
Gefährliches Treibhausgas Forscher messen erstmals Methan-Ausbruch vor Sibirien
Die prähistorischen Pretiosen ruhten Tausende von Jahren ungestört in der Erde. Doch mittlerweile gibt der Boden der russischen Tundra immer häufiger die Überreste von Mammuts, Höhlenlöwen oder Wollnashörnern frei. Wie altes Holz ragen sie aus dem weichen Untergrund. Weil der gefrorene Boden Sibiriens, der Permafrost, durch den Klimawandel an vielen Stellen taut, ist inzwischen eine wahre Schatzsucherindustrie entstanden. Ihre Mitglieder spüren tonnenweise Knochen und Stoßzähne auf - und versilbern die Fundstücke dann bei Museen und Privatsammlern.
Doch nicht nur an Land lässt der Klimawandel den arktischen Boden tauen. Auch vor Sibiriens Küsten laufen gravierende Veränderungen ab, mit möglicherweise dramatischen Folgen für die gesamte Erde. Forscher befürchten seit einiger Zeit, dass sich in den flachen Meeren vor Russlands nördlicher Küste sogenannte Gashydrate - also Gemische aus Eis und Methan - langsam zersetzen könnten. Dabei würde Methan freigesetzt, ein extrem wirkungsvolles Treibhausgas. Diese Emissionen könnten den Treibhauseffekt verstärken - und ihrerseits für ein weiteres Auftauen der Gashydrate sorgen. Ein Teufelskreis.
Zwar setzen auch tauende Permafrostböden an Land Methan frei, ebenso Moorgebiete und die industrielle Landwirtschaft, und doch sind die Emissionen aus den Meeren im hohen Norden etwas Besonderes. Denn bisher kommen sie in keinem Klimamodell vor. Es hat zwar in den vergangenen Jahren bereits einige Berichte über Methanfreisetzungen in arktischen Gewässern gegeben. Doch erst jetzt ist es Forschern gelungen, eine genaue Bilanz des beunruhigenden Phänomens vor der sibirische Küste ziehen.
"Das erste Mal, dass die Emissionen quantifiziert werden"
Die Wissenschaftler um Natalia Schachowa von der University of Fairbanks in Alaska haben in akribischer Kleinarbeit in dem riesigen Meeresgebiet Tausende Datensätze gesammelt: Zwischen 2003 und 2008 nahmen sie Proben in dem zwei Millionen Quadratkilometer großen Bereich vor der sibirischen Küste - vom Schiff, mit dem Hubschrauber und bei Trecks über das winterliche Eis.
"Es ist das erste Mal, dass die Emissionen vom ostsibirischen arktischen Schelf quantifiziert werden", erklärt Forscherin Schachowa im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. In der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins "Science" berichtet die Biogeochemikerin gemeinsam mit Kollegen, dass jedes Jahr um die acht Megatonnen Kohlenstoff aus den Methanlagern der eisigen Gewässer in die Atmosphäre gelangen. Das ist ungefähr so viel, wie aus allen anderen Weltmeeren zusammen entweicht.
Dass es in den sibirischen Schelfmeeren überhaupt Permafrostboden unter Wasser gibt, lässt sich mit der geologischen Geschichte der Gegend erklären. Einst lagen die Areale trocken, durch lange Kälteperioden fror der Boden in dieser Zeit kilometerweit durch. Steigende Meeresspiegel sorgten dann dafür, dass die flachen Küstengebiete vor 7000 bis 15.000 Jahren großflächig überflutet wurden. Im Schnitt sind die Schelfmeere heute rund 45 Meter tief.
"Das sind extrem hohe Werte für Meeresgewässer"
Lange Zeit hatten Wissenschaftler geglaubt, dass der Permafrost die Methanhydrate am Boden der arktischen Schelfmeere sicher einschließt, wie eine Art Tresor. Dann wären in dem Meeresgebiet im hohen Norden kaum Emissionen zu messen. In diesem Sinn sind die nun bilanzierten acht Megatonnen eine beachtliche Menge. "Das ist die erste Dokumentation, dass das Zeug in die Atmosphäre gelangt", sagt Martin Heimann vom Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Er hat in "Science" einen Kommentar zur Arbeit des Schachowa-Teams geschrieben.
Die Forscher fanden in 80 Prozent des untersuchten Tiefenwassers und der Hälfte der Proben von der Meeresoberfläche stark erhöhte Methanwerte. In manchen Gebieten war im Sommer 250-mal so viel von dem Treibhausgas im Wasser gelöst wie normalerweise. Bei Eisbedeckung im Winter war es zum Teil sogar 1400-mal so viel. "Das sind extrem hohe Werte für Meeresgewässer - und die höchsten je beobachteten Konzentrationen in der Arktis", sagt Paul Overduin von der Potsdamer Außenstelle des Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung.
Auch in den Luftschichten über dem Schelfmeer konnten die Wissenschaftler das Methan nachweisen. In der Arktis liegen die atmosphärischen Konzentrationen des Gases ohnehin acht bis zehn Prozent über den globalen Durchschnittswerten. Über dem sibirischen Schelf konnten die Forscher bei ihren Hubschraubermessungen aber zusätzliche fünf bis zehn Prozent verzeichnen.
Warmes Wasser in der Nachbarschaft
Die globalen Kohlenstoffemissionen aus Methan liegen derzeit bei rund 440 Megatonnen. Verglichen damit erscheinen die jetzt errechneten acht Megatonnen vom arktischen Meeresgrund beinahe unbedeutend. Doch Forscherin Schachowa verweist darauf, dass acht Megatonnen Kohlenstoff pro Jahr weit mehr sind als die Null, die bisher an dieser Stelle in der Bilanz zu finden war. Außerdem weiß bisher niemand, ob sich die Freisetzung möglicherweise durch den Klimawandel beschleunigt. Einigen Forschern erscheint die Gefahr durchaus plausibel. Doch nur weitere Messungen können zeigen, ob sie auch realistisch ist.
Schachowas Prognose klingt jedenfalls dramatisch: Die Konzentration von Methan in der Erdatmosphäre könnte um das Drei- bis Vierfache ansteigen, sagt sie, wenn nur ein Prozent des Methanhydrats am Grund der sibirischen Schelfmeere zerfalle.
Den submarinen Permafrost hält die Forscherin dabei für gefährdeter als den Dauerfrostboden an Land. Schachowa argumentiert, dass der unterseeische Permafrost bereits recht warm ist. Als der Dauerfrostboden noch am Land lag, sei er etwa minus 17 Grad kalt gewesen. Am Meeresgrund habe er hingegen eine Temperatur von minus 1,8 bis minus 0,5 Grad. Schuld daran sei das vergleichsweise warme Wasser in der Nachbarschaft. Bis zum Tauen und einer großflächigen Methanfreisetzung sei es da nicht mehr weit.
"Ich glaube nicht, dass die Emissionen linear ablaufen würden", sagt Schachowa. Die Entladung des Gases in die Atmosphäre könnte aus ihrer Sicht schlagartig ablaufen. Der Jenaer Experte Heimann sieht die Dinge etwas gelassener: "Das dauert seine Zeit." Mit einem kurzfristigen Anstieg der Methanwerte im hohen Norden rechnet er nicht. Paul Overdiun sieht das ähnlich: "Permafrost ist eine sehr träge Komponente des globalen Klimasystems. Aber das Potential für eine Rückkopplung ist da."
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