Hellmuth Karasek über Max Frisch: „Montauk, eine Erzählung“ Bekenntnisse auf Distanz
Der Kavalier -- so wußte es der Volksmund, als es ihn noch gab -- genießt und schweigt. Der Schriftsteller, der Bekenntnisse, Lebensbeichten auf sein Panier geschrieben hat, plaudert alles aus. Und ob er schon deshalb kaum "genießt", weil er seine Erlebnisse auf Formulierbares hin ausrichten muß, weil er, als dritte Person, mit dem Stenogrammblock neben den Freuden und Leiden des Ich steht -- dieser Verdacht drängt sich zumindest auf, wenn man Max Frischs neues, am stärksten bekenntnishaftes Buch, die Erzählung "Montauk", liest.
Ein erzählendes Er, das sich neben ein erlebendes Ich stellt, ja drängt, jemand, der melancholisch aufrichtig bilanziert, während er doch gleichzeitig, auf den Augenblick gesammelt, leben möchte -- das formale Thema von "Montauk" ließe sich in dieser ständig zum Stilprinzip erhobenen Schizophrenie, in dieser für den Schriftstellerberuf spezifischen Entfremdung zwischen Ich und Ich auf eine Formel bringen.
Doch Frisch, der sein Leben lang Formeln und Festlegungen gehaßt und bekämpft hat (so als wären sie Chiffren des Todes), führt in "Montauk" gleichzeitig ein sarkastisches Schlußgefecht gegen Form und Formulierung. Seine Bilanz, offen und rückhaltlos wie nie zuvor: "Ich habe mir mein Leben verschwiegen. Ich habe irgendeine Öffentlichkeit bedient mit Geschichten. Ich habe mich in diesen Geschichten entblößt, ich weiß, bis zur Unkenntlichkeit. Ich lebe nicht mit der eignen Geschichte, nur mit Teilen davon, die ich habe literarisieren können." Und weiter: "Es stimmt nicht einmal, daß ich immer nur mich selbst beschrieben habe. Ich habe mich selbst nie beschrieben. Ich habe mich nur verraten."
Ein solches Bekenntnis, in dem kein Hauch von Koketterie mehr mitschwingt, das von der masochistischen Pose des "Asche aufs Haupt streuen" schlackenlos frei ist, steht in einem Buch, das nach dem "Gantenbein"-Verfahren noch einmal "Geschichten anprobiert wie Kleider". Nur: Es sind diesmal nicht Geschichten, die der Erzähler wählt, um seine Erfahrungen parabolisch zu kaschieren, sondern Geschichten, die ihm als Lebensgeschichte zugestoßen sind.
Der seltsame Titel der Erzählung ist ein geographischer Name: Montauk ist der (indianische) Name der Spitze von Long Island. Dorthin fährt Frisch, mit einer dreißig Jahre jüngeren Frau, die er auf einer Lesereise durch Amerika in New York kennengelernt hat, für ein Wochenende.
Frisch hat die Neugierde der Leser, in einer fremden Biographie herumzuschnüffeln, scheinbar nie so rückhaltlos bedient. Denn die Episode von Montauk, das Wochenende in der wohltuenden Distanz der fremden Sprache ("How did I encourage you") mit dem hageren rothaarigen Mädchen wird zum Anlaß und Auslöser, vergangene Erfahrungen zu bilanzieren -- allerdings ohne beruhigenden Schlußstrich.
Ja, der Autor war der Bachmann hörig. Ja, seine Ehe mit der ebenfalls um dreißig Jahre jüngeren Marianne war (ist?) eine Art Vorhölle -- gerade aus Rücksichtnahme und Resignation. Ja, Frisch hat Frauen zu Abtreibungen veranlaßt. Ja, in der Abschiedsnacht mit Lynn, seiner amerikanischen Freundin, ist er impotent ("sein Körper hat versagt"). So schutzlos hat sich in jüngster Zeit kein Autor seinen Lesern preisgegeben. Auch dies ein "Rien ne va plus" eines Autors, der seinen Beruf immer als öffentliche Selbstaufgabe verstanden und erduldet hat und der diesmal auch noch mit uneitler Ironie all die Mißverständnisse bündelt, die sich zwischen einem Autor und seiner lesenden Gefolgschaft einstellen. Jemand, der ihn in der Sauna als "Herr Fritsch" anspricht; jemand, der ihm zu seinem "Besuch der alten Dame" gratuliert.
Im Werk von Frisch wirkt "Montauk" wie ein merkwürdig endgültiger Schlußstein. Frisch, der sich der Öffentlichkeit mit politischen Parabeln ("Biedermann", "Andorra") eingeprägt hatte, ja, dessen Tagebücher geradezu verweigerten, ist seit seinem Theaterstück "Biografie" auf einem, salopp gesagt, schriftstellerischen Ego-Trip.
Sind die Erlebnisse so bitter schlußpunkthaft geworden, daß ihnen unverhüllt, ohne beispielhafte Verkleidungen, der exemplarische Sinn ("Über das Altern") von selbst innewohnt? Oder droht hier die Gefahr, daß einer seine Person da hätschelt (wenigstens mit geduldig beobachtender Anteilnahme), wo das Leben seine Streicheleinheiten mehr und mehr rationiert?
Ich glaube, daß Frisch durch seine Aufrichtigkeit, durch das Vermögen seiner heiter-schmerzlichen Distanz und durch die formale Meisterschaft einer kühlen und zugleich betroffenen Schreibart jeden aufdringlichen Schweißgeruch einer unzumutbaren Nähe der Privatheit vermeiden kann.
Sicher, an einigen wenigen Stellen muß die Selbstbeobachtung dabei Beiläufiges zu wichtig nehmen. Selbst bei einem Schriftsteller wie Frisch bleibt eine lakonische Bemerkung wie die über Handkes "Wunschloses Unglück"
"ein Text, der mir Eindruck macht" -- ein unerheblicher Party-Slogan. Und wenn Frisch auf einer Reise in die Bretagne den Halbsatz formuliert "Ein Mittagessen, ein einfaches, aber köstlich", so darf man sich dadurch ähnlich behelligt fühlen, wie wenn Freunde einem ihre Ferien-Dias vorführen.
Aber insgesamt ist dies ein Buch, dessen Privatheit gerade durch ihre skeptische Distanz zum Erlebten und zum Leser jene betroffene Solidarität erzeugt, die für den Lesenden (also auch für den Schreibenden) die einzige Rechtfertigung für dergleichen Konfessionen ist. Frisch, der sich im Motto auf Montaigne bezieht ("Denn ich bin es, den ich darstelle"), ist auch nach "Montauk" der öffentlichkeitsscheueste Schriftsteller geblieben. Dieses Paradox ist auch eine Qualität des Buchs. das intimes Tagebuch nur sein kann, weil es Persönliches objektiv erzählt. Ein Leben? Eine "Erzählung".