Der Stromausfall
Seit 14.46 Uhr japanischer Zeit am 11. März 2011 verfließt die Wirklichkeit der Welt mit den kühnsten Horrorszenarien, die je ein Mensch erdacht hat. Nicht nur, dass sich ein furchtbares Erdbeben gefährlich nahe Tokio ereignet, einer der größten Metropolen der Welt; nicht nur, dass sich gleich darauf ein Tsunami in die Küsten der japanischen Inseln frisst wie ein Hobel und alles, Autos, Häuser, Schiffe, ganze Städte, in Trümmer legt, als wäre ein wütender Gott am Werk; nicht nur, dass ein bitterer Winter die neuen Obdachlosen, bis zu eine halbe Million Menschen, weiterhin quält, dass dicker Schnee fällt über den Ruinen, unter denen die Leichen zu Tausenden vergraben liegen - es muss sich auch noch eine atomare Katastrophe entfalten, Stück für Stück, Reaktorblöcke müssen reihenweise explodieren, Kernbrennstäbe unter freiem Himmel glühen, um die Katastrophe auch wirklich perfekt zu machen.
Wer zu Endzeitstimmung neigt, bekommt seit zehn Tagen aus Japan den passenden Bilderbogen geliefert. Was mit einem verheerenden Erdbeben der Stärke 9,0 begann, einem der größten der uns bekannten Geschichte, was sich fortgesetzt hat mit einem Tsunami ähnlich jenem im Indischen Ozean am zweiten Weihnachtstag 2004, was endlich mündete in die katastrophale Ereigniskette von Fukushima, ist als Sinnbild auf den gebrechlichen Zustand unserer Welt leicht zu erkennen. Es geht, wieder einmal, um die nackte Existenz von Millionen, und wieder einmal rührt die schlimmste Bedrohung aus dem Irrglauben, die Erde sei dem Menschen untertan und jedes Risiko durch Wissenschaft und Technik zu beherrschen.
Wer begreifen will, was am 12. März mit der Explosion im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi wirklich passiert ist, der muss sich eine große Wette vorstellen, auf die sich die Menschheit mit dem Bau des ersten Atomkraftwerks 1954 eingelassen hat: der Strom, der so produziert werden kann, gegen das Risiko, die Welt zu verseuchen. Der Einsatz wurde erhöht, immer weiter auf zuletzt 443 Reaktorblöcke, in Japan pokerte die Regierung besonders gewagt. 55 Kernkraftreaktoren auf engstem Raum, in einem Land mit Tausenden Erdbeben im Jahr und der größten Tsunami-Wahrscheinlichkeit - dieses riskante Spiel mit Uran, Plutonium und Kernspaltung ging an diesem 12. März verloren.
In Japan, dem technologisch am höchsten entwickelten Land des Planeten, ist zu besichtigen, wie größenwahnsinnig diese Wette war. Es fehlte jetzt eigentlich nur noch, dass Helfer mit Blecheimern an der Unfallstelle auftauchten im sinnlosen Versuch, die höllenheiß glühenden Atombrennstäbe zu kühlen. Schon jetzt, schon seit Tagen erinnern die todesmutigen Arbeiter von Fukushima an die Besatzungen der Ruderboote im berühmten Wellenbild von Hokusai, verurteilt zum Scheitern, dem Tode nahe.
Die Bundesregierung will die Vorgänge im AKW Fukushima zum Anlass nehmen, die Sicherheitsstandards deutscher Kernkraftwerke zu überprüfen. Die minutiöse Schilderung der Pannenkette zeigt, dass ein Stromausfall und der Ausfall der Kühlung die Schwachstelle aller weltweit betriebenen Atomkraftwerke sind.
Ein Team von 19 SPIEGEL-Redakteuren hat die Katastrophenwoche rekonstruiert, das Geschehen im und um das AKW Fukushima zu ergründen versucht, hat mit Dutzenden Experten, Verantwortlichen und Betroffenen gesprochen, hat Unterlagen der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS), der japanischen Nuclear and Industrial Safety Agency (Nisa) und auch der Betreiberfirma Tokyo Electric Power Company (Tepco) ausgewertet. Das Werk in Fukushima war - selbstverständlich - nicht zugänglich, Angaben und Erklärungen der Tepco konnten deshalb nicht in jedem Fall überprüft werden.
Zehn deutsche Techniker im Reaktor-block 4 im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi bauen ihre Ultraschallmessgeräte auf, sie arbeiten konzentriert, es sind wichtige Tage für die Deutschen. Morgen wollen sie ihr Prüfverfahren den Japanern präsentieren. Sie ahnen nicht, dass es kein Morgen geben wird in diesem Atomkraftwerk.
Gordon Huenies gehört zum Team der deutschen Techniker. Huenies hat Nachrichtentechnik studiert und ist Werkstoffprüfer von Beruf. Er ist 33 Jahre alt und lebt in Nürnberg, ein ruhiger Mann mit rotblonden Haaren und randloser Brille, der aussieht wie ein irischer Mathematiklehrer.
Vor neun Tagen ist Huenies in Fukushima angekommen, er hat sich viele Rohrleitungen angeschaut in diesem Kraftwerk und will nun das Prüfverfahren vorstellen, das er mitentwickelt hat. Das Prüfverfahren untersucht die Sicherheit von schwer zugänglichen Schweißnähten via Ultraschall. Zum Beispiel Schweißnähte an Rohren, in denen Kühlwasser fließt.
Die Japaner sind höflich und interessiert. Die Deutschen sind höflich und angespannt. Sie wissen, dass drei weitere Schweißnahtexperten-Teams von der Konkurrenz ihre Prüfverfahren bereits vorgestellt haben.
Es geht hier um Schweißnähte in einem Atomkraftwerk. Es sind sehr wichtige Schweißnähte. Und es geht um einen großen Auftrag, um viel Geld.
Gordon Huenies und die anderen Deutschen tragen die roten Jacken ihres Arbeitgebers, auf denen mit großen Buchstaben "Areva" steht. Areva ist ein deutsch-französischer Kraftwerkshersteller. Areva ist Weltmarktführer auf dem Gebiet der Nukleartechnik. Die roten Jacken werden den Männern in den kommenden Stunden helfen, sich nicht zu verlieren zwischen den anderen Menschen auf der Flucht.
Da, wo sich am 11. März das gewaltigste Beben in der Geschichte des Erdbebenlandes Japan entlädt, bei 38 Grad 19 Minuten nördlicher Breite und 142 Grad 22 Minuten östlicher Länge, bewegt sich die Pazifische Platte normalerweise westwärts, durchschnittlich 83 Millimeter im Jahr schiebt sie sich voran. Dabei drückt sie gegen die japanische Ostküste. Da die Pazifikplatte aus vergleichsweise altem, dichtem und kühlem Gestein besteht, knickt sie ab und schiebt sich unter die japanische Platte. Die Linie dieses Knicks bildet eine Tiefseerinne, den sogenannten Japangraben, er verschiebt sich langsam nach Osten.
Irgendwann hält das Gestein die riesige Belastung nicht mehr aus und reißt, meistens über mehrere Kilometer, mitunter mehrere hundert Kilometer, am 11. März ist es so weit. Die Spannung entlädt sich in einer gewaltigen, ruckartigen Bewegung. Auf einer Länge von rund 400 Kilometern bäumt sich der Grund auf, schnellt die japanische Platte in die Höhe, die Verhakungen, die sich über Jahrzehnte aufgebaut haben, entladen sich in Bruchteilen von Sekunden.
Die Bruchfläche erstreckt sich dabei etwa 60 Kilometer tief in den Erdmantel. Das Beben verschiebt die Erdachse um bis zu 15 Zentimeter und ändert die Massenverteilung der Erde, was zur Folge hat, dass sich die Erde seit dem 11. März etwas schneller dreht; ein Tag ist nun 1,8 Mikrosekunden kürzer als zuvor.
Der Reaktor 4 im Atomkraftwerk Fukushima wackelt, als würde King Kong daran rütteln. Gordon Huenies, der deutsche Techniker, der in Fukushima ist, um über Schweißnähte zu sprechen, wusste, dass in Japan öfter die Erde bebt, aber er hat noch nie ein Erdbeben erlebt. Die Japaner reagieren gelassen, sie bleiben stehen und warten. Die Deutschen bekommen Angst. Die Angst lässt Gordon Huenies die Schweißnähte vergessen, er und seine Kollegen klammern sich aneinander und hoffen, dass sie die nächsten Minuten überleben.
Zehn deutsche Männer in roten Jacken stehen in Block 4 von Fukushima Daiichi, eingehakt und Hand in Hand. Sie schauen an die Decke. Sie warten darauf, dass das Dach bricht.
Die Decke hält, es rieselt nur ein wenig Staub herunter.
Ein Elektriker repariert im Reaktorblock 1 gerade Leitungen. Die Erdstöße schleudern ihn hin und her, er kann kaum auf den Beinen bleiben. Neben ihm stürzt ein Kran ein, Lampen und Werkzeug fliegen durch die Gegend. Die Schweißnähte von Rohren brechen auf.
Während Nachbeben durch das Gebäude zittern, flieht der Mann mit Kollegen durch den Ausgang im ersten Stock. Menschen schreien. Ein anderer Arbeiter, der sich im selben Gebäudeteil aufhielt, erinnert sich später: "Ich war so beschäftigt, mein eigenes Leben zu retten; ich hatte keine Zeit, daran zu denken, was mit der Anlage passiert."
Im Schaltzentrum der Reaktoren jedoch funktioniert noch alles nach Plan: Messfühler haben das Beben gemeldet. Automatisch wird die Schnellabschaltung der Reaktoren eingeleitet. Steuerstäbe fahren von unten zwischen die Brennelemente-Bündel im Reaktorkern. Sie stoppen die Kettenreaktion des angereicherten Urans.
Nach wenigen Minuten sind die Kraftwerksblöcke 1, 2 und 3 abgeschaltet. Die Reaktoren 4, 5 und 6 des AKW sind ohnehin nicht in Betrieb, weil sie gewartet werden. Im Block 4 arbeiten zu diesem Zeitpunkt fast tausend Mann. Als das Licht ausgeht, bricht Panik aus.
Das Beben zerstört die Anschlüsse der Reaktoren ans Hochspannungsnetz. Der Strom fällt aus. Doch genau für diesen Fall sind die Reaktoren mit Notstromaggregaten ausgerüstet. Planmäßig springen schwere Dieselmaschinen an, die garantieren, dass die Kühlwasserpumpen weiterarbeiten.
Denn obwohl die Reaktoren abgeschaltet sind, arbeiten die Brennstäbe weiter. Immer noch liefern die Anlagen sieben Prozent der Leistung des Vollbetriebs, weil weiterhin Spaltprodukte der Uranverbrennung zerfallen. Ohne Kühlung würde das Innere der Reaktoren immer heißer, bis die Brennstäbe anfangen zu schmelzen. Dann droht der GAU. Das gab es in Tschernobyl und Harrisburg.
Doch noch laufen die Kühlpumpen in Fukushima.
Erdbebenwarte Nagano, 175 Kilometer nordwestlich von Tokio, 14.46 Uhr
Das Matsushiro Seismological Observatory liegt tief in einem Berg, 175 Kilometer nordwestlich von Tokio.
An diesem Freitagnachmittag alarmiert das Piepen des Computers den Diensthabenden, es ist Naoya Mikami, einer der Leiter des Observatoriums. Das Beben war im Gebäude nur schwach zu spüren, was mit der Lage im Berg zusammenhängt. Rechner haben die Messdaten aufgefangen, die vom Epizentrum ausgehen. Der Schlag erfolgt um 14.46 Uhr und 23 Sekunden Ortszeit, etwa 155 Kilometer von Sendai entfernt, in einer Tiefe von rund 32 Kilometern.
Der Schlag, der in dieser Minute den Meeresboden erschüttert, hat sich angekündigt. Nur zwei Tage vor dem Beben vom 11. März hatte es fast an derselben Stelle ein Vorbeben gegeben, am Morgen des 9. März, mit der Magnitude von 7,3, nur etwa 40 Kilometer südlich vom späteren Epizentrum. Es verursachte eine Flutwelle, die keinen Schaden anrichtete.
Tsuneki Sato ist viel unterwegs, alle zwei oder drei Wochen reist er woandershin. Zuletzt ist er in Amerika gewesen, davor in Russland und in Neuseeland. In Australien hat er mal für ein paar Jahre gelebt. Gerade ist er zu Hause, in Tokio. Er liegt in seinem Bett und spürt das Erdbeben.
Sato ist 35 Jahre alt, er ist ein kräftiger, großer Japaner mit Doppelkinn und Bartwuchs, einer, der schnell spricht und eine tiefe klare Stimme hat. Eigentlich wollte er arbeiten an diesem Tag, er ist Radiomoderator. Aber er hört von einer Tsunami-Warnung, bereits drei Minuten nach dem Beben im Pazifik gibt die Japan Meteorological Agency für die nördlichen Präfekturen des Landes eine höchste Tsunami-Warnung heraus. In Japan werden die Menschen über Radio und Fernsehen vor der drohenden Gefahr gewarnt, Kurznachrichten werden auf Handys geschickt. Für die Küste der Präfektur Miyagi drohe ein bis zu sechs Meter hoher Tsunami, heißt es, für die beiden Nachbarpräfekturen Iwate und Fukushima würden Wellen von drei Meter Höhe erwartet.
Der Radiomoderator denkt an seine Familie, an die Stadt, aus der er stammt, Sendai.
Die Stadt Sendai verläuft in einem schmalen Streifen zwischen dem Pazifik und den Bergen. Satos Eltern leben noch dort, Sato will sie anrufen, aber das gelingt ihm nicht.
Er erreicht auch seine Großmutter nicht. Sie ist 86 und lebt weiter im Inland. Sato sieht im Fernsehen, dass in dieser Region das Erdbeben stark war, aber die Wasserwelle sie nicht erreicht hat. Sato hört deshalb nichts mehr über diesen Ort. Er hört viel in den Nachrichten über andere Orte, über Sendai. Er sieht das Wasser. Der Flughafen ist überspült. Die halbe Stadt steht unter Wasser. Sato wählt die Nummer seiner Eltern zum hundertsten Mal.
In Tokio ist es ruhig. Kinder spielen auf Spielplätzen. Auch Sato geht hinaus an die Luft.
Als nach ein paar Minuten die Erdstöße abebben und der Boden wieder ruhig scheint, bitten die Japaner die Deutschen nach draußen. Die Japaner sind entspannt, besonnen, eigentlich zeigen sie gar keine Gefühle.
Gordon Huenies hat noch immer Herzklopfen. Es ist nicht die Angst vor radioaktiven Strahlen, sondern die Angst vor weiteren Beben. Huenies vertraut auf die Technik dieses Kraftwerks, er glaubt, erdbebensicher heißt erdbebensicher.
Es ist ein Glaube, der die Menschen vereint, die mit radioaktiven Materialien arbeiten. Sie glauben, es sei sicher. Sie glauben, sie könnten die Atome kontrollieren. Zumindest haben sie das geglaubt bis zu diesem Tag.
Die Rechner haben die Messdaten mit den Daten früherer Beben verglichen und den Erdstoß auf einer nach oben offenen Skala eingeordnet. Das Beben vor der Küste Japans hat danach die Stärke 8,9, das ist ein sehr schweres Erdbeben, nur vier Beben in den vergangenen 100 Jahren waren stärker; später wird die Magnitude noch einmal um einen Zehntelpunkt nach oben korrigiert, auf 9,0.
Dieses Beben, das weiß der Diensthabende Naoya Mikami in Nagano sofort, ist das fünftstärkste Beben seit dem Jahr 1900 weltweit, und es ist das stärkste Beben, das je mit Messinstrumenten in Japan aufgezeichnet wurde. Die Energie, die freigesetzt wurde, entspricht etwa der Energie der stärksten je gezündeten Wasserstoffbombe - oder knapp der Menge an Primärenergie, die jede Woche in Deutschland verbraucht wird.
Die Welle, die sich nach dem Beben mit einer Geschwindigkeit von 200 bis 300 Metern pro Sekunde über den Pazifik ausbreitet, das sind rund 800 Stundenkilometer, ist deutlich höher als angenommen. An den Küsten vor Sendai und Sanriku erreicht der Tsunami bis zu zehn Meter; teilweise ergießen sich die Wassermassen bis zu zehn Kilometer weit ins Landesinnere.
Damit aus einem Erdbeben ein Tsunami wird und aus einem Tsunami eine Katastrophe, müssen mehrere Faktoren zusammenkommen. Es reicht beispielsweise nicht, dass zwei Platten sich verhaken und diese Spannung sich irgendwann durch ein Erdbeben wieder löst. Für ein Beben mit Tsunami-Potential muss sich das Epizentrum in einer sogenannten Subduktionszone befinden, also dort, wo eine Platte sich unter eine andere schiebt.
Die Japaner sind an Tsunamis gewöhnt, das Wort "Tsunami" kommt aus dem Japanischen und bedeutet "Welle im Hafen". Anders als an der Westküste Südamerikas liegt die Reibungsfläche der Kontinentalplatten in Japan weit draußen im Meer; je tiefer das Wasser an der Bruchstelle ist, desto größer wird im Allgemeinen der Tsunami.
Andererseits taucht vor der japanischen Küste die sich unterschiebende Platte vergleichsweise flach in den Erdmantel ein. Das vergrößert die Reibungsfläche und macht stärkere Beben wahrscheinlich. In diesem Fall war die Reibungsfläche etwa 24 000 Quadratkilometer groß, das entspricht in etwa der Fläche von Mecklenburg-Vorpommern.
Die japanischen Atomphysiker aus Fukushima führen Gordon Huenies und die anderen deutschen Techniker in das Hauptgebäude des Kraftwerks, es liegt 30 Meter erhöht. Aus Lautsprechern dröhnt eine Sirene, ein Japaner erklärt, das sei eine Tsunami-Warnung. Die Japaner sind freundlich, auch als sie Gordon Huenies mehrmals mit einem Geigerzähler auf radioaktive Strahlung untersuchen. Der Geigerzähler schlägt nicht aus.
Gordon Huenies steht vor dem erhöhten Hauptgebäude des Kraftwerks und schaut aufs Meer, er sieht, wie sich das Wasser aus dem Hafenbecken zurückzieht und wie kurze Zeit später der Tsunami anrollt. Die Welle nähert sich dem Kernkraftwerk Fukushima Daiichi, 150 Kilometer vom Epizentrum entfernt, aus nordöstlicher Richtung. Sie wälzt sich leicht schräg auf das Ufer zu, ihre Wucht mindert das kaum.
Das Kraftwerk Fukushima ist das älteste Kernkraftwerk der Tokyo Electric Power Company. Im November 1970 ging der erste Block ans Netz, die Konstruktion der Sicherheitsbehälter entspricht der Baureihe Mark I des amerikanischen Herstellers General Electric. Es gibt Wissenschaftler, die schon in den siebziger Jahren kritisierten, dass die Baureihe Mark I, auch "Fukushima-Design" genannt, nicht dafür ausgelegt sei, eine Kombination aus Erdbeben und Tsunami heil zu überstehen.
Wenige Tage nach dem Erdbeben bestätigten zwei Konstrukteure des Kraftwerks auf einer Pressekonferenz gravierende Baufehler. Obwohl bekannt war, dass Fukushima mitten in einem Erdbebengebiet liegt, direkt am Meer, seien weder Reaktoren noch Sicherheitssysteme auf einen Tsunami ausgelegt worden, sagen sie, viele Rückfallsysteme seien für den Notfall nicht ausgelegt gewesen.
Und: Man habe nicht berücksichtigt, dass die Welle eines Tsunamis nicht nur die reguläre Stromversorgung beschädigen, sondern auch die unterhalb des Reaktors praktisch direkt am Meer gelegenen Notstromaggregate außer Betrieb setzen könnte.
Außerdem seien die Seismologen bei ihren Prognosen, in welcher Stärke ein Erdbeben zu erwarten sei, zu optimistisch gewesen. Entsprechend den Voraussagen seien die Reaktoren nur für eine Stärke von 8,2 ausgelegt gewesen.
Das Kernkraftwerk war durch eine Schutzmauer gegen Flutwellen geschützt, bis zu einer Höhe von 6,51 Metern. Der Tsunami, der um 14.52 Uhr das Ufer erreicht, ist etwa 7 Meter hoch.
Zum Zeitpunkt des Erdbebens waren die Blöcke 1, 2 und 3 des Kraftwerks in Betrieb, die Blöcke 4, 5 und 6 waren wegen Wartungsarbeiten heruntergefahren worden. Die mit Diesel angetriebenen Notstromaggregate arbeiteten etwa eine Stunde lang, bevor das Wasser der Welle sie stoppte.
Als der Tsunami in die Stadt bricht, sitzt Andre Katzenberger unter dem Küchentisch in seinem Studentenwohnheim in Sendai. Das Wohnheim ist zehn Kilometer von der Küste entfernt, es liegt auf einem Hügel. Katzenberger sitzt mit seiner Freundin unter dem Tisch, weil die Erde noch immer zittert und weil ein Japaner ihm erzählt hat, dass es klug sei, unter einen Tisch zu krabbeln, wenn der Boden bebt.
Katzenberger ahnt nicht, dass 100 Kilometer entfernt im Atomkraftwerk Fukushima gerade eine nukleare Katastrophe beginnt. Eine Katastrophe, die ihn auf die Flucht schicken wird, zu Fuß, mit dem Fahrrad, dem Bus und dem Flugzeug. Niemand ahnt so etwas in Sendai am Tag des Tsunamis, als die Welt nur erschüttert ist, aber noch nicht verstrahlt.
Katzenberger ist 25 Jahre alt, er besucht seit September des vergangenen Jahres als Austauschstudent die Tohoku-Universität in Sendai. Er kommt aus Hamburg, dort studiert er Energie- und Umwelttechnik im siebten Semester an der Technischen Universität in Hamburg-Harburg.
Das Studentenwohnheim hat einen Riss in der Fassade.
Katzenberger schläft lieber auf einer dünnen Matte in einer Turnhalle, die sicher scheint.
Die Erde bebt weiterhin alle paar Minuten. Gordon Huenies ist froh, als die Japaner ihn und seine Kollegen in ein Bergdorf fahren, das 30 Kilometer vom AKW Fukushima entfernt liegt. Japanische Soldaten geben den Deutschen Wasser, Decken und jedem einen eingeschweißten Reisknödel. Gordon Huenies hat kein Geld, kein Handy, keinen Pass, seine persönlichen Dinge lagen im Hotel, als das Wasser kam.
Gordon Huenies wartet mit seinen Kollegen auf ein Auto, das ihn nach Tokio bringen soll, zum Flughafen. Er will nach Hause.
Um 15.41 Uhr fallen die Notstromaggregate für die ersten drei Blöcke aus. Die Reaktoren sind ohne Kühlung. Eine Minute später meldet Tokyo Electric Power den Notfall an die Behörden. Die Arbeiter auf der Kraftwerkswarte entscheiden, die Pumpen mit Batterien zu betreiben. Die Batterien sollen eigentlich nur die Minuten überbrücken, bis nach einem Stromausfall die Dieselaggregate angesprungen sind. Jetzt sind sie die einzige Stromquelle.
Im Reaktorblock 1 pumpen Arbeiter Wasser direkt in den Reaktor. Aber es reicht nicht. Der Druck im Reaktor steigt. Den Ingenieuren gleitet die Sache aus der Hand.
Die Reaktoren in Fukushima sind Siedewasserreaktoren vom Typ BWR, konstruiert von der US-Firma General Electric (GE). Ein Siedewasserreaktor funktioniert ähnlich wie ein Schnellkochtopf, in dem ein Tauchsieder hängt. Der Tauchsieder, das sind die Brennstäbe. Im Reaktor 1 werden sie nun immer heißer. Immer mehr Wasser verdampft. Der Druck im Reaktorkern steigt an. Wie hoch das Wasser noch steht, wissen die Ingenieure nicht. Die Messinstrumente sind ausgefallen.
Yukio Edano, der Leitende Kabinettssekretär der Regierung, tritt vor die Presse. Er trägt eine hellblau glänzende Arbeitskluft mit Aufnähern an den Ärmeln. In einer der beiden großen Brusttaschen steckt ein Kugelschreiber. Es ist Kleidung, wie sie Fabrikarbeiter in Japan tragen.
Dann spricht er vom Atomkraftwerk Fukushima Daiichi. Dort habe es ein "Problem" gegeben.
Edano redet ruhig und emotionslos wie ein Sprechautomat. Es soll klingen, als wäre die Katastrophe beherrschbar.
Graham Chave kennt das AKW von Fukushima, bis vor ein paar Jahren noch hat er nebenan gewohnt, in Futaba - keine sieben Kilometer von seinem Haus entfernt standen Block 1,2,3 und 4 und produzierten verlässlich Strom. Chave ist Übersetzer, er stammt aus Neuseeland, seit 14 Jahren lebt er in Japan. Er habe kein Problem mit Kernenergie, sagt er, und Japan habe ja keine Alternative. Jetzt, zwei Stunden nach dem stärksten Beben, das er je erlebt hat in all den Jahren, das ihn vor Angst im T-Shirt in die Kälte getrieben hat, schaltet er den Fernseher an und sieht, dass Kernenergie vielleicht doch ein Problem sein kann.
Notstromversorgung ausgefallen; Kühlung in Gefahr; Evakuierungszone. Chave denkt daran, wie er mal auf dem Reaktorbehälter des Kraftwerks stand und in die Ferne schaute. Er hat damals eine Führung durch das AKW machen dürfen, weil sein Schwiegervater den Sicherheitsmanager von Tepco kennt. Chave war durch die Gebäude geschlendert im Schutzanzug und mit dem Geigerzähler in der Hand. Er hat sogar mal ein paar Wochen im AKW gearbeitet, hat Ingenieuren in einem Verwaltungsraum Englisch beigebracht. Ein ziemlich altes Kraftwerk, dachte Chave damals, alt, aber sicher. "Sehr professionell geführt", fand er.
Nachbeben schütteln jetzt das Haus. Zentimeterhoch bedecken Glas und Porzellanscherben den Boden, Eier sind zerbrochen, Milch ist ausgekippt, Cornflakes kleben darin, aber die meisten Gebäude in Fukushima halten dem Beben stand. In Japan zieht man die Schuhe aus, sobald man in ein Haus geht. Jetzt sagt Chave seinen Söhnen, sie sollen die Stiefel anlassen, die Jacken, damit sie schnell rauskommen, wenn es wieder losgeht. Später setzt er sich wieder an den Computer und versucht zu arbeiten. Er denkt an die Freunde, die er noch in Futaba, der Stadt neben dem Kraftwerk, hat. Ob ihr Haus noch steht, ob es ihnen gutgeht? Über Strahlung macht er sich bisher keine Gedanken. Die Betreiber werden das Kraftwerk in den Griff bekommen.
Inzwischen kämpfen die Ingenieure der Fukushima-Meiler nicht mehr nur um einen Reaktor, sondern um drei. Sie wissen nicht, wie hoch der Wasserstand beim ersten Meiler noch ist. Sie können nicht sehen, ob die Pumpen in Reaktor 2 wirklich noch laufen. Sie verlieren die Kontrolle. Im Reaktor 2 kocht bald das Wasser im unteren Notkühlbecken, später auch in Reaktor 1. Damit der hohe Druck nicht die Reaktorbehälter und die Betonhüllen bersten lässt, entscheiden die Ingenieure, Dampf durch Notventile nach draußen abzulassen.
Der Rest der Welt ahnt noch nichts von dem Unglück. Nur den Experten wird schon jetzt klar, dass sich in den Reaktoren eine Situation anbahnt, die sich nicht wieder umkehren lässt.
Graham Chaves Frau fährt los, um Benzin zu holen. Nur für den Fall, dass die Familie die Stadt verlassen muss. Sie hat die Nummer 137 in der Tankstellen-Schlange. Fast vier Stunden wird es dauern, bis sie wieder zu Hause ist - mit 12 Litern. Chave hat ein paar Sachen zusammengepackt, die Taschen stehen bereit, die Kinder wissen, wo ihr Lieblingskuscheltier ist, sie könnten jetzt innerhalb von Minuten verschwinden. Nur: Sie wollen nicht.
Chave kontaktiert Freunde, Bekannte, auch die, die näher am Kraftwerk wohnten, über Facebook, Twitter, Telefon: Seid ihr okay? Vor allem die in Futaba hat es schwer getroffen. Graham erfährt, dass Freunde evakuiert wurden. Alle fünf Minuten aktualisiert er googlenews auf seinem Bildschirm. Als um 15.36 Uhr Dach und Wände des Reaktorgebäudes von Block 1 weggefetzt werden, als die Evakuierungszone erweitert wird und vor der Kernschmelze gewarnt wird, wird Chave nervös, aber trotzdem: Er will bleiben.
In der Nacht hat sich der Druck im Reaktorkessel von Block 1 des Kraftwerks verdoppelt. Der Feuerwehrmann Yoshiyoki macht sich zusammen mit seinen Kollegen auf den Weg in Richtung Fukushima. Er gehört zur "Hyper Rescue", einer Elitetruppe der Tokioter Feuerwehr. Erst kürzlich ist er aus der Erdbebenregion von Neuseeland zurückgekehrt. Jetzt wollen er und seine Kollegen zum AKW fahren, um zu helfen.
Um 15.36 Uhr kommt es an Block 1 des Kraftwerks zur ersten Explosion. Yoshiyoki und seine Kollegen drehen auf halbem Weg nach Fukushima um, weil sie radioaktive Strahlung fürchten.
Sein Mobiltelefon funktioniert wieder, als Andre Katzenberger, der deutsche Austauschstudent aus Hamburg, aufwacht in der Turnhalle seiner Universität in Sendai. Er liest E-Mails von seinen Freunden und Eltern: Wo bist du? Lebst du? Wie hast du dich vor dem Tsunami gerettet?
Katzenberger antwortet: "Nix Tsunami, alles gut." Er hat bisher nichts von den Zerstörungen mitbekommen, die der Tsunami in Sendai angerichtet hat.
Im japanischen Radio sagt der Moderator, das Kraftwerk in Fukushima sei ausgefallen.
In einer E-Mail schreiben Katzenbergers Eltern, das Kraftwerk in Fukushima sei explodiert.
Katzenberger hasst Atomkraft, er studiert Umwelttechnik, weil er helfen will, regenerative Energiequellen zu entwickeln. Er hat an der Universität gelernt, wie ein Kernkraftwerk funktioniert. Er hat gelernt, wie sich Energie gewinnen lässt aus zwei aufeinanderstoßenden Atomkernen, und er hat entschieden, dass die Menschen darauf verzichten sollten. Das Risiko eines Unfalls erscheint Katzenberger zu groß.
Er weiß, was passiert, wenn in einem Atomreaktor die Brennstäbe schmelzen. Und er weiß auch, dass 100 Kilometer ein kleiner Sicherheitsabstand sind bei einer Kernschmelze. Er bekommt ein wenig Angst, aber er hat Durst und Hunger, und er will wissen, was es mit diesem Tsunami auf sich hat. Er setzt sich auf sein Fahrrad und fährt ins Stadtzentrum von Sendai, um sich etwas zu essen zu kaufen. Vor den Supermärkten stehen Menschen in langen Schlangen, drinnen sind die Regale leer bis auf ein paar Flaschen grünen Tees und Pakete mit getrockneten Nudeln.
Radioaktiver Dampf zischt durch die Notventile der Reaktoren an die Luft. Inzwischen zeigen die Messinstrumente erhöhte Strahlenwerte auf dem Kraftwerksgelände. Auch Cäsium 137 ist nach außen gedrungen - für Experten ein Zeichen, dass einige Brennstäbe bereits beschädigt sind.
Mobile Dieselgeneratoren liefern inzwischen Strom. Sie sind auf Lastwagen herangeschafft worden. Feuerwehrmaschinen pumpen Wasser. In Reaktor 1 ragen die Brennstäbe bereits einen halben Meter aus dem Wasser.
Die Brennstäbe stecken in einem zylinderförmigen Behälter aus Spezialstahl, die erste Schutzhülle. Dieser Reaktordruckbehälter wiederum wird durch einen gut 30 Meter hohen Sicherheitsbehälter aus Stahl und Beton geschützt, die zweite Schutzhülle. Das normale Reaktorgebäude, die dritte Schutzhülle, ist nicht verstärkt.
Die Sicherheitsbehälter inklusive der Reaktorkerne der Fukushima-Reaktoren sind vom Typ "Mark I" und wurden bereits in den sechziger Jahren von der US-Firma General Electric entwickelt.
Schon lange fragen sich Experten, ob Mark I den enormen Druck aushalten kann, der bei Ausfall der Kühlung im Inneren des Reaktors entsteht.
Der Fukushima-Reaktor 1 ging bereits am 17. November 1970 ans Netz. Eigentlich sollte er in diesem März endgültig abgeschaltet werden. Doch auf Druck des Betreibers verlängerte die japanische Atomaufsichtsbehörde die Laufzeit des Meilers nochmals um zehn Jahre.
Die Druckwellen einer Wasserstoffexplosion lassen das Gebäude des Reaktors 1 erzittern. Das extrem explosive Gas hat sich im Reaktor vermutlich bei der Reaktion von Wasserdampf mit dem Metall Zirkonium gebildet. Der Stoff ummantelt die vier Meter langen und nur wenige Zentimeter dicken Brennstäbe.
Die Detonation zerreißt das Dach und den oberen Teil des Gebäudes. Eine weiße, radioaktive Wolke steigt auf. Um 17.00 Uhr wird bekanntgegeben, dass die Strahlung auf dem Reaktorgelände erstmals das erlaubte Maß überschreitet.
Um 20.20 Uhr beginnen die Arbeiter, mit Borsäure versetztes Seewasser über Feuerlöschventile in den Reaktor zu pumpen. Es ist eine Verzweiflungstat, denn damit gibt Tepco den Reaktor auf, weil das Seewasser ihn irreparabel beschädigen wird. Zum ersten Mal geht es nicht mehr darum, den Reaktor zu retten, sondern nur noch darum, die größtmögliche Katastrophe zu verhindern.
Zum ersten Mal tritt der ehemalige Toshiba-Atomingenieur Masashi Goto mit seinem wahren Namen vor die Öffentlichkeit. Bisher hatte der 61-Jährige es nur unter einem Pseudonym gewagt, kritische Schriften zur Atomenergie bei CNIC zu veröffentlichen. Mehr als 20 Jahre lang hat Goto als Konstrukteur von Reaktorbehältern gearbeitet. Auf einer Pressekonferenz erklärt er nun, wie Atomkraftwerke funktionieren und worauf es in dieser Notsituation ankommt. Angesichts der Katastrophe will Goto nicht länger schweigen. Er kritisiert, dass Behörden und Konzern abwiegeln und zu wenig informieren.
Tepco ist der größte Stromversorger Japans, der viertgrößte Stromriese weltweit. Die 1951 gegründete Firma betreibt in Japan drei Atomkomplexe mit 17 Reaktoren und hatte schon vor der Katastrophe einen miesen Ruf. Auf Zwischenfälle reagierte das Unternehmen verlässlich mit Herunterspielen, Ablenken und Verbergen. Seit Mitte der achtziger Jahre vertuschte Tepco systematisch Schwierigkeiten mit seinen Reaktoren. Kaputte Schraubbolzen, Risse in Rohren? Tepco fälschte einfach die Berichte. Einmal versuchten Mitarbeiter von Tepco sogar, drei Brüche in einem wichtigen Bauteil notdürftig zuzuschweißen. Das wurde selbst der geduldig-atomfreundlichen Öffentlichkeit zu viel. 2002 mussten Firmenchef Hiroshi Araki und vier seiner Top-Manager gehen. Viel geändert hat sich seitdem aber nicht. Nach dem schweren Erdbeben von 2007 verkündeten Tepco die Schäden in den Meilern der Firma nur scheibchenweise.
Die Behörden haben die Evakuierungszone auf 20 Kilometer erweitert. Die japanische Armee fliegt mit Hubschraubern Einwohner aus der Gefahrenzone. Auch 76 Nachwuchsfußballer aus der Nationalen Fußballakademie Fukushima werden mit Bussen nach Tokio gebracht. 180 000 Einwohner in der 20-Kilometerzone um Fukushima müssen ihre Häuser verlassen. In hastig aufgebauten Notunterkünften kommen sie an: Alte Leute, Schulkinder, Familien mit Babys; sie werden von Katastrophenhelfern empfangen, die Helm, Schutzbrille und Maske tragen.
Auch im zweiten Fukushima-Reaktorkomplex Daini überhitzen nun alle vier Reaktoren. Auch hier befürchten die Ingenieure, bald radioaktiven Dampf in die Umwelt ablassen zu müssen.
Am Morgen des zweiten Tages nach dem Beben in Sendai schaltet Austauschstudent Andre Katzenberger wieder sein Handy ein und liest E-Mails. Seine Eltern und die Freunde aus Deutschland schreiben von ihrer Angst und davon, wie das Kernkraftwerk in Fukushima außer Kontrolle gerät.
Katzenberger nimmt seine Freundin an der Hand, rennt ins Wohnheim, stopft Laptop und Kleidung in seinen Wanderrucksack. Seine Freundin fragt, was sie machen, wenn keine Busse und Züge fahren. "Dann fahren wir mit dem Rad", sagt Katzenberger.
Als sie am Bahnhof vorbeiradeln, sehen sie, dass keine Züge fahren. Und sie sehen lange Reihen, die sich bilden, und sie sehen Busse. Katzenberger wundert sich, wie ruhig und besonnen die Japaner scheinen. Eine Autostunde entfernt schmelzen die Brennstäbe, und hier warten die Menschen auf den Bus, geordnet, still, als würden sie ins Schwimmbad fahren wollen.
Katzenberger will weiterradeln, aber seine Eltern schreiben in ihren E-Mails nun von einer atomaren Wolke, und er entscheidet, dass sein Fahrrad zu langsam sein würde für die Wolke. Er stellt sich in die Schlange.
Die Japaner schauen Fernsehen auf ihren Mobiltelefonen, und sie hören Radio: Lage unter Kontrolle, ein kleiner Unfall, keine Panik. Katzenberger liest in den E-Mails aus Deutschland: Lage außer Kontrolle, GAU, Panik.
Er schafft es, mit seinem Handy die Deutsche Botschaft in Tokio zu erreichen.
Was er machen soll, fragt Katzenberger.
Er soll in den Bus vom THW steigen, sagte der Mann von der Botschaft.
Da sei kein Bus vom THW, sagt Katzenberger.
Dann soll er so abhauen, sagte der Mann von der Botschaft, irgendwie.
Nach sechs Stunden stehen Katzenberger und seine Freundin vorn in der Schlange, mittlerweile haben sich vier weitere Deutsche zu ihnen gestellt, eine davon ist Nadine Bär aus Bayern, die Katzenberger aus der Tohoku-Universität kennt. Zusammen steigen sie in einen Bus und fahren nach Westen, dort duschen sie, essen etwas und fahren mit einem anderen Bus weiter Richtung Osaka im Süden Japans.
Graham Chave und seine Frau packen zu Hause alles ein, was sie an Camping-Equipment finden können, Kocher, Schlafsäcke, und fahren 20 Minuten in den Nachbarort. Dort, in einer Turnhalle, sind Flüchtlinge von der Küste untergebracht. Menschen, die gesehen haben, wie ihre Kinder, wie ihre Familien weggespült wurden. Ihre Freunde aus Futuba, bei denen Chave noch vor wenigen Wochen auf einer Hochzeitsfeier war, sind auch da. Draußen herrschen Minusgrade, sie schlafen auf Pappe. "Alles verloren", denkt Graham Chave, "das ist wie nach einem Krieg."
Das Notkühlsystem in Reaktor 3 versagt. Alle Versuche der Ingenieure, mehr Wasser in den Reaktor zu pumpen, schlagen fehl. Es hilft nur noch, den Dampfdrucktopf zu entlüften. Aber das Ventil klemmt. Arbeiter müssen sich an die Betonhülle wagen. Ihnen gelingt es schließlich, das Ventil von Hand zu öffnen. Heißer Wasserstoff zischt um 8.41 Uhr aus der Betonschutzhülle. Um 13.12 Uhr wird Seewasser mit Borsäure direkt ins Herz der Anlage gepumpt. Die Säure bremst den Zerfall des Kernbrennstoffs ab.
Die Arbeiter tragen jetzt Schutzanzug und Maske, um nicht verstrahlt zu werden.
Der Ort, an dem zurzeit um Japans Schicksal gerungen wird, ist ein weißer Kasten in Tokio, vom Dach ragt ein massiver Funkmast in die Höhe. Das Gebäude der Tepco ist eingezwängt zwischen einer Bank und einer Bahnstrecke. Übertragungswagen des japanischen Fernsehens sind vorgefahren, Polizisten mit Schutzschilden, nervös piependen Funkgeräten und langen Schlagstöcken bewachen Tepco wie einen Regierungssitz.
Tepco symbolisiert für Japan jetzt zweierlei: lähmende Hilflosigkeit und letzte Hoffnung zugleich. Von hier aus versucht ein Heer verzweifelter Manager in dunklen Anzügen und Krawatten seit dem 11. März, dem Tag von Erdbeben und Tsunami, das zerstörte Kernkraftwerk Fukushima Daiichi unter Kontrolle zu bekommen. Von hier aus senden sie immer neue Einsatzbefehle mit immer verwegener klingenden Rettungsmethoden nach Fukushima.
Erst jetzt, fast zwei Tage nachdem sich die Explosion in Reaktor 1 ereignet hat, wagt sich Tepco-Boss Masataka Shimizu, 66, vor die Presse. Die Reporter, die auf den Fluren der Firmenzentrale ausharren, drängen auf detaillierte Erklärungen.
Die ungewohnte Aggressivität der Reporter lässt die Tepco-Manager aufhorchen. Denn auf die Loyalität der heimischen Presse konnten sie sich bisher verlassen. Japanische Reporter haben ihre Büros oft direkt in den Institutionen, über die sie berichten. Sie gehören praktisch dazu und warten mit den Kollegen anderer Zeitungen und Sender geduldig auf die Presseverlautbarungen, die man ihnen hereinreicht.
Diesmal aber bröckelt das harmonische Miteinander der Hauptstadtelite. Die Reporter merken, dass die Lage außer Kontrolle gerät. Der sonst so devote Corpsgeist der Journalisten, die sich auch untereinander kaum Konkurrenz machen, weicht unangenehmeren Fragen.
Schließlich tritt Shimizu auf. Er ist ein schmächtiger Mann, er trägt eine Brille mit dünnem schwarzem Rahmen. Er verneigt sich formvollendet, entschuldigt sich.
Je ernster die Lage ist, desto verzweifelter klammern sich Japaner an die Rituale der Höflichkeit.
Gleichwohl wollen die Reporter von Shimizu jetzt wissen, wie ernst die Lage sei, sie fürchten, dass die Strahlung auch zu ihnen nach Tokio kommen könnte. Man sei noch dabei, das Ausmaß der nuklearen Strahlung zu "bewerten", antwortet Shimizu, aber er denke nicht, dass sich daraus "sofort" Folgen für die menschliche Gesundheit ergäben.
Der ehemalige Atomingenieur Goto versucht, nun auch den ausländischen Journalisten die Probleme mit dem Reaktor zu erklären. "Die offiziellen Mitteilungen sind mangelhaft", sagt Goto. Er trägt einen grauen Anzug und ein weißes Hemd, er hat immer seinen Laserpointer in der Hand. Aber seine Kritik ist ein Tabubruch. Die Lage an den Reaktoren sei außer Kontrolle. "Niemand kann über den Zustand der Reaktoren Auskunft geben, daher ist nichts sicher", sagt er.
Die Ingenieure können Reaktor 1 und 3 nicht weiter kühlen: Ein Becken am Pazifik, aus dem das Seewasser heraufgepumpt wird, ist leer. Es dauert mehr als zwei Stunden, ehe die Pumpen wieder anspringen können.
Eine gewaltige Wasserstoffexplosion zerstört nun auch das Gebäude von Reaktor 3. Dach und große Teile der oberen Wände werden weggerissen. Die Detonation verletzt sieben Tepco-Mitarbeiter und vier Soldaten, die geholfen hatten, die Katastrophe zu bewältigen.
Nun versagt auch in Reaktor 2 das Kühlsystem. Der Wasserstand fällt bis 18.30 Uhr um mehrere Meter. Die Brennstäbe liegen frei. Ein paar Stunden später sind sie halb bedeckt, dann liegen sie wieder frei. Innen steigt der Druck auf 4,15 bar. Die Ingenieure lassen Dampf ab, sie reißen vorher ein Loch in das Gebäude, damit es nicht - wie in Block 1 und 3 - durch eine Explosion weggesprengt wird.
Um 23.20 Uhr liegen die Brennstäbe erneut frei. Eine Kernschmelze ist kaum mehr aufzuhalten. Die Brennelemente drohen zu einem Brei auf dem Boden des Reaktors zu schmelzen.
Dienstag, 15. März, Tokio, Tepco-Zentrale, 5.30 Uhr
Es ist der fünfte Tag der Fukushima-Katastrophe. Premier Naoto Kan, 64, besteigt seine schwarze Dienst-Limousine und lässt sich zur Tepco-Zentrale fahren.
Die Fahrt durch die leeren Straßen Tokios dauert wenige Minuten, einsam in die Rückbank gedrückt, blickt Japans ranghöchster Krisenmanager aus dem Fahrzeug. Kan sieht keine andere Wahl mehr, er ist entschlossen, etwas zu tun, was im konsensbewussten Japan ungewöhnlich ist: Er will endlich Führung zeigen.
Kan brüllt die verdatterten Tepco-Ingenieure an: "Was ist hier eigentlich los?" Reagiert er damit auf Pläne von Tepco, Personal von Fukushima zumindest teilweise von dem Reaktor abzuziehen, wie einzelne Medien spekulierten? "Eine Abberufung ist unmöglich", soll Kan gesagt haben, denn: "Es geht nicht darum, ob Tepco kollabiert, es geht darum, ob Japan zusammenbricht." Klar ist nur, die Nerven liegen blank, Kan ist es leid, in seinem Amtssitz ohnmächtig warten zu müssen, dass die Tepco-Manager ihn über die Lage in Fukushima aufklären.
"Ein Rückzug kommt nicht in Frage, wir haben nur euch", schreit Kan die ebenfalls übernächtigten Manager in der Tepco-Zentrale an. Kan ist gekommen, um den Kompetenz-Wirrwarr der vergangenen Tage zu beenden.
In einem Verzweiflungsakt ernennt der Premier sich nun zum Chef eines gemeinsamen Krisenstabes von Regierung und Tepco.
"Jetzt also Austritt radioaktiver Strahlen?", schreibt der Feuerwehrmann Yoshiyoki auf Twitter. Noch immer ist er in Tokio. Zu einem weiteren Einsatzversuch im AKW konnten sich seine Vorgesetzten scheinbar noch nicht entschließen. "Im Radio Berichte über erhöhte Messwerte in Tokio und Saitama", schreibt er.
Eine Explosion erschüttert Reaktorblock 4, das ist einer der Reaktoren, die zur Zeit des Erdbebens gar nicht liefen. Im oberen Teil des Gebäudes bricht ein Feuer aus. Manche Experten behaupten, dass sich Schmieröle entzündet hätten. Womöglich sind es jedoch die abgebrannten Brennstäbe des Reaktors, die Feuer gefangen haben. Sie sind noch so heiß, dass sie in einem sogenannten Abklingbecken kühlen. Die Strahlung der Brennelemente lässt das Wasser im Becken blau leuchten.
Die Abklingbecken der Reaktoren von Fukushima Daiichi liegen direkt unter dem Dach des Reaktorgebäudes. Verdampft das Wasser aus den Becken oder läuft es aus, werden die Brennstäbe freigelegt. Sobald die Spitzen der Brennstäbe aus dem Wasser ragen, werden sie extrem heiß, geben tödliche Strahlung ab und können leicht Feuer fangen.
Arbeiter hören eine Explosion aus der Nähe der Kondensationskammer des Reaktors 2. Diese Explosion sieht nicht so dramatisch aus wie die beiden anderen. Aber sie hat eine neue Qualität: Die Detonation beschädigt vermutlich den Reaktorsicherheitsbehälter. Dann würde erstmals eine entscheidende Barriere gegen den Austritt flüssiger Kernschmelze fehlen. Die Radioaktivität in der Nähe des Reaktors steigt stark an.
Das Gelände wird evakuiert. Doch einige Arbeiter müssen vor Ort bleiben, um Kühlwasser in die Reaktoren zu pumpen. Experten berechnen, dass jeder Reaktor etwa 190 Liter Wasser pro Minute braucht.
Radiomoderator Sato beschließt, Tokio zu verlassen. Die Behörden melden kurzzeitig eine erhöhte Radioaktivität. Sato verlässt die Stadt in die andere Richtung, in Richtung Sendai. Er nimmt den schnellen Weg durch die Berge zum Haus seiner Eltern. Es geht ihnen gut. Satos Mutter erzählt, sie sei im Auto auf einer Brücke unterwegs gewesen, als die Erde bebte. Sie konnte nicht mehr geradeaus lenken. Auch Satos Großmutter geht es gut. Sie hatte aus einem Lager über Satellitentelefon angerufen. Sato möchte, dass seine Eltern mitkommen in den Süden. Seine Mutter nickt und packt stumm ein paar Sachen. Satos Vater aber sagt nein. Er werde weiterarbeiten. Er fühle sich in der Pflicht. Seine Dienststelle liegt nur 60 Kilometer von Fukushima entfernt. Sato sagt ihm, er sei verrückt. Sato ist ärgerlich, er muss allein zurückfahren. Als er geht, sagt er noch: "Aber wenn du Angst hast, Papa, dann renn!"
Kernkraftwerk Fukushima, 10.22 Uhr
Messgeräte melden kurzzeitig dramatisch hohe Strahlung, die bislang höchste überhaupt: 400 Milli-Sievert pro Stunde westlich von Reaktor 3, und 100 Milli-Sievert neben Reaktor 4. Experten deuten diese Werte, die vielfach über dem gesundheitlich unbedenklichem Wert liegt, als Indiz dafür, dass tatsächlich ausgemusterte Brennstäbe gebrannt haben. Die IAEA bestätigt nur, dass Radioaktivität "direkt in die Atmosphäre entlassen wurde".
Einem Arbeiter, der für mehr als zweieinhalb Stunden einer so hohen Strahlendosis ausgesetzt ist, droht akute Strahlenkrankheit. Die Symptome setzen Stunden oder Tage nach der Verstrahlung ein: Übelkeit, Erbrechen, Gewichtsabnahme und Durchfall. Danach geht es den meisten erst mal wieder gut - bis nach zwei bis drei Wochen die Krankheit richtig ausbricht.
Die Strahlen greifen vor allem diejenigen Zellen im Körper an, die sich schnell teilen: Den Verseuchten fallen die Haare aus, das blutbildende Knochenmark versagt, die Darmschleimhaut zerfällt. Die Opfer leiden unter Versagen des Immunsystems und der Blutgerinnung.
23 Anwohner aus der Gegend um Fukushima mussten bislang wegen Strahlenbelastung dekontaminiert werden.
Premier Kan tritt in seinem Amtssitz vor die Presse. Den Führungswillen, mit dem er morgens die Tepco-Manager verdutzte, versucht er sich zu bewahren.
Kan wendet sich an sein Volk, so eindringlich wie während der ganzen Krise noch nicht. Die Zeit läuft ihm weg, inzwischen hat sich auch eine Explosion in Reaktor 2 ereignet. Kan fordert die Anwohner des Kernkraftwerks auf, die Gegend ganz zu verlassen. Und die Menschen im Umkreis von 20 bis 30 Kilometern um die Unglücksmeiler sollen in ihren Wohnungen bleiben.
Auch der Regierungssprecher Yukio Edano klingt plötzlich ungewohnt dramatisch: Statt von "Mikro-Sievert" wie noch am Vortag spricht er von 400 "Milli-Sievert", die in Fukushima gemessen worden seien. Es bestehe "kein Zweifel," sagt er, "dass das erreichte Niveau die menschliche Gesundheit beeinträchtigen kann".
Von Mikro-Sievert zu Milli-Sievert - das ist ein tausendfacher Unterschied, wie das japanische Fernsehen seinen Zuschauern anschließend erläutert. Schon 100 Milli-Sievert würden ausreichen, männliche Strahlenopfer unfruchtbar zu machen.
30 Kilometer um das Kraftwerk wird wegen der hohen Strahlung eine Flugverbotszone eingerichtet. Das US-Militär bietet Japan Wasserwerfer an. Die Hilfsoperation des amerikanischen Militärs trägt den Namen "Tomodachi", das heißt auf Japanisch "Freund".
Beamte der Nuklearsicherheitsbehörde bestätigen, dass das Wasser im Abklingbecken eines Reaktors kochen könnte. Die Messfühler zeigten früher am Tag eine Temperatur von 84 Grad. Normal sind unter 25 Grad.
Am Abend arbeitet nur noch eine Kernmannschaft von 50 bis 70 Leuten in Fukushima. Die Arbeiter werden immer wieder ausgetauscht. Ein Wert von 250 Milli-Sievert wird offiziell für sie als Grenzwert festgesetzt. Bald schon gelten 20 Arbeiter als verstrahlt.
Die weißen Schutzanzüge halten zwar radioaktive Teilchen von der Haut fern, die elektromagnetische Gammastrahlung, die einen großen Teil der freigesetzten Radioaktivität ausmacht, dringt aber ungehindert hindurch. Gasmasken bieten ebenfalls keinen vollständigen Schutz: Radioaktive Edelgase werden davon nicht aufgehalten.
"Wenn ich an meine Familie denke, will ich nicht zum AKW", schreibt der Feuerwehrmann Yoshiyoki auf Twitter. Kurze Zeit vorher hat die IAEA bestätigt, dass die Strahlenbelastung gestiegen ist. Noch immer kann sich Yoshiyokis Truppe nicht zu einem erneuten Ausrücken durchringen. Stattdessen soll jetzt eine andere Einheit nach Fukushima geschickt werden. "Mobile Einheit der Polizei soll zum AKW. Dorthin, wo sogar die Hyper Rescue abgezogen wurde. Es tut mir leid für sie", schreibt Yoshiyoki.
Kernkraftwerk Fukushima, 5.45 Uhr
Ein Tepco-Arbeiter soll eigentlich nur eine Batterie in den Kontrollraum von Reaktor 4 bringen. Dabei entdeckt er, dass es an der nordwestlichen Ecke des Reaktorgebäudes brennt. Als wäre es ein Schwelbrand in einer Restaurantküche, ruft Tepco die örtliche Feuerwehr. Dieser Vorfall ist für den Atomexperten Mycle Schneider bezeichnend: "Das bedeutet, dass sie gar nicht mehr wissen, was in den Gebäuden eigentlich passiert." Das Feuer ist nach einer halben Stunde nicht mehr sichtbar, aber große Teile des Dachs sind zerstört. Das Becken ist acht Meter tief, darin stehen über 500 besonders heiße Brennelemente, die gerade eingelagert worden sind - nun sind sie zum Teil unter Trümmern verborgen.
Weißer Dampf beginnt in dicken Wolken aus Reaktor 3 aufzusteigen. Der Dampf könnte Wasser sein, das Stunde um Stunde aus dem Abklingbecken verdampft: zentimeterweise verschwindet das Wasser, langsam, aber ohne dass die Arbeiter es aufhalten können. Aus dem Abklingbecken von Reaktor 4 steigt gräulicher Rauch auf. Das bedeutet, dass es in Becken 4 überhaupt kein Wasser mehr gibt, während in den Abklingbecken von 1 und 3 noch Wasserreste sind. Die Brennstäbe oxidieren. Nur irgendwann ist ein Punkt ohne Wiederkehr erreicht, eine Kettenreaktion beginnt, dann schmelzen die Brennelemente und schleudern extreme Strahlung in die Luft. Das japanische Wirtschaftsministerium hatte schon am Vortag von Tepco gefordert, eine Kettenreaktion zu verhindern. Nur: Kann das noch gelingen?
"Um circa 6 Uhr heute erklang ein abnormaler Lärm aus der Nähe der Kondensationskammer des AKW Fukushima Daiichi. Da der Druck zuvor gesunken war, wurde angenommen, dass dies ein Hinweis darauf sei, dass etwas Abnormales sich ereignete. Die Arbeiter von Tepco und anderen Unternehmen, die nicht direkt mit den laufenden Arbeiten zur Wassereinleitung beschäftigt waren, wurden vorübergehend an einen sicheren Ort gebracht. Die übrigen Arbeiter tun zurzeit ihr Bestes, um die Sicherheit der Anlage zu gewährleisten.
Es ist uns bewusst, was für großes Leid und Ärgernisse dieses Ereignis verursacht hat, nicht nur bei den Menschen, die in der Nähe wohnen, sondern in der gesamten Gesellschaft, und wir entschuldigen uns aufrichtig dafür."
"Die Kollegen, mit denen wir in Neuseeland gekämpft haben, begeben sich jetzt zum AKW", schreibt Feuerwehrmann Yoshiyoki, "Ihr seid die echten Helden. Bitte kommt unversehrt zurück."
Nach ihrer Flucht aus Sendai, aus der Turnhalle der Tohoku-Universität, gelangen der deutsche Student Katzenberger und seine Freundin nach Osaka. Sie steigen in das erste Flugzeug nach Bangkok, das sie erreichen können.
Andre Katzenberger will nun von Bangkok aus schauen, wie es weitergeht in seinem Leben. Er weiß noch nicht, wo er studieren wird, aber er weiß, dass Umwelttechnik das richtige Studienfach ist.
Der Tsunami hat nicht viel übriggelassen von Minamisoma, einer Stadt, die einmal 70 000 Einwohner hatte. Und nun liegt sie in der Sperrzone um das AKW Fukushima, rund 25 Kilometer nördlich am Meer, das sich die Stadt holte, bevor es sich wieder zurückgezogen hat. Am Straßenrand türmen sich Berge von zersplittertem Holz und ineinandergeschobenen Trümmern der Häuser, die der Tsunami ins Landesinnere gespült hat.
Die Menschen hier sind von der Regierung aufgefordert worden, die Stadt zu verlassen oder zumindest in ihren Unterkünften zu bleiben und Türen und Fenster geschlossen zu halten. Die Straßen sind menschenleer.
Aber einige sind trotzdem geblieben.
Das Rathaus von Minamisoma hat das Erdbeben fast unbeschadet überstanden, darin sitzt Katsunobu Sakarai, der Bürgermeister. Er trägt ein beigefarbenes, gebügeltes Hemd, er sitzt in einem Büro, das so aufgeräumt ist, wie es immer war. Was er einem Reporter der BBC zu sagen hat, fällt ihm sichtlich schwer. "Uns wurde nichts gesagt, als der erste Reaktor explodierte. Wir haben es nur im Fernsehen gehört. Die Regierung hat uns überhaupt nichts gesagt. Wir sind isoliert. Die lassen uns hier alle sterben."
Ein paar Straßen weiter steht das Krankenhaus. Die Türen sind verriegelt, das Klinikpersonal hat Wachen aufgestellt: Wer hereinwill, wird mit Messgeräten auf radioaktive Verseuchung überprüft.
Die Ärzte und Pfleger tragen Haar- und Mundschutz und haben sich Umhänge aus durchsichtiger Plastikfolie übergeworfen. Sie haben sich entschlossen zu bleiben, wegen ihrer Patienten.
Dr. Yuko Kanazawa ist ein älterer Herr mit grauem Haar und starken Brillengläsern. Er spricht sehr leise. "Wir sollten nicht hierbleiben, aber es ist unser Job", sagt Dr. Kanazawa, er verbeugt sich leicht.
Dann sagt er noch: "Ich hasse dieses Atomkraftwerk wirklich."
Einige Flüchtlinge kampieren im Klassenzimmer einer Schule, sie haben sich vor der Wandtafel in Decken gehüllt, unter ihnen sind Kinder. Sie haben keine Ahnung, wie sie hier rauskommen sollen. Die Rettungsteams, erzählen sie, hätten sich geweigert, sie aus der Sperrzone zu bringen.
Die Vorräte gehen langsam aus. In Minamisoma haben die Menschen das Gefühl, von der Welt einfach vergessen worden zu sein.
Regierungssprecher Yukio Edano sei erstmals seit fünf Tagen nach Hause gegangen, meldet die Zeitung "Asahi Shimbun". Twitter-User posten eine Bildmontage, auf der Edano mit Schlafanzug und Teddybär im Bett zu sehen ist.
Mitarbeiter von Tepco fliegen im Helikopter über das Kraftwerksgelände. Sie sehen eine Trümmerlandschaft, die an die schwelenden Stahlgerüste des zerstörten World Trade Center erinnert. Die Tepco-Leute machen Fotos und filmen. Angesichts dieser Bilder ist es ein Wunder, dass überhaupt noch irgendetwas in Fukushima funktioniert.
In Reaktorblock 1 sollen die Brennstäbe zu 70 Prozent beschädigt sein. Je mehr Brennelemente demoliert sind, desto wahrscheinlicher wird eine Kernschmelze. Es funktionieren weder Pumpen noch Strom. Gekühlt wird der Reaktor über eingespültes Seewasser. Die Brennstäbe im Block 2 liegen 1,80 Meter frei, die im Block 3 sogar 2,30 Meter. Es ist wahrscheinlich, dass die Stäbe noch stärker schmelzen.
Gregory Jaczko, Chef der US-Nuclear Regulatory Commission (NRC), tritt vor einen US-Parlamentsausschuss und verkündet eine Hiobsbotschaft zum Katastrophenreaktor Nummer 4: "Wir glauben, dass die äußere Reaktorhülle zerstört worden ist und dass sich kein Wasser mehr im Abklingbecken befindet; und wir glauben, dass die Strahlung extrem stark ist." Arbeiten an dem Reaktor seien nun "sehr schwer". Die Strahlung in direkter Nähe der Reaktoren sei "potentiell tödlich".
In Japan lebenden Amerikanern rät der Regierungsbeamte, dem Reaktor nicht näher als etwa 80 Kilometer zu kommen. Seine Empfehlung nennt er "gewissenhaft" und brüskiert damit die japanische Regierung, die zuvor eine Evakuierungszone von 20 Kilometern um den Reaktor herum eingerichtet hatte. Später schickten die USA eigene Spezialflugzeuge los, die aus der Luft Strahlungswerte messen sollen.
Zwei Chinook-Transporthubschrauber des japanischen Militärs steigen auf und beginnen aus roten Hütchen Tonnen von Wasser auf die Abklingbecken des Reaktors 3 abzuwerfen. Viermal überfliegen die Hubschrauber den Reaktor. Doch das meiste Wasser verfehlt sein Ziel. Schon nach zwölf Minuten wird die Aktion wieder abgebrochen.
Premier Kan hat Außenminister Takeaki Matsumoto und Kazuyoshi Umemoto, den Chef der Nordamerika-Abteilung des Außenministeriums, in sein Amtszimmer gebeten. Die drei schauen sich gegenseitig an, dann blicken sie wieder auf die Sprechanlage: "Wir sind bereit, Japan alle möglichen Arten von Hilfe zu leisten", tönt US-Präsident Barack Obama aus der Leitung. Kan bedankt sich und versichert, Japan bemühe sich nach Kräften, Fuku-shima unter Kontrolle zu bekommen.
Es ist Kans zweites Telefonat mit Obama seit dem Beben, und er spürt wohl, dass der Amerikaner tiefe Zweifel hegt an der Wirksamkeit des japanischen Krisenmanagements. Die Amerikaner fühlen sich von Tokio offenkundig nicht ausreichend informiert, sie merken, dass die stolzen Japaner wieder einmal lieber ihr Gesicht wahren, als sich von der ehemaligen Besatzungsmacht in ihre Krise hineinreden zu lassen.
Erneut steigt der Druck im Reaktor drei des Atomkraftwerks. Hier gibt es zwei Probleme gleichzeitig: Abklingbecken und Reaktorkern drohen zu überhitzen. Besonders schlimm: Die Anlage wird mit sogenannten Mischoxidbrennstäben, kurz: MOX, betrieben. Die aus altem Kernbrennstoff wiederverwerteten Brennelemente enthalten zu einigen Prozent das hochgiftige Plutonium. Plutonium ist ein Stoff für Atombomben, seine Halbwertszeit wird in Jahrtausenden gemessen.
Kernkraftwerk Fukushima, 19.35 Uhr
Innerhalb von 34 Minuten spritzen fünf Hochdruckwasserwerfer der Armee 30 Tonnen Wasser in das überhitzte Abklingbecken von Reaktor 3. Die Fahrzeuge können komplett aus dem Führerhaus bedient werden, so dass sich die Besatzung nicht direkt der radioaktiven Strahlung aussetzen muss. Der Effekt der Duschaktion ist allerdings ernüchternd. Die Radioaktivität in der Nähe der Reaktorblöcke ist weiter gestiegen.
Freitag, 18. März, Kernkraftwerk Fukushima, 6.12 Uhr
Bei Sonnenaufgang nehmen die Arbeiter des AKWs die Versuche wieder auf, das heiße Abklingbecken von Reaktor 4 mit Wasser zu füllen. Die IAEA hat Wassertemperaturen in den Becken veröffentlicht. 84 Grad Celsius melden Fühler im Abklingbecken von Reaktor 4, solange sie noch funktionsfähig sind. In den Becken von Einheit fünf und sechs ist das Wasser über 60 Grad warm. Immerhin sollen dort nun Notstromdiesel Wasser nachfüllen - damit es wenigstens bei vier gefährlichen Reaktoren bleibt.
Tokyo Electric mobilisiert alle Gerätschaften, die Reaktor 3 unter Wasser setzen können. Wasserwerfer der Feuerwehr und des Militärs sind im Einsatz. Regierungssprecher Edano wertet es schon als Erfolg, dass nach diesen Duschen Dampf aufsteigt - wenn das Wasser also irgendetwas kühlt. Immerhin können die Geräte jetzt über drei Tonnen Wasser pro Minute in die Reaktorblöcke hineinpumpen. Ein Hoffnungsschimmer? Außerdem steht inzwischen eine Stromleitung.
Am wichtigsten sind im Moment die Abklingbecken in Block 3 und 4. In beiden steht kaum noch Wasser, stark strahlende Brennelemente, solche, die erst nach vielen Jahren und dann nur in einem Castorsarg in Deutschland auf eine Straße dürften, stehen offen herum. Experten schätzen, dass sich allein im Becken des Reaktors 3 mehr als 225 Kilogramm Reaktorplutonium befinden.
"Unser Hyper Rescue Team wird nun auch wieder im AKW eingesetzt werden", schreibt Feuerwehrmann Yoshiyoki auf Twitter. "Ich habe mich jetzt seelisch darauf eingestellt. Wir werden die letzte Verteidigung gegen eine NBC-Katastrophe sein." Wenig später bekommt das Team einen Anruf vom Premierminister persönlich. Yoshiyoki und seine Kollegen bereiten ihre Ausrüstung vor, besprechen den Einsatzplan. Gegen 19 Uhr bricht die Spezialeinheit mit 46 Mann in Richtung Fukushima auf.
"Nun also der Einsatzbefehl", schreibt Yoshiyoki. Er befindet sich jetzt auf dem Weg nach Fukushima. Die letzte Nachricht, die er schreibt: "Kann nicht weiter twittern, wünscht mir eine unversehrte Wiederkehr."
Die Arbeiten an der Stromleitung für den Reaktor 2 stehen vor dem Abschluss, der massive Wasserwerfereinsatz hat den Druck in Reaktor 3 etwas sinken lassen, in zwei anderen Blöcken steigt er schon wieder, und auch die Wasserpumpe in Reaktor 5 soll wieder laufen. Ein neuer Plan wird diskutiert in der Chefetage der Tepco: die beschädigten strahlenden Reaktoren unter einer Lawine von Sand und Beton verschwinden zu lassen, unter einem Sarkophag wie in Tschernobyl, der allerdings hatte schon nach wenigen Jahren Risse.
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Als im Jahr 1755, an Allerheiligen, die Erde unter Lissabon bebte und ein Tsunami vom Atlantik her die schöne Stadt ins Unglück riss, ging eine Schockwelle durch Europa. Philosophen und Theologen der Epoche stellten sich so laut wie nie die Theodizee-Frage: Wie kann der gute und allmächtige Gott dieses Unheil zulassen? Welche Botschaft wollte er aussenden, als er das Beben ausgerechnet an Allerheiligen schickte? Und in ein Land, das als gute katholische Nation galt? Wollte Gott die Stadt strafen? Und wollte er Europa warnen?
Das Erdbeben von Lissabon wurde als Weckruf verstanden, als Wendepunkt der Geschichte. Ihm folgte ein wissenschaftlicher Aufbruch, die Katastrophe wurde allerorten studiert, um künftiges Unglück zu vermeiden oder das alte wenigstens zu verstehen. Die moderne Geowissenschaft nahm einen Aufschwung hier, auch die Seismologie, die ganze Aufklärung und ihre Dichter und Denker rieben sich an den Ereignissen von Lissabon, und der naive Glaube an Gott wurde nachhaltig beschädigt.
Wer die Epochen vergleicht, kann zu dem ernüchternden Schluss kommen, dass die Menschheit des Jahres 1755 offener für Veränderung war als die heutige. Bei Licht betrachtet hätte spätestens der Atomunfall von Tschernobyl das Schicksal der Kernenergie besiegeln müssen.
Aber statt ein System aufrichtig und grundsätzlich in Frage zu stellen, verlegte sich die Welt darauf, nur an den Stellschrauben des Systems herumzudoktern und es, angeblich, immer weiter zu verbessern, vermeintlich sicherer zu machen, mutmaßlich zukunftsfest.
Fukushima jetzt ist wieder so ein Weckruf. Wie Lissabon. Wie Tschernobyl. Wie Harrisburg. Auch die Ölplattform Deepwater Horizon sandte schrille Töne aus, deren Bohrloch in der Tiefsee des Golfs von Mexiko unablässig Öl ins Meer spuckte. Die lange Reihe der Öltanker, die an den Küsten verunglückt sind, waren Weckrufe. Die Asian Brown Cloud, die sich als schmieriger Schmutzfilm über den Himmel Asiens zieht, ist einer. Das Ozonloch. Die Erderwärmung. Der Hurrikan "Katrina". Bald die Gentechnik, wer weiß. Ihre Botschaft war im Grunde stets die gleiche, und stets wurde sie überhört, sie heißt, ganz schlicht: Du musst dein Leben ändern.