SCHRIFTSTELLER Krimi mit Koks
Wer war B. Traven? Wer schrieb "Die Nachtwachen des Bonaventura", das romantische Weltschmerz-Buch? Und hat den "Hamlet" wirklich Shakespeare verfaßt - oder, alter Scherz, ein anderer Autor gleichen Namens?
Auch die Literaturgeschichte kennt "XY ... ungelöst", den Krimi-Quiz "Wer war''s?", Mystifikationen und ungeklärte Vaterschaften; für spürnäsige Sherlock Holmes'', biedere Dr. Watsons und Spinnvögel ein weites Feld.
Nun thrillert es erneut im Literaturbetrieb, und diesmal gibt ein obskurer Russe Rätsel auf: Wer war "M. Agejew"? Ein Phantom? Deckname eines verschollenen Emigranten? Oder gar das Pseudonym eines weltbekannten Autors - etwa Nabokov? Das wiederentdeckte faszinierende Buch dieses Agejew, Titel: "Roman mit Kokain", provoziert solche Fragen und macht Furore.
Einer Französin russischer Herkunft Lydia Chweitzer, war vor acht Jahren bei einem Pariser Bouquinisten ein abgegriffenes Buch in russischer Sprache in die Hand geraten, das ihr bekannt vorkam: Sie hatte es in den 30er Jahren gelesen, es war "das profundeste literarische Erlebnis meiner Jugend"; in der damaligen russischen Emigranten-Kolonie von Paris habe es einen "Skandal" verursacht.
Lydia Chweitzer übersetzte den "Roman mit Kokain" ins Französische, 1983 brachte der Verlag Belfond das Buch heraus, mit promptem Erfolg: ein "einzigartiges Werk" ("Le Figaro"), ein "einzigartiger Autor" ("L''Express") ein "Roman mit Kokain und Genie" ("Les Nouvelles Litteraires"). Übersetzungen in sechs Sprachen folgten, jetzt ist "Roman mit Kokain" auch auf deutsch erschienen _(M. Agejew: "Roman mit Kokain". ) _(Deutsch von Daniel Dubbe. Rowohlt ) _(Verlag. 220 Seiten; 26 Mark. )
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In ihrem Vorwort zur französischen Edition konnte Lydia Chweitzer nur vage Vermutungen über den Autor anstellen - "wir wissen nicht einmal, ob Agejew sein wahrer Name ist". Der Roman sei zunächst in einer russischen Emigranten-Zeitschrift in Paris erschienen, das Manuskript habe der Autor aus Konstantinopel geschickt. Biographisches lasse sich nur aus dem Text erschließen.
Ein dämonisch Umgetriebener gibt sich in "Roman mit Kokain" preis, ein Ich-Erzähler mit Namen Wladim Maslennikow, der zu Beginn des Ersten Weltkrieges ein Moskauer Gymnasium besucht und 1919 zu Tode kommt; im Epilog berichtet ein Moskauer Arzt, der kokainsüchtige Maslennikow habe mit einer Überdosis Selbstmord verübt, in einer Tasche fanden sich, in Wachstuch eingenäht, seine "Erinnerungen".
Aufgefundene Papiere - ein beliebter Topos, um Authentizität und Distanz herzustellen. Klassisch-russische Themen fluoreszieren in den düsteren Konfessionen, der Dualismus Fleisch-Geist, Mutterhaß, Selbsthaß: "Roman mit Kokain" ist die gnadenlose Psycho-Vivisektion eines jungen Mannes, der zerstören muß und sich am Ende selbst zerstört.
Maslennikow, aus armseligen Verhältnissen stammend, trägt sich dennoch wie ein Dandy, am Revers die Blume des Bösen. Er bestiehlt seine Mutter, die sich schließlich erhängt, infiziert wissentlich ein junges Ding mit Syphilis, hängt in Kaschemmen herum, treibt es mit Huren und demütigt, aus eigener Zerrissenheit, seine erste wahre Liebe.
Die heißt, wie anders in russischen Romanen, Sonja, eine Libertine der zaristischen Belle Epoque. Ihr langer Brief zum kurzen Abschied lockert die Falltür zum letzten Akt, zum Kokain.
Agejews Stil, von oft proustscher Sensibilität, gewinnt in der Koks-Episode klinische Schärfe. Er beschreibt die "hüpfende, hysterische Kugel" der "Freude", den Rededrang, die Überzeugung, "schrecklich Intelligentes" zu reden, aber auch die "schreckliche Versteinerung" seines "verängstigten, eisigen Körpers" und die Paranoia: "Ich habe Angst, meine Augen zu zeigen."
"Ein physisches Glücksempfinden hervorzurufen, psychisch unabhängig von äußeren Ereignissen, diese Fähigkeit des Kokains war für mich wichtig" - der Egomane hat seine ideale Geliebte gefunden, die weiße Dame. Die hermetische Welt, in der er lebte, schottet sich nun völlig ab, die Sucht und die Höllen des Entzugs zerren ihn in die Gosse.
Die Weltgeschichte, die Oktoberrevolution, braust so unbemerkt an ihm vorüber - holt ihn aber ein. Die meisterhafte Dramaturgie des Romans läßt zum Schluß eine Figur über Leben und Tod des Helden entscheiden, die insgeheim Maslennikows Gegenspieler ist, den ehemaligen Mitschüler Burkewitz.
Der hatte sich mit eiserner Disziplin und rigoroser Moral an die Klassenspitze gearbeitet und mit Friedenshetzerei, gegen den zaristischen Krieg, beinah um Kopf und Kragen geredet - Maslennikow half ihm damals aus der Bredouille. Am Ende des Buches taucht Burkewitz als Sowjet-Kommissar auf und verweigert Maslennikow die Aufnahme in ein Sanatorium - der Kranke sei von keinem Nutzen für die Revolution.
Wer ist der Autor dieses schwarzen, nihilistischen Erziehungsromans, dieser Passion aus satanischer Romantik und grausamer Selbstentblößung? Wer ist der Mann, der die "Propheten" anfleht: "Entzündet nicht in unseren Seelen die großen Gefühle", denn sie führten zu "Bestialität" - "solange wir schlecht
sind, begnügen wir uns mit kleinen Feigheiten". Wer war M. Agejew?
Der Pariser Slawistik-Professor Nikita Struve, russischer Herkunft meint es zu wissen. Hinter dem nom de plume verberge sich der Schmetterlings-Liebhaber Vladimir Nabokov, Autor unter anderem der "Lolita", russischer Emigrant, Erfolgsautor in Amerika, gestorben in Montreux im Jahre 1977.
Struve baute, in einer russischen Exil-Zeitschrift, auf Indizien, auf frappante Parallelen zum "Roman mit Kokain" in frühen Nabokov-Werken, hier wie da trete etwa eine Sonja im Herren-Pyjama auf, auch in einer Nabokov-Erzählung greife einer zu Kokain, gewisse Vorlieben fänden sich bei beiden. Schönheitsfehler: Agejew beschreibt Moskau intim, Nabokov wuchs in Petersburg heran.
Auftritt Vera Nabokov, 86, Witwe des "Lolita"-Autors. Ihr Text in einer Pariser Emigranten-Zeitung: "Mein Mann hat den ''Roman mit Kokain'' nicht geschrieben, das Pseudonym Agejew nie benutzt... Er war nie in Moskau, hat nie Kokain genommen und schrieb, im Gegensatz zu Agejew, ein sauberes und korrektes Petersburger Russisch." 52 Jahre war sie mit ihm verheiratet.
Was nun? Ende letzten Jahres, das Agejew-Mysterium spukte bereits durch die französischen Medien, öffnete sich eine heiße Spur. Eine Exilrussin mit den Initialen "L. T." sollte den großen Geheimnisvollen gekannt haben - aber wer ist oder war "L. T."?
Lidija Tscherwinskaja, so fanden Spürnasen heraus; und ein langjähriger Freund der Kronzeugin, der Pariser Slawistik-Professor Rene Guerra, half weiter. Guerra, Kenner und Archivar der ersten russischen Emigration (nach der Oktoberrevolution), besitzt frühe Photos der Tscherwinskaja und kennt ihr Domizil: ein Altersheim nahe Paris.
Die Russin, 1907 in Kiew geboren, war 1919 mit ihren Eltern nach Konstantinopel emigriert; als 19jährige zog sie nach Paris, zur Russen-Boheme am Montparnasse. Ein Chronist der Szene erinnert sich ihrer als Femme fatale mit einem Hang zu Lyrik und Depressionen.
Weil sie jedes Jahr ihre Eltern in Konstantinopel besuchte, bat sie ein Redakteur der Emigranten-Zeitschrift, die den Agejew-Roman veröffentlicht hatte, Kontakt zu dem ominösen Autor aus Konstantinopel aufzunehmen - das Manuskript war ja von da gekommen. Was die alte Dame nun von der Reise im Jahre 1934 berichtet, klingt selbst wie ein Agejew-Roman:
Die angegebene Adresse führte sie zu einer Irrenanstalt im jüdischen Konstantinopel-Viertel Galata. Agejew, ein russischer Jude mit dem wahren Namen Mark Levi, lebte hier wegen "Zittern der Hände" und gelegentlicher "Halluzinationen", war aber Freigänger. Mit Hilfe ihres Vaters, eines Bankdirektors, gelang es ihr, Mark Levi in einer russischen Buchhandlung unterzubringen; und die beiden verliebten sich.
Er war ein "hübscher Bursche", erinnert sich Lidija Tscherwinskaja, etwa 35 Jahre alt, in Moskau aufgewachsen; auch die "rote Bettdecke" in ihrem Liebesnest hat sie noch in Erinnerung. Kokainist sei Levi nicht gewesen. Das Händezittern, erzählte er ihr, rühre von einer Gewalttat: Er habe im Bürgerkrieg einen Offizier der Roten Armee erschossen.
Danach sei er nach Berlin geflohen, zu Verwandten, die in der Pelzbranche tätig waren. Knapp eine halbe Million Russen lebten Anfang der 20er Jahre in Berlin, unter ihnen Nabokov, Pasternak, Ehrenburg. In Berlin schrieb Levi seinen
"Roman mit Kokain", hinterließ keine Spuren und zog um 1933 nach Konstantinopel.
Dichtung oder Wahrheit der Tscherwinskaja? Nach ihrer Affäre bestieg sie den Orientexpress und hat nie wieder von Mark Levi gehört. Mittlerweile schiebt die Übersetzerin des "Romans mit Kokain", Lydia Chweitzer, neue Beweise nach: Die jüdische Gemeinde Istanbuls (Konstantinopels) teilte ihr mit, laut Aufzeichnungen der Rabbiner sei ein Mark Abramowitsch Levi am 12. Februar 1936 in einem Krankenhaus gestorben und im Armengrab auf dem Judenfriedhof beigesetzt worden.
Und plötzlich hat der Verblichene erblüsterne Nachkommen. Beim Pariser Agejew-Verleger Belfond stellten sich mehrere "Söhne" des Mark Levi vor.