Von der Leyen im Interview "Political Correctness ist überzogen worden"

Ursula von der Leyen
Foto: Christoph Neumann/ DER SPIEGELSPIEGEL: Frau von der Leyen, Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments, hat in einer Rede gefragt: "Warum sind wir so verzagt geworden, wo wir doch so Großartiges erreicht haben? Warum hadern so viele mit dem politischen und gesellschaftlichen System, obschon es uns doch Frieden, Freiheit und Wohlstand gebracht hat?" Haben Sie eine Antwort?
Von der Leyen: Durch die Globalisierung leben wir in Zeiten gigantischer Veränderungen, die von der Digitalisierung noch beschleunigt werden. Von der Politik erwarten die Menschen klare Antworten - sofort. Aber die kommen nicht und können auch gar nicht abschließend kommen. Denn die ehrlichen Lösungen sind sehr komplex. Das erzeugt Wut.
SPIEGEL: Hat sich diese Wut von den realen Verhältnissen abgekoppelt, wenn es den Menschen gleichzeitig so gut geht wie noch nie?
Von der Leyen: Ja und nein. Obama hat es am Beispiel Europa schön beschrieben: Könnte ich auswählen, wo auf der Welt ich heute geboren werden möchte, unabhängig von meiner Hautfarbe, meinem Geschlecht, meinem Alter, ob ich krank oder gesund bin; ich würde Europa wählen. Ich bin sicher, die meisten Deutschen würden Deutschland wählen. Relativ zu vielen anderen Orten auf dieser Welt geht es uns sehr gut.
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SPIEGEL: Aber?
Von der Leyen: Alle spüren, dass etwas in Bewegung ist. Vor uns liegt eine schwierige und unbekannte Zukunft, und die Menschen fragen sich: Wo bleibe ich? Das ist eine verständliche und berechtigte Frage.
SPIEGEL: Was antworten Sie?
Von der Leyen: Es wird sich etwas ändern, aber ich arbeite dafür, dass du im Wandel deinen guten Platz hast. Der Populismus hat in den letzten Jahren damit gepunktet, dass er behauptet, es bliebe alles beim Alten. Davon dürfen wir uns nicht blenden lassen. Wir müssen in der Politik den Mut haben, das Notwendige mehr zu erklären, in einer einfachen Sprache, in Hauptsätzen. Denn wir müssen den Wandel gestalten.
SPIEGEL: In der Flüchtlingskrise, die wie keine andere Frage das Land gespalten hat, kamen von der Regierung lange Zeit gar keine Antworten.
Von der Leyen: Wir hätten damals, und ich war ja mittendrin, immer wieder die größeren Zusammenhänge erklären müssen. Aber wir waren so im Krisenmodus, Hunderttausende unterzubringen, dass wir kaum Kraft dazu hatten. Und wir waren zu wenige, denn es waren ja nicht Hunderte, die das große Bild von der Grenze bis zu den Fluchtursachen erklären konnten.
SPIEGEL: 48 Prozent der Deutschen sind der Meinung, die Politiker hätten keine Ahnung vom wirklichen Leben. Das wüssten sie selbst besser. Das heißt doch: Das Grundvertrauen vieler Bürger in die Politik ist zerstört.
Von der Leyen: Den Vertrauensverlust sehe ich und akzeptiere ihn auch. Aber ich muss doch trotzdem weiter nach Lösungen suchen. Ein Beispiel: Als ich junge Ärztin auf einer Kinderkrebsstation war, traf ich den Vater eines schwer kranken Kindes. Er war voller Wut auf die Ärzte und die Medizin. "Noch nicht einmal gegen Schnupfen habt ihr was gefunden", warf er uns vor. Ich habe seinen Vorwurf verstanden, obwohl mein Kopf mir sagte, dass die Krankheit seines Kindes so groß ist, dass man es kaum retten kann. Aber das heißt doch nicht, dass die gesamte Medizin unfähig ist.
SPIEGEL: Sie meinen, die Erwartungen an die Politik sind im Grunde unrealistisch?
Von der Leyen: Das habe ich nicht gesagt.
SPIEGEL: So wie die Erwartungen des Vaters an die Medizin?
Von der Leyen: Ja, aber so einen frontalen Vorwurf kann man nur anhören. Und ihm dann die eigenen Überzeugung gegenüberstellen. Aber ich mache nicht den Wunderheiler.
SPIEGEL: Können Sie die wütenden Bürger überhaupt noch erreichen? Die Digitalisierung der politischen Debatte führt doch dazu, dass sich viele Menschen in den sozialen Netzwerken nur noch unter ihren eigenen Gesinnungsgenossen bewegen.
Von der Leyen: Das ist ein großes Problem. Wie kommen andere Meinungen wieder in diese abgeschotteten Gesprächsräume, in denen man sich untereinander nur in seinen Ansichten bestärkt? Das gilt übrigens für alle Echokammern. Da ist keine besser oder schlechter als die andere.
SPIEGEL: Es gibt Erklärungsversuche für diese Entwicklung. Nach einer Umfrage glaubt nur jeder zweite Deutsche, er könne seine politische Meinung frei äußern. Womöglich ziehen sie sich deshalb in Räume zurück, in denen sie mit Gleichgesinnten kommunizieren. Hat man es mit der Political Correctness zu weit getrieben?
Von der Leyen: Ja, die Political Correctness ist überzogen worden. Der soziale Druck, homogen zu antworten, war zu hoch.
SPIEGEL: Sind also bestimmte Sorgen, Ängste und Befürchtungen nicht ausreichend zu Wort gekommen?
Von der Leyen: Es geht vor allem darum anzusprechen, dass in jedem Menschen die leise Angst schlummert vor dem, was uns fremd ist, und dem Anderssein. Wir müssen lernen, mit der Vielfalt umzugehen, denn auch das ist Globalisierung.
SPIEGEL: Ist es zulässig, seine Angst vor dem Fremden zu äußern?
Von der Leyen: Nicht vor dem Fremden als Mitmenschen pauschal. Aber es ist zulässig, die Sorge vor dem zu äußern, was mir fremd vorkommt, was ich nicht einordnen kann, was ich nicht verstehe.
SPIEGEL: Ohne dass gleich der große Rassismusknüppel kommt?
Von der Leyen: Es gibt einen Unterschied zwischen Political Correctness und zivilisatorischen Errungenschaften. Eine Grenze, unterhalb derer man schlichtweg Menschen beleidigt, herabsetzt, kränkt oder verbal diskriminiert. Diese Linie darf nicht unterschritten werden. Wenn wir uns also gegen zu viel Political Correctness aufbäumen, müssen wir höllisch aufpassen, dass es keinen Backlash gibt.
SPIEGEL: Was meinen Sie konkret?
Von der Leyen: Im amerikanischen Wahlkampf sind diese Linien eindeutig unterschritten worden. Die Ausdrücke, die dort etwa gegen Frauen gefallen sind, hatten nichts mehr mit "Jetzt sagen wir mal die Wahrheit" zu tun. Sie waren entwürdigend. Wir befinden uns in einem Aushandlungsprozess, und ich finde, es lohnt sich darum zu ringen, was eigentlich eine zivilisatorische Errungenschaft ist.
SPIEGEL: Der amerikanische Politologe Francis Fukuyama beschreibt die Krise der westlichen Gesellschaften so: "Die moderne, liberale Demokratie hat ein grundsätzliches Problem: Sie bietet wirtschaftlichen Erfolg und Sicherheit, aber sie stiftet weder Stolz noch Gemeinschaft und Identität." Hat er recht?
Von der Leyen: Vielleicht haben wir als Demokraten zu lange geglaubt, die Demokratie sei so wirkmächtig, so überzeugend, so strahlend, dass man ihren Siegeszug nicht aufhalten könne. Und jetzt stehen wir fassungslos vor der Entwicklung der letzten Jahre...
SPIEGEL: ... in denen die Demokratie durch populistische Bewegungen, durch Nationalismus und Ausgrenzung von innen ausgehöhlt wird.
Von der Leyen: Ja, jetzt realisieren wir, dass die Demokratie vor die Hunde gehen kann, wenn wir uns nicht kümmern. Wenn das Kostbarste an ihr, der Respekt vor dem anderen und die Fähigkeit zum Kompromiss, verloren geht. Denn darum geht es doch. Es gibt keine absolute Wahrheit. Ich habe eine Meinung, du hast eine Meinung, und wir haben beide die Bereitschaft, einen Ausgleich zu finden.

Ministerin von der Leyen beim SPIEGEL-Gespräch: "Ich mache nicht den Wunderheiler"
Foto: Christoph Neumann/ DER SPIEGELSPIEGEL: Ihre Kanzlerin benutzt gern den Begriff der "Alternativlosigkeit" für ihre Politik. Der bedeutet, wir brauchen keinen Kompromiss, denn es gibt keine Alternative zu meiner Lösung.
Von der Leyen: Ich persönlich habe keine Vorliebe für diesen Begriff. Für alles im Leben gibt es eine Alternative. Natürlich. Welche die bessere oder die schlechtere ist, liegt dann im Auge des Betrachters.
SPIEGEL: Die Kanzlerin war es auch, die mit ihrer Strategie der "asymmetrischen Demobilisierung" vorsätzlich den demokratischen Diskurs entsaftete, indem sie kontroverse Themen vermied, um nicht die potenziellen Wähler des Gegners zu mobilisieren.
Von der Leyen: Na, na, jetzt überhöhen Sie mal nicht diese erfolgreiche Wahlkampfstrategie zu einer Aushöhlung der Demokratie. Aber die Zeit der asymmetrischen Demobilisierung ist ohnehin vorbei. Der nächste Wahlkampf wird hart, und er wird polarisierend.
SPIEGEL: Die Große Koalition hat die Demokratie auch nicht gerade attraktiver gemacht.
Von der Leyen: Ich kann ja nur für die Union sprechen: Wir als Volkspartei werden die Große Koalition nicht anstreben. Vielleicht erinnern Sie sich, dass wir zu Beginn der Legislaturperiode versucht haben, mit den Grünen eine Koalition zu bilden. Aber die wollten nicht.
SPIEGEL: Und der nächste Bundespräsident ist im Hinterzimmer ausgekungelt worden.
Von der Leyen: Hallo? Das finde ich ja nun ganz schräg. Losgegangen ist die Bundespräsidentensuche, indem Frank-Walter Steinmeier öffentlich genannt wurde. Über Wochen hat die Presse seine Stärken und Schwächen beleuchtet. Öffentlicher geht's doch gar nicht. Und transparenter auch nicht.
SPIEGEL: Am Ende sind es drei Leute, die ihn ins Amt heben. Die Kanzlerin, der SPD- und der CSU-Vorsitzende.
Von der Leyen: Die schlagen ihn vor. Aber wählen muss ihn die Bundesversammlung. Es ist doch völlig legitim, vorher eine Person zu suchen, die auf breite Zustimmung trifft. Und wenn er gewählt wird, macht das die Bundesversammlung freiwillig.
SPIEGEL: Aus Angst vor einer Niederlage vermeidet die Union einen echten Wettbewerb. Das ist doch der Punkt.
Von der Leyen: Geht es Ihnen um Wettbewerb oder Spektakel? Es gibt einen über Parteigrenzen anerkannten Kandidaten. Wir haben doch ohnehin eine repräsentative Demokratie. Und die hat unser Land aus guten Gründen eingeführt.
SPIEGEL: Zur repräsentativen Demokratie gehört auch der Wettbewerb.
Von der Leyen: Ja, der Wettbewerb der Parteien. Und der gipfelt aus gutem Grund auch nicht jeden Tag, sondern alle paar Jahre in einer Wahl, sonst hätten wir Dauerwahlkampf.
SPIEGEL: Muss das demokratische System geändert werden, um es attraktiver zu machen?
Von der Leyen: Nicht die Demokratie muss sich ändern, sondern die Demokraten. Wir müssen wieder aufstehen und für unsere Sache ringen und werben. Vielleicht ist der Populismus unsere Chance.
SPIEGEL: Weil er die politische Auseinandersetzung stärker polarisiert?
Von der Leyen: Nein, weil seine dumpfe Einfachheit uns zwingt, selbst mit klarer und verständlicher Sprache zu überzeugen, wofür wir stehen. Eine tolerante, weltoffene, demokratische Gesellschaft innerhalb Europas. Und wahrscheinlich haben Sie recht: Die Große Koalition hat zu einer Erklärungsfaulheit geführt, weil die Debatten nicht so heftig und lebhaft waren.
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich, dass ein Autokrat wie Wladimir Putin in Deutschland so viele Menschen anzieht?
Von der Leyen: Putin-Fans würde ich als Erstes fragen, wie sie Aleppo erklären. Es ist wohl die Faszination für die vermeintlich starken Männer. Davon haben wir ja mehrere. Dahinter steckt die Sehnsucht nach Kontrolle, Überschaubarkeit und Durchgriff. Denn das Schemenhafte globaler Veränderung und die Geduld für den Lösungsweg, von dem wir vorhin gesprochen haben, ist anstrengend. Und verbietet kategorische Antworten. Der vermeintlich starke Mann sagt: Ich gebe euch einfache Antworten, ich habe die Kontrolle.
SPIEGEL: Und nicht nur das. Er versucht die öffentliche Meinung bei uns zu manipulieren.
Von der Leyen: Wir erkennen inzwischen die Muster. Wir wissen, was Bots sind, automatisch ablaufende Computerprogramme. Wir wissen, dass mit Algorithmen künstlich Nachrichten produziert und millionenfach verbreitet werden von vermeintlich echten Personen. Wir kennen das Phänomen gekaufter Trolle. Das konnte man bitter sehen, als die unabhängige Kommission ihr Gutachten zum Abschuss der malaysischen Passagiermaschine in der Ukraine vorlegte. Da ist die Welt überschwemmt worden mit der Gegengeschichte, die Zweifel an dem Bericht säen sollte.
SPIEGEL: Das ist die Analyse, aber was ist die Abwehr?
Von der Leyen: Aufklären, aufklären, aufklären. Unsere Antwort kann nicht Gegenpropaganda sein. Das machen freie Gesellschaften nicht, aber wir können diese Angriffe transparent machen. Eine Debatte, wie wir sie hier führen, werden Sie in Russland niemals erleben. Das ist die Stärke der Demokratie: Fakten von allen Seiten zu betrachten. Und Desinformation zu entlarven.
Video-Animation: "Da hab' ich erst mal gegoogelt."
Ursula von der Leyen ist konservativ und modern, diszipliniert und unberechenbar, weltläufig und heimatverbunden. Und: Die Verteidigungsministerin ist nie um ein Statement verlegen.
SPIEGEL: Alles, was Sie bisher gesagt haben, ist extrem rational. Sie adressieren allein den Verstand. Die Populisten setzen woanders an: Ihre Methode ist emotional. Wie wollen Sie die Menschen erreichen, wenn Sie ihre Gefühle nicht ansprechen?
Von der Leyen: Bei mir ist nichts rein rational bei diesem Gespräch. Da unterstellt man dem Argument, es wäre nur Kopf und nicht Herz. Das ist doch keine Mathematik, die ich hier hinlege, sondern meine subjektive Überzeugung. Mich treibt die Frage um, ob wir den Artikel 1 des Grundgesetzes wirklich leben wollen. Denn das heißt, dass wir die Würde des Menschen achten, egal wie er liebt, wie er glaubt, wie er lebt und wo er herkommt.
SPIEGEL: Wie wollen Sie die Menschen erreichen, die diese Offenheit nicht wollen? Die sagen: Ich möchte meine Heimat behalten, meine Identität in einem überschaubaren Rahmen?
Von der Leyen: Ich setze mich dafür ein, dass unsere Heimat und unsere Identität bleiben, in einer Welt, die sich wandelt. Bayern hat es auf den Punkt gebracht: Laptop und Lederhose. Jeder Hof, jeder Familienbetrieb, jede Heimat bleibt doch nur, wenn jede Generation die Zeichen der Zeit erkennt und modernisiert.
SPIEGEL: Angela Merkel ist im sächsischen Heidenau als Volksverräterin beschimpft worden. Haben Sie so etwas auch schon erlebt?
Von der Leyen: Anfeindungen? Na klar. Als Familienministerin hat man mir vorgeworfen, die deutsche Familie zu zerstören, weil ich das Elterngeld und den Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz eingeführt habe. Anfangs war ich tief getroffen. Aber irgendwann sagt man sich, das musst du akzeptieren, du bist eben Projektionsfläche.
SPIEGEL: Viele Ihrer Kollegen sagen, das Ausmaß an Aggression und Wut, das ihnen entgegenschlage, sei neu. Das habe es so bisher nicht gegeben.
Von der Leyen: Dass Menschen Grenzen überschreiten, hat es immer gegeben. Als mein Vater in der Politik war, gab es die Terroristen der RAF. Als Kinder standen wir unter Begleitschutz. Ich musste im Ausland studieren. Quält mich diese Wut? Ja, ohne Frage. War sie noch nie so groß? Nein, das glaube ich nicht.
SPIEGEL: Haben Sie manchmal die Sorge, dass unser politisches System, das uns sechs Jahrzehnte Stabilität, Frieden, Freiheit und Wohlstand gebracht hat, irgendwann am Ende sein könnte?
Von der Leyen: Es kommt mir zumindest deutlich fragiler vor. Ich sehe, wie versucht wird, in unsere offenen Gesellschaften das Gift der Zersetzung zu träufeln. Aber dann gibt es wieder den Teil in mir, der fest daran glaubt, dass die Demokratie die Kraft hat, sich dagegenzustemmen.
SPIEGEL: Viele Bürger haben das Gefühl, dass sie die Politik nicht beeinflussen können.
Von der Leyen: So ist Demokratie. Man denkt: Was zählt schon meine eigene Stimme? Aber sehen wir uns den Brexit an. Wenn die Jungen zur Wahl gegangen wären, hätten sie einen Unterschied gemacht. Am Ende zählt doch jede Stimme.
SPIEGEL: Frau von der Leyen, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.