Peter Bichsel über Peter O. Chotjewitz: "Die Insel. Erzählungen auf dem Bärenauge" ZUM BEISPIEL AUCH BERLIN
Es gibt die Lust zu schreiben, und es gibt die Lust zu lesen. Es gibt Leute, die nicht einschlafen können. ohne zu lesen, oder die auf der Toilette das dringende Bedürfnis haben, zu lesen, die lesen müssen, wenn sie betrunken sind, die nach dem Essen lesen müssen, Leute, die nicht durch die Straße gehen können, ohne alles Geschriebene zu lesen. Es gibt Leute, die lesen die Zeitung nicht wegen des Inhalts, sondern wegen des Lesens. Lesen kann also zum Selbstzweck werden, zu einer Beschäftigung, zu einer Leidenschaft an und für sich.
Solche Leute scheinen mir die geeigneten Leser zu sein für Peter 0. Chotjewitz' Buch »Die Insel. Erzählungen auf dem Bärenauge«, denn Chotjewitz vermittelt hier Lesestoff, Geschriebenes für Leute, die lesen mögen.
Ein Buch, das vor allem dem Selbstzweck »Lesen« dient, nennt man (zum Beispiel in der Schule) Lesebuch. Chotjewitz sammelt in seinem Lesebuch den langweiligen und spannenden Plunder des Lebens von Sebastian Rottenkopf und gibt eine genaue Beschreibung des Bärenauges, von dem man bis zum Schluß nicht genau weiß. was es ist. Das Bärenauge ist so etwas wie eine Gegend, die nach Laune in ihrer Größe veränderbar ist; es kann so klein sein, daß man knapp mit einer Frau darauf schlafen kann, es kann sich ausweiten auf die Größe einer Stadt, es ist zum Beispiel auch Berlin.
Diese dehnbare Gegend ist die erstaunlichste Erfindung des Buches. Sie allein macht das Buch zu etwas Neuem, ohne diese Erfindung wäre vielleicht auch dieses Buch ein modernistisches geblieben.
Der Trick, in eine bestehende Gegend veränderbare Figuren zu setzen (Chotjewitz hat die Gewohnheit, dauernd auf sein eigenes früheres Buch hinzuweisen -- ich lasse es sein), ist längst bekannt.
Chotjewitz macht aber die Gegend variierbar. Eine Gegend wird so zum Thema. Vielleicht ließe sich behaupten, daß immer das Variierbare zum Thema eines Buches wird (nie das Bestehende und oft gegen den Willen des Autors), dann wäre die » Insel« das erste Buch über Berlin, was sehr wahrscheinlich doch auch wieder nicht stimmt.
Chotjewitz sucht die offene Form, eine Form, in der alles Platz hat, was ihm einfällt, was er schreiben will. Seine offene Form hat Methode, der Einfall mit dem Bärenauge schafft fast unbeschränkte Möglichkeiten, und so wird denn der Leser gleich vom Anfang des Buches an mit einer erfrischenden Fülle von Wörtern, Sätzen, Gedankensplittern, Gescheitheiten und Dummheiten überschüttet.
Sehr bald aber erklärt sich der Leser mit dem Tonfall. dem Rhythmus, mit der Welt des Buches derart einverstanden, daß ihn nichts mehr überraschen kann. Es zeigt sich, daß die offene Form nichts produzieren kann, was über das Gewollte hinausgeht; daß nur eine Einschränkung, eine Festlegung auf etwas die Phantasie anzuregen vermag.
Man kann von Chotjewitz' Buch nicht sagen, daß der Anfang hervorragend sei und daß das Buch gegen Schluß abfalle; denn wenn man es von hinten nach vorn liest, entsteht der umgekehrte Eindruck; wenn man es nach Tagen wieder irgendwo aufschlägt, ist man überzeugt, jetzt die beste Stelle gefunden zu haben. Das heißt, daß es dem Autor gelungen ist, die Form zu schaffen, in der alles Platz hat; aber die Form produziert nichts weiteres, die »Insel« wird zu einem »phantasielosen« Buch.
Chotjewitz ersetzt die Phantasie durch die Lüge. Was er auch beschreibt, er lügt erfrischend drauflos. Erfrischend deshalb, weil er den Leser nirgends zur Kontrolle zwingt. Es reizt mich nicht einmal, seine Zitate aus anderen Büchern, die er exakt mit Seitenzahlen angibt, zu überprüfen; sehr wahrscheinlich stimmen sie, vielleicht sind sie gelogen, das spielt keine Rolle, ich nehme sie als Lüge. Chotjewitz verkauft selbst die Wahrheit als Lüge.
Zudem hat er, wiederum durch die variierbare Größe der Gegend, die Möglichkeit, das Gewicht, die Größe des Ereignisses selbst zu bestimmen. Er macht aus einem Pinten-Besuch ein überdimensionales Ereignis und verkleinert, verniedlicht den Schah-Besuch auf Sandkastengröße, ganz kleine Polizisten gehen auf ganz kleine Studenten los, und man verfolgt die Szene ohne Emotionen -- ein unmenschliches« Buch also, aber die Lüge will keine Verhältnisse schaffen, es gibt innerhalb der ]Lüge keinen Unterschied mehr zwischen Wahrheit und Lüge.
Deshalb gelingt Chotjewitz eine überraschend wertfreie Darstellung der Vorgänge; Beischlaf, Homosexualität, Saufereien, Kotzereien sind sehr deutlich und exakt beschrieben -- sie wirken aber überhaupt nirgends unappetitlich, auch nicht appetitlich, einfach selbstverständlich. Ich nehme vom Lügner Chotjewitz Dinge an. die ich einem Phantasten bereits verübeln würde, die ich als Wahrheit schlecht ertrage. Dabei weiß ich, daß die Wahrheiten hinter dieser Lüge existieren, daß Wahrheit als Lüge ausgegeben wird, es ist also keine thematische Lüge. es ist eine stilistische. Sie genügt, um mich zu besänftigen. Ich erschrecke nicht über einzelnes (etwa Schah-Besuch), sondern über das Ganze (Bärenauge),
Und nach und nach fällt dann doch auf, daß auch diese Form Gesetze schafft, die es zu erfüllen gilt. Es fällt da auf, wo der Autor dagegen verstößt. Da zum Beispiel, wo er von Personen oder mit Personen etwas ganz Bestimmtes will, da, wo er den »ortsansässigen Dichter« fertigmachen will. Die Gedichte sind zwar gelungene Graß-Parodien, sie sind so wahllos wie vieles andere auch eingestreut, aber die Form des Ganzen verschließt sich ihnen, weil sie tendenziös sind, weil sie etwas anpeilen -- Applaus der Grau-Gegner zum Beispiel. Hier wird Chotjewitz ernst.
Hier legt er plötzlich Wert darauf, verstanden zu werden. Hier wird er deutlich, und das Spiel mit dem dehnbaren Bärenauge bricht zusammen.
Es bricht auch zusammen, wenn ein Mann mit dem Namen Robert Creely auftaucht, es bricht zusammen, wenn Herr Goethe Bier trinkt. Es bricht zusammen, wenn Chotjewitz von sich glaubt, er sei ein Pop-Autor, weil er popig schreibe.
Und hier erschrecke ich vor dem Opportunismus des Buches. Ich hatte noch selten so sehr den Eindruck, daß ein Autor einem Publikum restlos entgegenkommt.
Chotjewitz weiß, daß seinen Freunden sein Buch gefallen wird, da riskiert er nichts. Das Buch ist zwar nicht auf Erfolg (im Sinne von Bestseller) angelegt, aber auf Applaus. Daß er zudem sämtliche Einwände gegen das Buch, die er sich vorstellen kann, vorwegnimmt, ist eine recht billige Masche, denn Chotjewitz täuscht sich, wenn er glaubt, sein Buch sei keine Literatur; es ist ein hochliterarisches Buch, ein artistisches Buch, das von seinem sehr literarischen Einfall lebt, und vielleicht ist die »Insel« sogar noch mehr: ein Unterhaltungsroman für eine Gruppe von Leuten, für die es bis jetzt noch keine Unterhaltungsromane gegeben hat.
Daß Chotjewitz nicht bereit ist, sich künstlich Widerstände zu schaffen, ist eine Leistung, wenn man bedenkt, wie schwer es ist, ohne Widerstände zu schreiben.
Eine einzige Verpflichtung geht er anfänglich ein. Er erzählt in kurzen Stücken das Leben Rottenkopfs rückwärts, also vom Jetzt bis zur Geburt. Das scheint ein früherer Einfall für das Buch gewesen zu sein, ein Romaneinfall vielleicht. Chotjewitz verliert offensichtlich während des Schreibens das Interesse an diesem Einfall, er führt ihn ohne viel Spaß zu Ende.
Es ist schwer zu sagen, was geschehen wäre, wenn er das Thema konsequent durchgeführt hätte -- vielleicht doch weniger, weil damit die Form geschlossen worden wäre, weil dann nicht mehr alles Platz gehabt hätte ... Was alles? Alle Lügen! Denn »Wahrheiten« haben in dieser Form ebensowenig Platz wie in einer anderen Form Lügen.
Diese offene Form hat Chotjewitz entdeckt, sie ist ihm gelungen. Es fragt sich nur, ob in ihr, wenn alles Platz hat, wirklich mehr Platz ist. Sie bleibt eine Form.