder. Ein lächerliches, ein kleines Gefühl."
Länger als gewöhnlich vertreibt sich Nowak die Zeit am Beckenrand, dabei fällt sein Blick auf die rosa Blondine. Als sie auf ihn zukommt, sieht er ihre muskulösen Waden, ihren breiten Nacken, mit einem pfeilgleichen Sprung taucht sie ins Wasser ein, und Nowak, Frauenjäger aus Gewohnheit, folgt ihr, will sie einholen. "Den Fisch fange ich mir", denkt er sich, da prallt er ungebremst mit dem Kopf an den Beckenrand.
Die 37-jährige Schriftstellerin Julia Wolf hat einen schmalen, funkelnden Roman geschrieben, der schon Anfang März erschienen ist, bisher aber wenig beachtet wurde.
Das Faszinierende an dem Buch beginnt schon mit der Frage, wie eine Autorin, die 1980 geboren wurde, dazu kommt, einen Rentner zum Helden und Icherzähler ihres Romans zu machen, einen Mann, der schon in jüngeren Jahren lieber den angepassten Weg gewählt hat und selbst in seinen eigenen Erinnerungen etwas angestaubt wirkt.
Wolf erzählt, und das wirkt von der ersten Seite an kühn, aus dem Kopf von Walter Nowak heraus. Dieser Kopf hat aber nun mal einen heftigen Schlag erlitten, er blutet. "Von sehr weit her: Können Sie mir sagen. Welcher Tag. Heute ist. Jetzt reicht's aber. Der Blick vom Fräulein, die Frage vom Wicht, als wäre ich, ja, was denn? Montag, sage ich."
Irgendwie schafft es Nowak vom Schwimmbad zu seinem Auto, mit Stöpseln im Ohr und Badekappe auf dem Kopf fährt er nach Hause, dort angekommen erschrickt er sich im Flur über sein eigenes Spiegelbild. Von da an fließen seine Erinnerungen unsortiert ineinander, er ist verwirrt von sich selbst, Unbewusstes mischt sich mit weit zurückliegenden Erinnerungen und fügt sich zur Lebensgeschichte. Julia Wolf findet dafür eine Sprache, die manchmal mitten im Satz abreißt, sich dann aber mit dem nächsten Satz zu einer neuen Assoziation verbindet; eine Kunstsprache, die trotzdem lebendig ist und den etwas bockigen Unterton eines Rentners aufnimmt, der sich noch längst nicht so alt fühlt, wie die anderen ihn behandeln.
In Walter Nowaks ungeordnetem inneren Monolog mischen sich Zeilen aus Elvis-Songs, "Don't be cruel to a heart that's. Uuuuu ..." Als Junge war Walter vom hessischen Friedberg nach Bad Nauheim geradelt, um für seine innig geliebte Mutter ein Autogramm von Elvis zu ergattern. Seinen Vater hat Nowak nie kennengelernt, ein wenig hatte er gehofft, gewünscht und sich ausgemalt, dass vielleicht Elvis dieser unbekannte, amerikanische Vater sein könnte.
"Amiflittchen" wurde seine Mutter in Friedberg gerufen und er "Bastard". Erst Walter Nowaks eigener Sohn zwingt ihn, mit diesem Wunschtraum zu brechen und nach dem richtigen Vater zu suchen. Eine gemeinsame Reise in die USA, bei der der Sohn zum Grab seines Großvaters fahren will und Walter Nowak darauf besteht, Elvis' Villa in Memphis zu besichtigen, führt zum Bruch zwischen beiden.
Mit großem Einfühlungsvermögen entwirft Julia Wolf das Leben dieses 68-jährigen Mannes, eines für die Bundesrepublik und die Nachkriegsgeneration vermutlich sehr typischen Lebens, das in der Provinz verhaftet blieb, in dem es als höchstes Ziel galt, materiell und beruflich voranzukommen.
Dabei gelingt Wolf eine beeindruckende Gratwanderung: Die Geschichte Walter Nowaks entwickelt einen Lesesog, sie wird psychologisch so schlüssig erzählt, dass die Tragik der Figur deutlich wird und einen rührt. Zugleich entlarvt die Schriftstellerin Nowak als einen Mann, der Frauen nur über deren Äußeres wahrgenommen hat und ob sie sexuell verfügbar waren. Sein Rollenverständnis ist in den Fünfzigerjahren stecken geblieben, als Elvis noch der King war. Wie nebenbei liefert Wolfs Roman auch eine Antwort auf die Frage, warum nicht wenige Männer das Gefühl haben, die Zeit ziehe an ihnen vorbei.
Viel zu spät erkennt Nowak sein Scheitern. Alle Frauen sind ihm längst entwischt, selbst die rosa Blondine im Schwimmbad. Allein liegt er auf dem Kachelboden seines Badezimmers und stirbt.