Christian Schultz-Gerstein über Urs Jaeggi: »Grundrisse«
Wenn man dem Urteil der Literaturkritiker trauen darf, dann ist Urs Jaeggis neuer Roman »Grundrisse« ein Meisterwerk.
Beim diesjährigen Klagenfurter Vorlese-Wettbewerb zeichnete die elfköpfige Jury, besetzt mit so gewichtigen Mitgliedern wie Peter Härtling, Adolf Muschg und Walter Jens, den Soziologie-Professor Jaeggi für einen Ausschnitt seines Romans mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis aus.
Der repräsentative Kritiker-Durchschnitt, die 29 Juroren der SWF-Bestenliste, lobten die »Grundrisse« im Oktober gleich auf den vierten Platz.
Die »FAZ« feierte in einer voluminösen Rezension gar ein epochales Literaturereignis. »Der zeitgeschichtliche Roman hat wieder eine große Perspektive«, verkündete da der Kritiker Ueding und ernannte Jaeggi zum Nachfolger der großen Gesellschaftsromanciers, zum Nachfolger von Döblin und Musil, von Koeppen und Graß.
Nach der Lektüre des so gelobten Buches staunt man nicht schlecht, denn der zum Döblin-Nachfolger gekürte Jaeggi bringt in seinem Roman das Kunststück fertig, nahezu 300 Seiten vollzuschreiben, ohne daß man am Ende wüßte, wovon denn nun die ganze Zeit die Rede war.
Zwar beschwört der Autor fortwährend: »Etwas ändert sich«, »etwas hat sich verändert« und im Kopf der Hauptfigur sei »irgend etwas explodiert«. Nur, was da explodiert sei, was sich verändert haben soll, erfährt man nicht, weshalb der Autor denn auch fortfährt zu wiederholen, daß sich »etwas verändert hat«.
Wenn Jaeggi Handlung immer nur vortäuscht, indem er sie behauptet statt sie erzählend zu entwickeln, so ergibt sich das zwangsläufig aus der Tatsache, daß auch seine Figuren nur Behauptungen sind.
Die Ehefrau Ursula ist »radikal«, Tochter Ruth ist 13 und auch »radikal«, Ehemann Albert ist Architekt, um die 40 und hat damals bei der Apo mitdemonstriert und so weiter.
Weil diese Figuren keine in Verhaltensweisen, Empfindungen oder Wahrnehmungen nachwirkende individuelle Vorgeschichte haben, bleibt, was immer Jaeggi ihnen auch andichtet, beliebig und ohne Zusammenhang.
Dieselbe Tochter Ruth, die gegen die »Scheißerziehung« aufbegehrt, die gegen die Folterstaaten in Lateinamerika protestiert und zu Anti-Atom-Demos fährt, könnte genausogut Mitglied der Jungen Union sein und meinen, daß ohne Atomstrom die Lichter ausgehen; derselbe Robert, der »aus der Nähe lustig wirkt«, könnte auch aus der Nähe grämlich wirken; derselbe Albert, der da »fühlt, wie er eine Weile zu allem fähig wäre«, könnte genauso grundlos fühlen, wie er zu nichts fähig wäre - es würde diesen sogenannten Roman gar nicht verändern, wenn man Jaeggis Figuren mit irgendwelchen anderen Wort-Plaketten zudeckte.
Derart haltlos ist die Sprache des Bachmann-Preisträgers, daß sie, was sie vergegenständlichen will, verflüchtigt. Gerade so, als hätte Jaeggi mit jener Tinte geschrieben, bei der das eben Geschriebene sich wenig später in ein leeres Blatt verwandelt.
Das liest sich dann etwa so: »Für sein Empfinden ist die Landschaft zu flach, obwohl gerade die flach und öd scheinende Weite ihn, der aus einer Hügellandschaft kommt, andererseits fasziniert.« Obwohl, könnte hier jedermann ins Blaue hinein weiterdichten, die Hügellandschaft wiederum den Reiz hat, nicht so flach zu sein wie die flache Landschaft, die aber ihrerseits wiederum den Charme (oder sonstwas) der Hügellosigkeit für sich hat.
Nein, nach Sinn und Zusammenhängen darf man hier nicht fragen.
Warum der Architekt Albert Knie plötzlich nicht mehr Architekt sein will und die Betonburgen, die er gerade noch mitgeplant hat, nun als Verbrechen an der Menschheit empfindet; wie es denn eigentlich zur Beziehungskrise mit Ehefrau Ursula gekommen ist; welche Erfahrungen Tochter Ruth antreiben, die Schule als »Foltermaschine« zu hassen - von Jaeggi erfährt man nur ereignislose Endresultate, amtliche Mitteilungen über Personen, die man nicht kennt und in diesem Roman auch nicht kennenlernt.
Wieso aber applaudiert der Literaturbetrieb einem Buch, dem es an literarischer Qualität so sehr mangelt, daß selbst Jaeggis Bewunderer ihre Lobeshymnen mit dem verlegenen Eingeständnis beschließen, Sprache und Stil des Autors ließen doch sehr zu wünschen übrig?
Um das zu verstehen, muß man wissen, daß Literaturkritiker sich als engagierte Intellektuelle begreifen, die jede Gelegenheit zur Bekundung ihrer kritischen Zeitgenossenschaft begierig am Schopfe packen. Und Jaeggis Roman ist da ein wahrhaft paradiesisches Angebot.
Auf seinem ideologischen Grabbeltisch findet der kritische Zeitgenosse alles, was man so braucht, um als kritischer Zeitgenosse durchzugehen.
Der Protagonist war einst in der Apo aktiv, er kannte »Rudi D.«, heute sympathisiert er mit Hausbesetzern und steht der Anti-Atom-Bewegung nahe. Die Gefährdung der Umwelt ist ihm ebenso geläufig wie die Krise der Ehe, die er mit einem Sprung in die Beziehungskiste quittiert. Dank Tochter Ruth, 13, fehlt es auch am Dialog mit der Jugend nicht. Und weil Jaeggis Hauptfigur den Beruf aufgibt, wird zu alldem der kritische Zeitgenosse noch mit dem Aussteiger-Problem bedient.
Umweltzerstörung? Beziehungsfrost? Apo-Vergangenheit? Der engagierte Literaturkritiker muß gar nicht mehr hinhören, denn dieser Autor nimmt ihm ja beständig das Wort aus dem Mund.
Und eben dies gilt ihm als hohe Roman-Kunst, daß es aus einem Buch herausschallt, wie er in sein Feuilleton hineingerufen hat. So gesehen, ist Jaeggi in der Tat ein vollkommenes Meisterwerk gelungen.