Kleine Wachteln
Der kleine Dicke und der lange Hagere, zwei mittelprächtige Figuren aus der quirligen New Yorker Theaterszene, sind ein paradoxes Freundespaar. Das zeigt sich rasch, wenn die beiden, die einander Jahre nicht gesehen haben, bei einem "Dinner" in einem pompösen Restaurant Wiedersehen feiern.
Don Quichotte, der einstige Avantgarde-Regisseur Andre Gregory, jetzt 48, erzählt mit glühenden Augen von all den spirituellen Trips, die er in den letzten Jahren unternommen hat: Wie er unter Grotowskis Fittichen Wochen in einem Selbsterfahrungstheater-Camp in polnischen Wäldern verbrachte und neu getauft wurde, wie er mit einem buddhistischen Mönch in der Sahara aus Verzweiflung Sand fraß, wie er in der schottischen Findhorn-Kommune an einer Empfangshalle für UFO-Besucher werkte, wie er bei einem Allerheiligen-Ritual auf Long Island lebendig begraben wurde und auferstand ...
Sein Sancho Pansa, der Bühnenautor und Gelegenheitsschauspieler Wallace Shawn, jetzt 38, ein eingefleischter New Yorker, hört sich die exotischen Abenteuer seines Freundes mit Amüsement, Verwirrung und Skepsis an: Warum sollte er zwecks Selbsterfahrung auf den Mount Everest kraxeln, wo es doch schon in Manhattan so unwirtlich kalt ist, daß er sich am liebsten unter seine elektrisch heizbare Bettdecke kuschelt?
So reden die beiden einen Abend lang klug und geschwätzig, subtil und versponnen über die Schwierigkeiten, die Realität wahrzunehmen, und nehmen dabei so recht weder die Restaurant-Realität rundum noch das Essen auf ihren Tellern wahr, die arg kleinen Wachteln, die da langsam kalt werden.
Die Idee zu dem Spielfilm, der nun "Mein Essen mit Andre" heißt, hatte der kleine Dicke: Warum sollten sie beide, wie sie da saßen und redend hinter Erkenntnis herhampelten, nicht genauso exemplarisch für ihre Spezies und deren Zustand sein wie irgendein erfundener mittelprächtiger Windmacher oder Tiefbohrer im Kulturgetümmel?
So quetschten und quatschten sich die beiden über Wochen bei laufendem Tonband aus; die gut 2000 Manuskriptseiten, die dabei herauskamen, verdichtete Shawn zu einem Drehbuch, das zwei Intellektuelle bei der einzigen Tätigkeit zeigt, bei der sie sich sicher sind: endlos über sich selbst reden.
Die beiden Narren fanden einen dritten, den ihre Idee begeisterte, den französischen Regisseur Louis Malle: Er hat ihre Selbstdarstellung minuziös mit ihnen einstudiert, hat sie ihr Dinner-Duett zwecks Konditionstraining sogar auf der Bühne vorführen lassen und hat endlich einen Film gedreht, der dem Zuschauer (quasi als stummem Dritten am Tisch) gut hundert Minuten lang nichts als Wally und Andre beim Reden zeigt - und es ist Malle gelungen, darin den Zustand einer Spezies in all seiner Komik, seinem Charme und seiner Trostlosigkeit sichtbar zu machen.
"Mein Essen mit Andre" - eines der kleinen, heimlichen Kino-Erlebnisse dieses Jahres - macht nicht satt; will es auch nicht, deshalb ist es ein Film. Im Leben kann man leicht jeden Tag mit zwei langweiligeren und dümmeren Menschen essen gehen. Urs Jenny