Jetzt erst gefundene Briefe von Elias Canetti und seiner Frau Veza an Canettis Bruder Georges enthüllen, wie die Paranoia des Schriftstellers im Londoner Exil das Leben zur Hölle machte.
An Elias Canetti scheiden sich die Geister. Zeitgenossen erinnern sich bewundernd an seine fast beängstigende Menschenkenntnis, die immer ins Schwarze traf und niemanden schonte. Andere konnten ihn nicht leiden, eben wegen seiner brutalen Offenheit.
Dass der 1905 als Kind jüdischer Eltern in Bulgarien geborene Canetti bis ins hohe Alter unversöhnlich blieb, zeigte sein 2003 posthum erschienenes Buch "Party im Blitz" über seine Exilzeit in England. Der Ton dieses autobiografischen Werks verstörte sogar glühende Anhänger: Der Autor des gigantischen Essays "Masse und Macht", dieser immer noch aufschlussreichen Analyse der Verführbarkeit der Massen durch Ideologien, der geehrte Nobelpreisträger fiel darin am Ende seines Lebens erbarmungslos über seine ehemalige Geliebte, die Schriftstellerin Iris Murdoch, her. Was hatte ihn bloß dazu getrieben? Hatte er in der Kollegin, die ähnlich wie er Stimmen aufsaugte und imitierte, eine Gleichgesinnte erkannt und vollzog an ihr eine symbolische Selbstvernichtung? Oder war er schlicht nie darüber hinweggekommen, dass Iris Murdoch seiner intellektuellen Einflussnahme entflohen war?
Canetti ließ sich gern mit schreibenden Frauen ein, bearbeitete ihre Manuskripte und lobte sich dann, "aus Nichts einen Dichter" gemacht zu haben. Dass er es schlecht aushielt, wenn sie sich von ihm befreiten, bestätigt der vor kurzem aufgefundene Briefwechsel zwischen ihm, seiner Ehefrau Veza und seinem Bruder Georges. Die Korrespondenz ist auch Zeugnis von Canettis Entwurzelung im gebildeten Milieu Londons, das sich für ihn nicht interessierte.
Canetti selbst hätte die Veröffentlichung wohl verhindert. Wenige Monate vor seinem Tod 1994 in Zürich ließ er seine private Korrespondenz, die er der Zürcher Zentralbibliothek übergeben hatte, für 30 Jahre sperren. Seine Werke sollten für sich sprechen.
Die jetzt erscheinenden Briefe waren nach dem Tod des 1971 gestorbenen Georges in einen großen Überseekoffer gestopft und im Keller aufbewahrt worden - sie sind damit von der Sperre nicht betroffen.
Hanser-Lektor Kristian Wachinger wurden die fast 400 Manuskriptseiten nach "langem guten Zureden" von einer bei Paris lebenden Nichte Elias Canettis überlassen. Wachinger sortierte die schimmeligen Papiere und erkannte, dass der Fund nicht nur für Canetti-Leser, sondern auch für die Exilforschung ein Schatz ist*.
Nirgendwo wird die psychische Labilität des 1938 abrupt heimatlos gewordenen Denkers so deutlich wie hier. Nirgendwo auch die Bedeutung seiner Frau Veza für die Überwindung seiner lebensbedrohlichen Zustände geistiger Verwirrtheit.
Die Mehrzahl der "Briefe an Georges", die das Paar erst aus Wien, seit 1939 aus England schrieb, stammt von Veza Canetti, Tochter einer alteingesessenen sephardischen Wiener Familie, acht Jahre älter als ihr Mann, den sie 1924 kennengelernt und zehn Jahre später geheiratet hatte. Von den Antworten des als angehender Arzt in Paris lebenden Georges sind nur wenige erhalten, vermutlich weil Elias Canetti sie vernichtet hat. Wissen wird man das erst 2024, nach Aufhebung der Sperre.
Allerdings lassen Vezas wiederholte Bitten um Antwort vermuten, dass der an Tuberkulose leidende Georges - später selbst ein anerkannter Tuberkulose-Forscher - sich dem psychischen Drama seines Bruders im Exil entzog. Den wiederholten dringenden Bitten von Elias um Geld entzog er sich dagegen nicht; in finanzieller Hinsicht tat Georges, was er nur konnte, Bruder und Schwägerin zu unterstützen. Vielleicht war Georges auch deshalb schreibfaul, weil ihn, den Homosexuellen, die überschwänglichen Liebeserklärungen Vezas überforderten.
Veza suchte in ihrem Schwager einen Verbündeten in ihrem zähen Kampf um Canettis immer wieder von paranoiden Schüben bedrohte Gesundheit. Seine Wahnzustände verschlimmerten sich ständig. Mal glaubte er, seine Frau wolle ihn vergiften, und zwang sie, vor ihm aus seiner Tasse Tee zu trinken. Dann holte er nachts die Polizei, weil er fest davon überzeugt war, Einbrecher im Haus gehört zu haben.
Veza zeigte ihm Wege aus der Panik. Wenn er in einem Anfall seinen Namen vergessen hatte, riet sie: "Zieh eines deiner Bücher aus dem Regal und lies den Namen ab." Sein Gefängnis sei er selbst, schrieb sie an Georges, "besonders seine Angst, die wir beide nie loswerden, seit Hitler". Und später: "Was machst Du mit einem Menschen, der sich fürchtet, wahnsinnig fürchtet, auf ein Konsulat zu gehen, von Polizeiangst nicht zu reden."
Mit Übersetzungsarbeiten hielt Veza ihren Mann und sich gerade so über Wasser. Er musste schreiben, damit endlich etwas Geld in den Haushalt kam. Aber arbeiten konnte er nur, wenn es ihm gutging. Und wie er sich fühlte, das war auch vom jeweiligen
Stand seiner Liebesaffären abhängig. Sie gaben ihm Halt oder rissen ihn zu Boden.
Da war zuerst Anna Mahler, die Tochter Alma Mahler-Werfels, eine junge, von Canetti bis zur Selbstzerfleischung vergötterte Künstlerin, die sich nach einer kurzen Liaison mit dem Schriftsteller behutsam zurückzog. Es folgten die Schriftstellerin Friedl Benedikt, jahrelang Canettis Nebenfrau, und die ebenfalls jahrelang immer wieder auftauchende Malerin Marie-Louise von Motesiczky. Beide versuchte Canetti an sich zu binden, bei beiden fürchtete er panisch, sie könnten von ihm die Heirat verlangen. Veza diente ihm als Bollwerk gegen diese Gefahr. Canetti, der bürgerliche Verhältnisse verachtete, aber an dem Auseinandergerissensein seiner Familie litt, reflektierte seine Polygamie durchaus hellsichtig. Mal sah er sich als Orientalen, der aus der "Summe seiner Frauen" bestehe. Ein andermal war ihm die Idee der neu zusammengebauten Familie lieber.
Veza habe die Eskapaden ihres Mannes geduldig toleriert, hieß es bislang. Das ist untertrieben. Veza förderte die Beziehungen, ließ die
Nebenbuhlerin Friedl Benedikt bei sich wohnen, pflegte sie während einer Grippe gesund. Sie war bereit, für Canettis Arbeitsfähigkeit nahezu alles zu tun, auch wenn sie in den Briefen an Georges mit ihrer Wut auf die ständig anwesenden Nebenfrauen nicht zurückhält. Selbstironisch bringt sie Georges gegenüber ihre Funktion auf den Punkt: Es gehörte zum Alltag der Canettis, dass Veza ihren Mann zum Zug begleitete, von dem er Friedl Benedikt abholen wollte. Sie zog sich diskret ins Bahnhofscafé zurück, um darauf zu achten, dass alles reibungslos vonstatten ging.
Bei aller Contenance wird sie währenddessen von Selbstmordgedanken gequält. Das Paar krallt sich ineinander, jeder gemartert von den Depressionen des andern; Erleichterung bringt ihr die Lust an der Koketterie. Ihrem Schwager, den Veza lange Zeit siezt, schreibt sie: "Der Murkl sagt, jetzt kennt er mich 14 Jahre und ich bin ihm schon schrecklich fad. Er sagt, er wird mich Ihnen anhängen, ohne dass Sie es merken. Er sagt, Sie haben so ein mitleidiges Gefühl für alte Weiber und er wird Sie mit mir anschmiern."
Nach Kriegsende bleiben die Canettis in England. Veza, scharfsinnige Beobachterin der politischen Lage, will nicht nach Wien zurück. Dort würden die Nazis bald "alle jüdische Pässe haben", spottet sie. Als Schriftstellerin kommt ihr nach und nach jedes Selbstbewusstsein abhanden; ihr Alter, die ständige Konkurrenz der jüngeren Frauen und auch ihre körperliche Behinderung - ihr fehlt eine Hand - machen ihr zu schaffen.
Sie hält sich an ihre Verehrung für ihren Mann, von dessen kommender Berühmtheit sie felsenfest überzeugt ist: "Er ist ein unentwickeltes, bezauberndes, geniales Kind - und darum musste ich eine Megäre werden." Canetti bleibt argwöhnisch. Sitzt seine Frau an ihrem eigenen Manuskript, notiert er, sie arbeite jetzt "hart daran, ihm zu allem dazu auch seinen Namen zu stehlen".
Der Rest des Dramas liegt außerhalb des Briefwechsels: Die Veröffentlichung ihres Romans "Die Schildkröten" - darin ein freundliches Porträt der mit 36 Jahren an Krebs gestorbenen Friedl Benedikt - und auch Canettis Ruhm wird Veza Canetti nicht mehr erleben. Sie stirbt 1963 in London, 65 Jahre alt.
Canetti wird 1971 noch einmal heiraten und im folgenden Jahr Vater einer Tochter werden. 1981 erhält der 76-Jährige den Nobelpreis für Literatur. Veza verklärt er nach ihrem Tod zur Ikone. Es hätte sie nicht überrascht. "Du schreibst das Leben", quittierte sie ihm 1948, "aber wenn Du lebst, verschreibst Du Dich." DOJA HACKER