Günther Nollau über Reinhard Gehlen: "Der Dienst" Verdienstvolle Selbstenthüllung
Der Slogan, mit dem Gehlen seine »Erinnerungen« einführen läßt. »Jetzt rede ich«, ist unzutreffend. Geredet hat er schon zwanzig Jahre -- nur hinter vorgehaltener Hand und unter dem Schutz von Geheimhaltungsvorschriften.
»Der Chef eines Nachrichtendienstes"« schreibt Gehlen. »trägt ... die Verantwortung für das Gemeldete ebenso wie für das Nichtgemeldete.« Diese Verantwortung teilt er mit jedem Autor, und als Autor zeigt er Leichtgläubigkeit bereits im ersten Kapitel. Martin Bormann läßt er als Spion und Berater der Sowjets auferstehen. »Zwei Informationen geben mir Gewißheit«, schreibt er. Welchen Wert die Informationen hatten, wie die Informanten sich ihre Kenntnis verschaffen konnten, verschweigt Gehlen.
Im Fall Bormann ist kein geistiger Aufwand nötig, um Gehlens Nachricht als Ente zu erkennen. Wir haben das klare Zeugnis eines Mannes, der noch lebt, des früheren Reichsjugendführers Axmann, der Bormann bei der Flucht aus Berlin begleitet und ihn am gleichen Tage tot daliegend gesehen zu haben glaubt. Die obskuren Informanten Gehlens wiegen demgegenüber um so weniger, als in ihren angeblichen Aussagen Elemente hoher Unwahrscheinlichkeit enthalten sind.
Die Russen, schreibt Gehlen, hätten Bormann in den Nachkriegsjahren als »Berater« verwendet. Ein Nachrichtendienstchef sollte das Mißtrauen kennen, mit dem Stalin und ihm folgend der sowjetische Geheimdienst allen gegenüberstanden, die aus dem kapitalistischen Westen kamen, sogar ihren eigenen Leuten. Ausgerechnet diesen Obernazi, den Bormann. sollen »die Russen« als Berater beschäftigt haben? Die Frage stellen, heißt sie verneinen.
Gehlens Bormann-Legende hat dennoch Wert. In ihr vertraut er dem oh solcher Naivität verblüfften Leser an, er sei sich mit dem Abwehrchef Canaris darüber einig gewesen, »daß ein gezielter Ansatz zur Oberwachung« Bormanns so gut wie ausgeschlossen war. »Jede Unvorsichtigkeit hätte das Ende der Nachforschungen und auch unser Ende bedeutet.« Mit anderen Worten: Während jeder Soldat im Felde sein Leben riskierte, waren die Herren Generäle zu ängstlich, pflichtgemäß gegen den zu ermitteln, der ihnen als der gefährlichste Spion erschien. Ob Canaris so feige war, ist zu bezweifeln. Wer hat jedoch Argumente, das Geständnis des Herrn Autors zu erschüttern?
Über Admiral Canaris schreibt der Autor wahrheitsgemäß, die Angehörigen der Abwehr hätten ihn verehrt. Wenn Gehlen aber fortfährt: »Canaris lehnte den politischen Mord aufs strengste ab«, so muß, um der historischen Wahrheit willen, an eine Tatsache erinnert werden, die Gehlen entweder nicht kennt oder unterdrückt. Nicht immer in seinem Leben hat Canaris den politischen Mord aufs strengste abgelehnt. 1919 hat er zum Beispiel als ein am Kriegsgerichtsverfahren gegen die Mörder Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts beteiligter Offizier aktiv daran mitgewirkt, daß einer der Mörder fliehen konnte. Mord ist Mord -- oder nicht, Herr General?
Des Admirals Canaris gedenkt Gehlen auch als Opfer des 20. Juli 1944. Dabei erwähnt er -- völlig überflüssig -- seine eigene Rolle. Er, Gehlen, sei in die Widerstandsvorbereitungen »eingewiesen« worden. In den Kreis der Verdächtigen sei er nicht »sofort« geraten, weil er nach dem 20. Juli in einem Lazarett gelegen habe. Die Gestapo habe ihn »wohl einfach vergessen«. Diese Einfalt enthält eine Zumutung an den Leser. ln Wahrheit bestehen nur zwei Möglichkeiten: Entweder war Gehlen unbeteiligt oder sein Name ist der Gestapo nicht genannt worden. Ein »Vergessen« gab es bei dieser Polizei nicht, die sogar über unschuldige Verwandte Sippenhaft verhängte.
Gehlen berichtet nur oberflächlich über seine Amtszeit als Dienstchef. Die Wahl einiger seiner Themen ist aber bezeichnend. Ein Auslandsnachrichtendienst, so schreibt er, müsse sich »in möglichst breiter Form auf Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens abstützen«. Dieses sein Bestreben sei »in Richtung auf ein innenpolitisches Interesse mißdeutet worden« --
»In möglichst breiter Form« hat Gehlen allerdings seine Leute in der Bundesrepublik arbeiten lassen. Er hatte -- wie inzwischen öffentlich diskutiert worden ist -- seine V-Leute in der SPD. Damit ist nur die Spitze des Eisbergs gezeigt. In Wahrheit hatte Gehlen -- das ist durch die SPIEGEL-Serie bewiesen, deren substantiierte Darstellung er durch pauschales Bestreiten nicht entkräften kann -- die Bundesrepublik mit einem Netz von V-Leuten überzogen. Mit »Abstützen« der Auslandsarbeit hat diese Arbeitsweise nichts zu tun. Gehlen betrieb in Wahrheit Nachrichtendienst zu politischen Zwecken. Sein Ziel war es, eine politisch beherrschende Stellung im Lande zu gewinnen.
Darauf läßt auch seine Forderung schließen, der Auslandsnachrichtendienst solle »zu unverbindlichen Sondierungen und Erkundungen« benutzt werden, bevor die offizielle Diplomatie aktiv werde. Nach Gehlens Vorstellung hätte der Mission Bahrs in Moskau »eine Vorklärung durch eine geeignete Persönlichkeit des Nachrichtendienstes« vorausgehen sollen. Ein mit Gehlens Personalpolitik Vertrauter kann das Vergnügen nicht abweisen, sich einen General a. D. mit Krückstock an der Kremlpforte »vorsondierend« auszumalen.
Ein »gerüttelt Maß von Erfahrung« von seinen Mitarbeitern verlangt zu haben, behauptet Gehlen. Er machte davon jedoch Ausnahmen -- bei der Beschäftigung von Verwandten und Verschwägerten. Den Vorwurf des »Nepotismus« will er entkräften mit dem Hinweis, Empfehlungen aus dem Mitarbeiterkreis seien der Entwicklung des Dienstes förderlich gewesen. Auf diese unverfrorene Weise versucht er, die Öffentlichkeit darüber zu täuschen, daß er durch Einstellen naher Verwandter und verschwägerter Personen, durch ihre Beförderung auf die glänzendsten Positionen, die er zu vergeben hatte, den »Dienst« zu einer Sinekure seiner Familie gemacht hat.
Die gleiche Unverfrorenheit zeigt der Autor in der Darstellung des Falles Felfe. Zwar ist kein Dienst gegen das Eindringen gegnerischer Spione in die eigenen Reihen gefeit. Gehlen sucht aber zu verniedlichen, daß Felfe von ihm zehn Jahre als Beschaffer von Informationen über den sowjetischen Geheimdienst geschätzt worden ist. Woran erkennt man die Qualität eines Beschaffers? An der Qualität seiner Nachrichten. Was Felfe an Nachrichten brachte, war ihm vom sowjetischen Geheimdienst mitgegeben worden, um Gehlen zu täuschen. Das gelang Jahre hindurch -- trotz der Warnungen, die Gehlen zugingen. Nur seine Leichtgläubigkeit machte das lange Wirken Felfes möglich.
Aus der Selbstverteidigung im Falle Felfe geht Gehlen zum Angriff auf die Politik der Bundesregierung über, wenn cr sich über Entspannung ausläßt. »Ich betrachte«, so bekannte er. »den Kommunismus als tödliche Gefahr und lehne sein Gedankengebäude vollkommen ab.« Nun, daran wird nicht gezweifelt. Gehlen kennt aber den Kommunismus nicht so »vollkommen«, wie er ihn ablehnt: »Die kommunistische Ideologie ist auch heute noch ... die Grundlage aller wichtigen Entscheidungen im kommunistischen Machtbereich.« Gehlen gehört also zu den Naiven, die auf die Behauptung der Kommunisten hereinfallen, die Ideologie diene ihnen als Anleitung zum Handeln.
Man überlege, durch welchen Satz der Ideologie Stalin die Hinrichtung der Altbolschewisten in den Säuberungen hätte rechtfertigen sollen? Oder: Wie der Abschluß des Stalin-Hitler-Pakts mit anschließender Auslieferung deutscher Kommunisten an die Gestapo ideologisch zu rechtfertigen war? Oder: Welche kommunistische Ideologie die Überfälle auf sogenannte sozialistische Länder (Ungarn, Tschechoslowakei) gebot? Oder: Wie läßt sich ideologisch begründen, daß die Sowjet-Union an das nichtkommunistische Indien Mig-Jagdflugzeuge lieferte, als dieses Land im Grenzstreit mit dem kommunistischen China lag?
Diese Beispiele genügen, um darzutun: Das Handeln der sowjetischen Führer ist von machtpolitischen Interessen der Sowjet-Union bestimmt. Die Ideologie dient ihnen als Rauchvorhang, hinter dem sie ihre wahren Motive verbergen. Das gilt nicht nur für die Politik gegenüber dem Westen, sondern gerade auch für Aktionen gegen sozialistische Länder.
Jahrelang haben die Russen im Westen den Eindruck zu erwecken versucht, ihr Streit mit China gehe um ideologische Prinzipien. In Wahrheit streiten sich die beiden Mächte um das Gebiet zwischen Baikalsee und Wladiwostok, das die Russen den Chinesen herausgeben müßten, wären sie von Ideologie geleitet. Die Russen klammern sich aber an ihr fernöstliches Gebiet wie jeder beliebige Imperialist.
Auch in seiner Behandlung der Volksfrontpolitik läßt Gehlen erkennen, daß er das Abc des Kommunismus nicht beherrscht. Er schreibt: »Die erstrebte Volksfront neuen Typs ... unterscheidet sich von der Volksfront der dreißiger Jahre dadurch, daß sie auch die Zusammenarbeit mit nichtmarxistischen Kräften ... erlaubt.« Das ist historisch falsch. Die Volksfrontpolitik der dreißiger Jahre wurde erstmalig in Frankreich betrieben. Dort vereinigten sich im Juli 1935 Kommunisten und Sozialisten mit Kräften der nichtmarxistischen Mitte zur Volksfront.
Tatsächlich liegt das Wesen der heutigen Volksfrontpolitik nicht in der Beteiligung nichtmarxistischer Kräfte. Die Frage ist vielmehr, ob die alte kommunistische Taktik, die Partner nur zu umarmen, um sie zu ersticken, noch heute gilt. Die Kommunisten bestreiten das. Ihre Versicherungen sind mit Skepsis zu betrachten.
Diese kritische Beurteilung führt nicht dazu, die Memoiren als wertlos zu bezeichnen. Im Gegenteil. Gehlen hat durch sie -- auch durch den Schreibstuben-Stil, in dem er sie verfaßt hat -- bewiesen, wes Geistes Kind er ist und was von dem Nimbus zu halten ist, den er mit so bescheidener Substanz aufgebaut hat. Geholfen hat ihm die unkritische Verehrung der Generalität, früherer Verantwortlicher und großer Teile der Presse. Sich nun enthüllt zu haben ist Gehlens Verdienst.