AUTOREN „Feige war er nie“
Seine Liebesaffären, sein Hang zu jungen Frauen, seine Eifersuchtsanfälle waren legendär. "Der Frisch hatte immer viele Frauengeschichten, und jedes Mal hat er geschworen, das sei seine letzte", lästerte Friedrich Dürrenmatt, der andere große Schweizer Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.
Für Max Frisch waren diese Geschichten wichtiges literarisches Kapital. Er hat geliebt und gelitten, er hat andere leiden lassen und sich neu verliebt - und nahezu alles hat in Erzählungen, Romanen, Tagebüchern und einigen Dramen seinen Niederschlag und Widerhall gefunden. Frisch gehörte zu jener Sorte Autoren, die sich weitgehend von eigenen Erfahrungen und Erlebnissen inspirieren lassen.
Vieles war ohnehin nie ein Geheimnis, zumal Max Frisch selbst in der autobiografischen Erzählung "Montauk" (1975) über seine Ehen und längeren Liebesgeschichten offen gesprochen hat. Es gab zwei Ehefrauen: Constanze von Meyenburg, mit der er drei Kinder hatte, und Marianne Oellers. Es gab die schwierige Beziehung zur Dichterin Ingeborg Bachmann und die Begegnung mit der Amerikanerin Alice Locke-Carey, die in "Montauk" Lynn heißt.
Von einer der wichtigsten Beziehungen dagegen ist selbst in "Montauk" nur versteckt die Rede. Auch in den Frisch-Biografien ist über Madeleine Seigner-Besson wenig zu erfahren, die in den fünfziger Jahren mit dem Schriftsteller liiert war. Und welche indirekten Folgen diese frühe Beziehung in späteren Jahren noch haben sollte, hätte wohl selbst Frisch, als er "Montauk" schrieb, nicht ahnen können.
Es ist die sonderbarste Liebesgeschichte im Leben von Max Frisch, eine verschlungene Doppelgeschichte: Es ist die von Madeleine Seigner-Besson, die von 1952 bis 1958 seine Geliebte war, und ihrer Tochter Karin Pilliod, die von 1983 bis zu seinem Tod 1991 die Lebensgefährtin von Frisch war.
Karin Pilliod, 75, ist eine dynamische Dame mit rötlich-blondem Haar, bis vor zwei Jahren hat sie noch als Heilpädagogin gearbeitet. In Thalwil nahe Zürich sitzt sie an ihrem großen Esstisch und erzählt von dieser Beziehung und deren romanhafter Vorgeschichte. "Es sind", sagt sie, "viele Halbwahrheiten über uns im Umlauf."
Alles begann 1952, als sie noch zur Schule ging. Max Frisch war nach einem gut einjährigen Aufenthalt aus Amerika zurückgekehrt. Auf einer Privatfeier in Thalwil lernte er ihre Mutter näher kennen. Er war damals ein Familienvater mit drei Kindern, seine Ehe schon des längeren in der Krise. Auch Madeleine Seigner-Besson, die ihm gefiel, hatte drei Kinder und war verheiratet.
Doch sie und ihr Mann Fred Seigner, ein Künstler, hatten eine für damalige Verhältnisse ungewöhnlich libertäre Vorstellung von der Ehe. Er hatte eine Freundin. Und Madeleine Seigner-Besson verliebte sich bald in den Schriftsteller, der bis dahin vor allem als Theaterautor bekannt war. "Ich bin im Chaos aufgewachsen", sagt Pilliod.
Für Frisch wurde es eine ungewöhnliche Beziehung. Er hatte zwar zuvor schon außereheliche Liebschaften gehabt. Aber so unkompliziert und unbeschwert war das Zusammensein mit einer Frau nie zuvor für ihn gewesen. In "Montauk" wird Frisch später, ohne einen Namen zu nennen, von "sechs Jahren ohne Zerwürfnis, ohne Eifersucht, ohne Zermürbung" sprechen.
"Das bezieht sich auf meine Mutter", sagt Karin Pilliod. Vom Garten des kleinen Hauses aus hat sie einen weiten Blick über den Zürichsee. "Stundenlang haben Max und sie da draußen gesessen und über seine Manuskripte gesprochen", erinnert sie sich. Es ist ihr wichtig, die Rolle deutlich zu machen, die ihre Mutter für Frisch spielte. Immerhin entstanden in der Zeit der Verbindung die Romane "Stiller" (1954) und "Homo faber" (1957).
Ihre Schwester und sie forderten Frisch gelegentlich auf, sich endlich zwischen seiner Ehefrau und ihrer Mutter zu entscheiden. An ihm liege es nicht, soll er darauf geantwortet haben. "Meine Mutter war eine Feministin", fügt Pilliod hinzu.
Aber wahrscheinlich gefiel es ihm auch ganz gut, wie es war. Sich nicht festzulegen, sich nicht einmauern zu lassen war sein Ideal, als Mensch und als Schriftsteller.
Untreue, hatte Frisch wenige Jahre zuvor in seinem "Tagebuch 1946-1949" (1950) notiert, sei "unser Versuch, einmal aus dem eigenen Gesicht herauszutreten, unsere verzweifelte Hoffnung gegen das Endgültige".
Das Paar reiste zusammen nach Spanien, nach Griechenland. Und als Tochter Karin ihre Matura bestanden hatte, fuhren sie 1954 alle gemeinsam nach Korsika: das Ehepaar Seigner, Max Frisch und die Abiturientin. Auf dieser Reise entstand vermutlich das bisher unbekannte Foto, das Frisch mit kurzen Hosen neben seiner Geliebten zeigt, aufgenommen, wenn Karin Pilliod sich richtig erinnert, von Fred Seigner, ihrem Stiefvater.
Inzwischen hatte sich das Mädchen zu einer jungen Dame gemausert, mit rotblondem Haar, das sie gern zu einem Pferdeschwanz zusammenband. Irgendwann in dieser Zeit muss es gewesen sein, dass Frisch sie als Frau wahrnahm. Konnte man sich in ein Mädchen verlieben, das vom Alter her die eigene Tochter sein könnte? Es sei im Fall von Karin nicht so gewesen, schrieb er später in einem Brief, "nur denkbar".
Es war jedenfalls alles andere als Zufall, dass Frisch in seinem Roman "Homo faber", der in diesen Jahren entstand, eine Konstellation durchspielte, in der dem Helden das Verhältnis zu einer mädchenhaften jungen Frau zum Verhängnis wird.
Der Ingenieur Faber, der glaubt, alles berechnen zu können, der von Gefühlen oder dem Schicksal nichts wissen will, ist fasziniert: "Ihr rötlicher Roßschwanz, der über den Rücken baumelt, unter ihrem schwarzen Pullover die zwei Schulterblätter, die Kerbe in ihrem straffen und schlanken Rücken, dann ihre Hüften, die jugendlichen Schenkel in der schwarzen Hose, die bei den Waden gekrempelt sind, ihre Knöchel …"
Die junge Frau heißt Elisabeth. Er, Walter Faber, nennt sie Sabeth. Sie ist 20, er 50 Jahre alt. Sie begegnen sich an Bord eines Ozeandampfers auf dem Weg nach Europa. Schließlich wird er ihr Liebhaber.
Die schicksalhafte Konstellation wird von Frisch in seinem populärsten Roman - Auflage heute: 4,8 Millionen Exemplare - ins Extrem gesteigert, zu einem am Ende tödlichen Inzestdrama. Der Ingenieur Walter Faber beginnt nicht nur eine Affäre mit der Tochter seiner ehemaligen Geliebten, sondern er muss dazu noch erkennen, dass es sich bei Sabeth mit dem "Roßschwanz" um seine eigene Tochter handelt. Er ist in dem Glauben gewesen, seine schwangere Freundin Hanna habe zwei Jahrzehnte zuvor das gemeinsame Kind abtreiben lassen.
So kann er sich zwar sagen, er habe nicht ahnen können, "daß sie meine eigene Tochter ist, ich wußte ja nicht einmal, daß ich Vater bin". Und doch lautet die Lehre, die für ihn zu spät kommt: "Ich habe mich so verhalten, als gäbe es kein Alter, daher widernatürlich. Wir können nicht das Alter aufheben, indem wir weiter addieren, indem wir unsere eigenen Kinder heiraten."
Volker Schlöndorffs Romanverfilmung "Homo Faber" kam 1991 in die Kinos. Als der Regisseur vor Beginn der Dreharbeiten Frisch und Pilliod in Zürich besuchte, sagte der schon schwerkranke Schriftsteller geheimnisvoll zu ihm: Seine Lebensgefährtin sei "der Urtyp des jungen Mädchens mit Pferdeschwanz gewesen", das reale Vorbild für die rothaarige Sabeth, jene Romanfigur, die im Film von Julie Delpy verkörpert wird.
Karin Pilliod, das Mädchen mit dem Pferdeschwanz: War sie sich dessen bewusst? "Ich war mir nicht sicher", sagt sie. Sie habe ihn aber auch nie danach gefragt. "Es hat mich nicht so interessiert. Ich habe viele Fragen verpasst, das weiß ich heute."
Pilliod und Frisch jedenfalls hatten sich, auch nach dem Ende der Beziehung zwischen ihm und ihrer Mutter, nie ganz aus den Augen verloren. "Er war ein väterlicher Freund für mich", sagt sie. "Er hat mich beraten, auch wenn ich Liebeskummer hatte." Zu ihrem Geburtstag rief er manchmal an. Sie besuchte ihn mit ihrer Familie.
Frisch machte später zwar am Telefon gelegentlich Anspielungen ("wenn er etwas getrunken hatte"): Ob sie nicht ein Paar werden könnten? Aber sie nahm das nicht ernst. Bis zum Frühjahr 1983. Er lud sie nach Berzona im Tessin ein, wo er ein Haus hatte. Beide waren sie allein, ohne Partner. "Da war das dann klar", sagt Karin Pilliod umstandslos.
Sie erzählt davon, wie schwer es Frisch fiel, ihre Mutter davon zu unterrichten. Madeleine Seigner-Besson lebte damals noch. "Sie hat mit der Tatsache erhebliche Schwierigkeiten gehabt", sagt sie. "Aber er hat das sehr fair gemacht. Feige war er nie."
Max Frisch würde im Mai 100 Jahre alt. Nicht nur in der Schweiz rüstet man sich derzeit zur Feier des Schriftstellers, der in Zürich geboren und gestorben ist, aber Wohnsitze auch in New York, Berlin, Rom und im Tessin hatte. Ausstellungen, Gesprächsrunden sind geplant, Biografien und eine DVD-Sammlung mit Interviews und Filmen (darunter "Homo Faber") werden aufgelegt.
Karin Pilliod begleitete Frisch in den achtziger Jahren auf vielen Reisen, wo sie auch selbst fotografierte, nach Italien, Spanien, Ägypten und zu seinem letzten Aufenthalt in New York 1989. Fotos von diesen Reisen werden jetzt erstmals in einem Bildband zu sehen sein, der demnächst erscheint(*).
Pilliods Mutter starb im August 1991. Monate vorher, im April, hatte sie sich von dem sterbenden Frisch verabschiedet und ihn in seinen letzten Tagen noch besucht. Fred Seigner, von dem sie längst geschieden war, begleitete sie.
Gestorben ist Frisch am 4. April 1991 in seiner Heimatstadt Zürich. Dort in einem Banksafe liegen auch noch Kartons mit seiner Korrespondenz. Er hatte verfügt, dass sie erst 20 Jahre nach seinem Tod geöffnet werden dürfen. Seine Briefwechsel mit den beiden Ehefrauen werden dort genauso zu finden sein wie ein druckreifes "Berliner Journal" aus den siebziger Jahren, das Begegnungen mit Kollegen wie Günter Grass, Uwe Johnson oder Christa Wolf beschreibt sowie die letzten schwierigen Ehejahre mit Marianne Frisch. Und ebenfalls aufbewahrt sind dort die Liebesbriefe Madeleine Seigner-Bessons an Max Frisch. Vor Mai wird der Stiftungsrat des Archivs, der über die Veröffentlichung wacht, jedenfalls nicht wieder zusammenkommen. Erst dann soll entschieden werden, wie mit den Briefen und Aufzeichnungen verfahren werden soll.
Karin Pilliod würde vor einer möglichen Publikation der Briefe ihrer Mutter gern prüfen lassen, ob etwaige Bösartigkeiten gegen ihren Stiefvater Fred Seigner enthalten sind - "Bosheiten wären kein Problem". Ihr Bruder beabsichtige, das Konvolut durchzusehen.
Die Briefe von Frisch an ihre Mutter befinden sich nicht im Safe, existieren aber ebenfalls noch. Sie hat einmal einen Blick hinein gewagt. Und war enttäuscht. "Vielleicht war ich zu streng", sagt sie. "Ich kann das eigentlich auch nicht beurteilen." Immerhin sind es Liebesbriefe von Max Frisch. An ihre Mutter. Eine vertrackte Geschichte.