LITERATUR Bastard der Poesie
Am Ende, wenige Tage vor seinem Tod, erklärte er die Wahl seines Berufs zum großen Irrtum seines Lebens: "Ich wäre gern ein Detektiv geworden, der Morde aufklärt, viel lieber als ein Schriftsteller", verkündete der 50-jährige Roberto Bolaño am 9. Juli 2003 in einem Interview. "Da bin ich mir absolut sicher. Ein Polizist, einer, der ganz allein, des Nachts, an den Ort des Verbrechens zurückkehrt und keine Angst vor Gespenstern hat."
Bolaño lag damals im Krankenhaus in Barcelona, nicht weit entfernt von dem spanischen Ort Blanes, in dem er mehr als 15 Jahre lang gelebt hat.
Blanes besitzt einen schönen, durch einen riesigen Felsbrocken geteilten Strand an der Costa Brava, es ist eine keineswegs mondäne, aber heitere Stadt, in der Bolaño seine beiden Kinder aufwachsen sah. Nun wartete er darauf, dass die Ärzte eine gesunde Leber auftreiben würden. Vergebens.
Roberto Bolaño hat in Blanes in dieser Zeit ein letztes Buch geschrieben. Er schrieb es auf der Tastatur eines beinahe schrottreifen Computers, während in seiner Schriftstellerkammer der Fernsehapparat lief oder Rocksongs aus der Stereoanlage dröhnten und er unablässig Zigaretten rauchte und Kamillentee trank. Dieses letzte Buch erzählt von einer Serie bestialischer Morde, von einem Haufen Polizisten, die unfähig oder unwillens sind, sie aufzuklären, und von diversen Gestrandeten, die es an den Ort dieser Verbrechen zieht, voller Furcht und zugleich fasziniert, als würden sie von Gespenstern gejagt und angelockt.
Sechs Jahre nach Bolaños Tod erscheint dieses Buch nun auf Deutsch. Es heißt "2666" und ist in der übersetzten Version fast 1100 Seiten dick*. In Spanien und Lateinamerika, aber vor allem in den USA hat man es als Meisterwerk bejubelt. Bolaño, der Autor, war bis wenige Jahre vor seinem Tod nur von Spezialisten verehrt worden.
Der New Yorker Schriftsteller Jonathan Lethem nannte den Roman eine Zeitbombe, deren wahre Sprengkraft man womöglich erst in ein paar Jahren einzuschätzen lerne. Das Magazin "Time" pries "2666" als "herausragend". Im März dieses Jahres erhielt das Buch auch den wichtigsten amerikanischen Kritikerpreis, den "National Book Critics Circle Award".
Inzwischen hat sich "2666" allein in den USA über 100 000-mal verkauft und gilt als das aufregendste Buch eines lateinamerikanischen Schriftstellers seit Gabriel García Márquez' "Hundert Jahre Einsamkeit".
Der Kolumbianer Márquez verhalf mit seinem Welterfolg einst dem "magischen Realismus" zum Durchbruch. Bolaño, in Chile geboren und mehr als die Hälfte seines Lebens in Spanien ansässig, betreibt dagegen einen manischen Realismus: surreal durchaus, vor allem jedoch bösartig und von komischer Brutalität.
Der Titel kombiniert die Teufelszahl 666 mit dem Jahrtausend, zu dessen Beginn das Buch geschrieben wurde, der Roman selbst aber besteht nicht aus einer, sondern aus Dutzenden und Aberdutzenden von Geschichten. Sie sind geschrieben ohne jedes Gesumse, in einem fast dämonisch leichten Parlando, das den Leser hineinlockt in ein Geisteruniversum, bevölkert von genialen Künstlern, Sexprotzen, Wahnsinnigen und Ganoven und von Typen, die alles in einem sind.
Eine sehr beiläufig erzählte Story in "2666" handelt beispielsweise von einem Maler, der sich die rechte Hand abschneidet und das Amputat in den Mittelpunkt eines Bildes klebt, was ihn einerseits weltberühmt macht und andererseits ins Irrenhaus bringt. Dort brabbelt diese Damien-Hirst-Karikatur zufrieden vor sich hin.
In einer anderen Geschichte gesteht ein deutscher Nazi-Provinzbeamter, dass er gegen Kriegsende in Polen Hunderte Juden erschießen ließ - nach abgeleisteter Beichte wird der Judenmörder von einem der Dichterhelden des Buchs in "Inglourious Basterds"-Manier erwürgt.
Doch solche Szenen sind nur gruseliges Beiwerk. Das wahre Herz der Finsternis im Roman "2666" ist eine Stadt im Norden von Mexiko, direkt an der Grenze zu den USA. In sie verschlägt es praktisch alle der ziemlich kunterbunten Hauptakteure, von denen die fünf Kapitel in Bolaños Buch erzählen: darunter einige Literaturprofessoren aus Spanien und Frankreich, einen New Yorker Boxreporter und einen geheimnisumwitterten deutschen Schriftsteller, der schwerverständliches Zeug schreibt, sich das Pseudonym Archimboldi zugelegt hat und seit ewigen Zeiten für den Literaturnobelpreis gehandelt wird.
Sämtliche Besucher, die in der "grauenvollen Stadt" (wie sie einmal genannt wird) landen, reden über "die Morde": Innerhalb weniger Jahre sind in der Wüstensiedlung Hunderte Mädchen und junge Frauen erstochen, erwürgt und erschlagen worden.
Die Stadt heißt im Buch Santa Teresa, aber es gibt sie und die Morde auch in der Realität, sie ist eine poetische Version der von mehr als 1,5 Millionen Menschen bewohnten mexikanischen Stadt Ciudad Juárez, die am Ufer des Río Bravo liegt.
Tagtäglich strömen neue Fremde aus ganz Mexiko und halb Lateinamerika dorthin, auf der Suche nach Arbeit oder weil sie es über die Grenze in die USA schaffen wollen. Schlepper- und Drogenbanden liefern sich in den Elendsquartieren blutige Gefechte.
Berüchtigt wurde die Stadt in den neunziger Jahren durch eine Unzahl von Frauenmorden, die dort fast wöchentlich unter den Augen einer korrupten Polizei verübt wurden. Seit 1993, dem mutmaßlichen Beginn der Mordserie, hat man hier mindestens 370 tote junge Frauen, deren Überreste man etwa auf illegalen Müllkippen fand, gezählt.
Das Buch "2666" berichtet fast wie ein Protokoll von mehr als hundert dieser Verbrechen und zugleich mit maximaler Einfühlsamkeit vom Leiden der Opfer. Das ist verblüffend, denn in Wahrheit hat der Autor Bolaño diese Stadt nicht mehr mit eigenen Augen gesehen. Er brütete in Blanes am Mittelmeerstrand über mexikanischen Stadtplänen und Gerichtsprotokollen und ließ sich am Telefon von einem mexikanischen Journalisten die Details schildern.
Schriftsteller, die zu viel auf ihre eigenen Beobachtungen geben, strafte Bolaño zeitlebens mit Verachtung. Nur "Schmierenkomödianten und arme Teufel", so schreibt er im Roman, brüsteten sich damit, "einem entscheidenden Moment der Geschichte beigewohnt zu haben". Zu erhaschen gebe es allenfalls Wahrnehmungsschnipsel, "die sich gegenseitig an Monstrosität überbieten".
Das literarische Verfahren, nach dem "2666" komponiert ist, gleicht dem eines Kameramanns, der solche Bruchstücke unermüdlich einfängt. Er heftet sein Objektiv auf die Verletzungen eines Mordopfers, skizziert dessen Lebensgeschichte und stürzt sich dann auf einen Vorbeihetzenden auf der Straße, von dem er oft nach kurzer Zeit wieder ablässt. Manchmal kehrt er rasch zu seiner vorherigen Zielperson zurück, manchmal sucht er sich nach längerer Observation ein neues Opfer. Ein perfekter Beschaffer, der nur vergessen hat, was er eigentlich herausfinden will.
Alle große Kunst bleibt letztlich undurchschaubar. Bolaño ist ein Weltmeister des gnadenlos amüsanten Geschwafels. "2666" ist manchmal, als werde hier ein langer, absurder Witz erzählt, auf dessen Pointe man allerdings vergebens wartet. Paten dieser Erzählkunst sind Dichter wie der Argentinier Jorge Luis Borges oder auch Franz Kafka, Alfred Döblin und Robert Musil.
Die Welt ist bei Bolaño ein Ort des Betrugs und des Selbstbetrugs, der Bosheit und der schönen Narretei, sündhaft und zum Lachen. Stolz zählte er sich selbst zu den poetischen Hungerleidern, leidenschaftlichen Frauenbeglückern, halb oder ganz verrückten Salontigern, die seine Bücher bevölkern; zumindest hat er viel dazu getan, sich selbst zu einem Outlaw zu stilisieren.
Bolaño wurde 1953 in Santiago de Chile geboren, als Sohn einer Lehrerin und eines Vaters, der sich als Boxer und Speditionsfahrer verdingte, als 15-Jähriger wanderte er mit seiner Familie nach Mexico City aus. Dort gebärdete er sich als Trotzkist und Jungdichter, ein spirreliger Bursche mit wirrer Hippiemähne. Er trampte ausgiebig in Mittel- und Südamerika herum und hielt sich ausgerechnet in jenem September 1973 in Chile auf, als dort General Augusto Pinochet und dessen Folterknechte putschten. Bolaño wurde verhaftet, kam mit knapper Not wieder frei.
Zurück in Mexiko, gründete er mit ein paar linksradikalen Dichter- und Studentenfreunden den Bund der "Infrarealisten". Die Mitglieder wurden eingeschworen auf ein Manifest, das Beatnik-Schreibern wie Jack Kerouac und den Dadaisten huldigte. Es verpflichtete die Unterzeichner, zu trinken, zu reisen und es mit Frauen zu treiben, als ob es kein Morgen gäbe; Hunger und Armut klaglos zu ertragen; vor allem aber schlechte Dichter auch schlechte Dichter zu nennen und sie zu verdammen bis zum letzten Seufzer der Poesie.
Der Legende nach ließ sich Bolaño "Poet und Vagabund" auf seine Visitenkarte prägen. Er legte Wert darauf, dass er in seinen jungen Jahren wild und arm und gefährlich gewesen sei, ein glorreicher Bastard der Poesie. Um an Geld zu kommen, arbeitete er in den ersten Jahren in Spanien als Müllfahrer und Nachtwächter auf einem Campingplatz.
In einer (auch auf Deutsch erschienenen) Bolaño-Erzählung aus dem Jahr 2000 macht der Ich-Erzähler einen Heroinentzug in einem Badeort an der spanischen Küste, täglich lässt er sich in einer Ambulanz eine Dosis Methadon geben und legt sich an den Strand, wo er die Badegäste betrachtet, "ein junger Mann von 35 Jahren, der still vor sich hin weinte"*.
Für viele Rezensenten von "2666", in der "New York Times" etwa, ist ausgemacht, dass Bolaño selber lange heroinsüchtig war, seine Leberkrankheit also womöglich eine Spätfolge der Sucht war. "Sie wollen partout einen Junkie aus ihm
In Herraldes Verlag Anagrama sind fast alle Bücher Bolaños erschienen. Sie haben sich 1995 kennengelernt, Bolaño habe ihm sofort von seiner Geldnot erzählt und davon, dass er die meiste Zeit seines Lebens nur Gedichte geschrieben habe. Bloß um seine Kinder zu ernähren, begann er plötzlich Romane und Erzählungen zu produzieren: "Er schrieb wie ein Verrückter, den ganzen Tag und die halbe Nacht."
Herralde hat ein kluges, warmherziges Erinnerungsbuch über Bolaño geschrieben, "um die Wahrheit von den Legenden zu trennen", wie er sagt. Aber er weiß selbst, dass Bolaño die Märchen, die sein später Ruhm nun sprießen lässt, viel besser gefallen hätten als die Wahrheit.
Bolaño schrieb in seinen Büchern über Dichter, die es entweder gar nicht gab oder die plötzlich verschwinden, wobei sie nichts als falsche Fährten, halbwahre Mythen und Spekulationen hinterlassen. Es gibt Figuren in "2666", die nach dem "Geheimnis der Welt" suchen, doch das ist nirgendwo zu finden oder, wenn überhaupt, nur in den Irrenhäusern, in denen viele seiner Protagonisten landen.
Am äußersten Ende einer Holzbank auf der Strandpromenade von Blanes kauert eine Bronzestatue, die einen verträumten, nicht mehr jungen Mann darstellt. Auf seinem Schoß liegt ein aufgeschlagenes Buch, seinen Blick lässt er trotzdem in die Ferne schweifen, Richtung Meer.
Die Statue stellt einen Mann dar, den es aus dem Norden an die Costa Brava verschlagen hatte, einen vergessenen Künstler namens Karl Faust, der in Blanes im vergangenen Jahrhundert einen botanischen Garten angelegt hat. Das Denkmal passt gut in diese Stadt und zu diesem Poeten aus Chile, der als Nationalität "Lateinamerikaner" angab und sich nirgendwo zu Hause fühlte, aber im proletarischen "Paradies" von Blanes, wie er es einmal nannte, für ein paar Jahre Ruhe fand. Es roch dort am Strand, so schrieb er, "nach Bodylotion und Sonnenschutzcremes", es roch "nach Demokratie, nach Geschichte, nach Zivilisation".
Trotzdem wollte Roberto Bolaño in Blanes nicht begraben sein.
"Sie haben seine Asche auf dem Meer verstreut, von einem Schiff aus", sagt Jorge Herralde.