Import-Kontrollen Strahlenschutz-Chef dringt auf neue EU-Grenzwerte

Strahlenschützer König: "Den Bürgerinnen und Bürgern nicht zu vermitteln"
Foto: SPIEGEL ONLINEBerlin - Der Sturm der Entrüstung bei Verbrauchern und Verbraucherschützern ist groß: Vergangene Woche war eine EU-Eilverordnung in Kraft getreten, die höhere Obergrenzen für die radioaktive Belastung bestimmter Produkte aus Japan festlegt. Sofort kam herbe Kritik von der Verbraucherschutzorganisation Foodwatch. Es sei nicht zu rechtfertigen, dass die Sicherheitsstandards für japanische Lebensmittel nach der Katastrophe von Fukushima gesenkt würden.
Folge der Ankündigung der EU: Verwirrung unter den Verbrauchern. Sie wurde komplett, als die EU-Kommission auch noch behauptete, man habe die Sicherheitsmaßnahmen für japanische Importe gar nicht gelockert, sondern im Gegenteil verschärft. Es sei lediglich eine Verordnung in Kraft gesetzt worden, die bereits seit 1987 in den Schubladen schlummert.
Dieser Debatte würde der Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz, Wolfram König, gerne ein Ende setzen. Deshalb hat er jetzt eine Harmonisierung der EU-Strahlengrenzwerte für Lebensmittel vorgeschlagen.

Es ist nicht trivial, sich in diesem Behördendschungel auszukennen. Ausgangslage ist das Desaster von Tschernobyl. Nachdem die radioaktive Wolke sich über Europa ausbreitete, waren im Mai 1986 Grenzwerte für die radioaktive Kontamination von Lebensmitteln mit Cäsium 134 und 137 eingeführt worden. Sie sollten vor den Importen aus Ländern schützen, die von dem Tschernobyl-Unglück betroffen waren, also etwa aus Russland oder der Ukraine.
Diese Grenzwerte gelten bis heute und sind für alle Lebensmittel aus EU-Staaten verbindlich, die durch den Tschernobyl-GAU radioaktiv belastet waren. Deshalb werden hierzulande Pilze oder Wildschweinfleisch teilweise immer noch aus dem Handel gezogen.
Verordnung aus der Schublade
Das Problem: Diese Grenzwerte gelten nur für die Kontaminationen durch den Tschernobyl-Unfall. Nicht berücksichtigt sind damit Importe aus Japan nach dem Atomdesaster von Fukushima. Mit anderen Worten: Bisher gab es keinerlei verbindliche Grundlage, in der die Kontrolle von Importen aus Japan geregelt ist. Deshalb ließ die EU kurzfristig die Eilverordnung in Kraft treten. Erstellt wurde sie bereits 1987, nach der Katastrophe von Tschernobyl. Im Falle einer nuklearen Katastrophe sollte sie aus der Schublade gezogen werden und in Kraft treten.
Vorteil dieser Verordnung: Sie regelt erstmals auch noch die Grenzwerte für Jod 131, die es bisher nicht gegeben hatte. Das große Dilemma aber ist, dass die Grenzwerte für Cäsium 134 und 137 gegenüber der Tschernobyl-Regelung erhöht sind.
Während die EU-Kommission also behauptet, sie habe im Sinne des Verbrauchers gehandelt und Regelungen in Kraft gesetzt, hält die Verbraucherschutzorganisation Foodwatch dagegen und spricht von einem Formulierungstrick.
Schwer zu vermitteln
Auch BfS-Chef Wolfram König räumt ein: "Höhere Grenzwerte als für die Produkte, die durch Tschernobyl belastet wurden, sind den Bürgerinnen und Bürgern nicht zu vermitteln", sagte er am Freitag in Berlin.
Deshalb dringt die Bundesregierung darauf, den Grenzwert für die Strahlenbelastung von Lebensmitteln aus Japan EU-weit auf das Niveau der Tschernobyl-Regelung zu senken. "Der vorbeugende Verbraucherschutz muss Priorität haben", sagte ein Sprecher von Verbraucherministerin Ilse Aigner (CSU) am Freitag in Berlin.
Bei dieser Vereinheitlichung soll aus Gründen "des vorsorgenden Gesundheitsschutzes der "jeweils niedrigste, also sicherste Grenzwert" angewendet werden", so das Ministerium - also die Tschernobyl-Werte.
Selbst wenn BfS und Foodwatch einhellig der Meinung sind, die neu in Kraft getretenen Werte bedeuteten "grundsätzlich kein erhöhtes gesundheitliches Risiko": Den Verbrauchern wird die neue Regelung nur schwer begreiflich sein. Die EU-Verordnung soll bis Ende Juni 2011 gelten und nach Angaben des BfS anhand der Messergebnisse an importierten Lebensmitteln monatlich überprüft werden.
Die Umweltschutzorganisation Greenpeace kritisierte die neuen Strahlengrenzwerte als "rechtswidrig". "Dem Verbraucher wird nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima ein Mehrfaches an radioaktivem Cäsium zugemutet", erklärte Greenpeace-Chemiker Manfred Santen am Freitag in Berlin. Das entspreche nicht dem vorbeugenden Gesundheitsschutz.
Bei japanischem Importfisch haben sich nach der neuen EU-Verordnung die erlaubten Cäsium-Werte von 600 Becquerel pro Kilo Fleisch auf 1250 Becquerel mehr als verdoppelt. Bei Milcherzeugnissen ist der Grenzwert von 370 auf 1000 Becquerel gestiegen (siehe Infokasten unten).
Eine Änderung bestehender Grenzwerte ist nach Auffassung von Greenpeace jedoch nur rechtens, wenn sie eine Verbesserung des Verbraucherschutzes bedeutet. Das sei bei der jüngsten Entscheidung der EU-Kommission nicht der Fall.
Auch die Grünen-Parteichefin Claudia Roth kritisierte im "Hamburger Abendblatt" die Strahlenkontrollen der EU. Es sei ein absoluter Skandal, dass man hinter dem Rücken der Verbraucher eine alte Strahlenverordnung aus Zeiten nach Tschernobyl aus der Schublade hole und danach die zulässigen Belastungsgrenzwerte für Lebensmittel erhöhe. Eine Kontamination durch Plutonium werde zudem überhaupt nicht gemessen, dabei sei Plutonium das gefährlichste Gift für Mensch und Umwelt. Roth forderte Aigner auf, die Verbraucher in Deutschland besser zu schützen.
Von Sievert bis Becquerel: Kleines Lexikon der Strahlenmessung
Eine Substanz ist dann radioaktiv, wenn sie zerfällt und dabei Strahlung aussendet. Um anzugeben, wie stark eine radioaktive Substanz strahlt, benutzt man den Begriff der Aktivität (A). Sie wird in Becquerel (Bq) gemessen und gibt die Strahlung an, die eine Substanz innerhalb einer bestimmten Zeit durch Zerfall erzeugt. Per Definition entspricht ein Becquerel einem Zerfall pro Sekunde. Je schneller eine Probe zerfällt, desto intensiver strahlt sie also.
Weiß man, wie stark eine radioaktive Substanz strahlt, sagt das noch nichts darüber aus, wie sich die Strahlung auf den Körper auswirkt. Dafür ist es wichtig zu bestimmen, wie viel Energie von einer bestimmten Masseneinheit des Körpers absorbiert wird. Angegeben wird die absorbierte Energiedosis (D) in der Einheit Gray (Gy), wobei ein Gray der Energiemenge von einem Joule pro Kilogramm entspricht.
Um die biologische Wirksamkeit der radioaktiven Strahlung auf den Körper anzugeben, benutzt man anstelle der Energiedosis den Begriff der Äquivalentdosis (H). Sie berücksichtigt die Tatsache, dass verschiedene Arten von Strahlen ganz unterschiedliche Wirkungen auf den Körper haben. So ionisiert Alphastrahlung bei weitem mehr Moleküle als etwa Betastrahlen - und richtet deshalb eine größere Zerstörung im Körper an. Daher wird jede Strahlungsart mit Hilfe einer physikalischen Größe gewichtet, dem sogenannten Strahlenwichtungsfaktor. Gemessen wird die Äquivalentdosis in Sievert (Sv). Sie ergibt sich aus der Multiplikation der Energiedosis mit dem Strahlenwichtungsfaktor. 1 Sievert (Sv) sind 1000 Millisievert (mSv). 1 Millisievert sind 1000 Mikrosievert (µSv).
Um die Auswirkungen von radioaktiver Strahlung auf den Körper genauer einschätzen zu können, ist es wichtig zu wissen, wie lange eine bestimmte Dosis auf den Körper einwirkt. Daher wird die Strahlenbelastung meist in Sievert pro Zeiteinheit gemessen. Also etwa Millisievert pro Jahr oder Mikrosievert pro Stunde. Die durchschnittliche natürliche Strahlenbelastung liegt in Deutschland bei 2,1 Millisievert pro Jahr, also 0,24 Mikrosievert pro Stunde. Im Schnitt kommen zwei Millisievert pro Jahr durch künstliche Quellen von Radioaktivität hinzu. Den Löwenanteil dazu steuert die Medizin bei.
Die Strahlenbelastung von Böden oder in Lebensmitteln etwa wird in Becquerel pro Quadratmeter oder Becquerel pro Kilogramm angegeben. Doch was bedeutet dieser Wert für die Auswirkungen auf den Körper? Um eine Beziehung zwischen Aktivität und Äquivalentdosis herstellen zu können, gibt es den sogenannten Dosiskonversionsfaktor. Er hängt unter anderem von der Art der Strahlung und der radioaktiven Substanz ab, sowie von der Art, wie die Strahlung in den Körper gelangt (Inhalieren, Aufnahme durch die Nahrung). So entspricht die Aufnahme von 80.000 Becquerel Cäsium 137 mit der Nahrung einer Strahlenbelastung von etwa einem Millisievert. Der Verzehr von 200 Gramm Pilzen mit 4000 Becquerel Cäsium 137 pro Kilogramm hat beispielsweise eine Belastung von 0,01 Millisievert zur Folge. Das lässt sich mit der Belastung durch Höhenstrahlung bei einem Flug von Frankfurt nach Gran Canaria vergleichen.
Nach der Tschernobyl-Katastrophe hatte die EU Grenzwerte für den Import von Lebensmitteln aus jenen Ländern geregelt, die durch das Atom-Unglück kontaminiert wurden. Zusätzlich hat die EU am 26. März 2011 weitere Grenzwerte für Importe aus Japan festgelegt - die Grenzen wurden jedoch als zu lasch kritisiert. Am 8. April reagierte die EU - und passte die Grenzen an japanische Normen an. Für Cäsium 134 und Cäsium 137 gilt künftig bei Lebensmitteln ein Grenzwert von 500 Becquerel pro Kilogramm. Bei Säuglings- und Kindernahrung senkte Brüssel den Grenzwert für Cäsium von 400 auf 200, für Jod von 150 auf 100 Becquerel.